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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Sie Pflicht der Gesellschaft

Die erste Pflicht der Gesellschaft ist die Selbsterhaltungspflicht, die zwar
nicht in eng konservativem Sinne zu fassen ist, daß immer die gerade bestehende
Form der Gesellschaft zu erhalten wäre, sondern die die rechtzeitige Umbildung
einschließt. Nicht die Ordnung der Gesellschaft in staatlicher Form und weiter
zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen ist, wie man vielfach meint, die erste
Bedingung ihrer Erhaltung, sondern die Arbeit der Gesellschaftsglieder. Die
Ordnung ist der Arbeit wegen da, nicht umgekehrt. Zunächst muß die Gesell¬
schaft leben, es muß eine hinreichende Anzahl von wirtschaftlichen Werten er¬
zeugt werden, daß die Gesellschaft nicht zu verhungern braucht, die Ordnung
der Gesellschaft hat vor allem den Zweck, die ungestörte Gütererzeugung zu
ermöglichen. Daraus folgt dann unmittelbar, daß sie persönliche Sicherheit
gewähren muß, und sodann folgt der Schutz des Besitzes. Ist aber die Arbeit
die Grundbedingung sür das Bestehen der Gesellschaft, so ist sie damit auch
der erste natürliche Maßstab für die Schützung der einzelnen Gesellschaftsmit¬
glieder. Es hat freilich einmal Gesellschaften gegeben, die nicht von der Arbeit
ihrer Mitglieder lebten, sondern von Eroberung und Raub, es hat auch immer
einzelne Stände gegeben, die von der Arbeit einfach nichts wissen wollten, sie
sogar für entehrend hielten, und noch heute findet man Anschauungen, nach
denen die Arbeit gewissermaßen das niedre Erbteil der untern Stände ist,
so daß das gegen geradezu verrückte Vorurteile ankämpfende Sprichwort:
"Arbeit schändet nicht" noch immer als zeitgemäß gelten muß. Doch sind An¬
schauungen dieser Art jetzt doch nicht mehr recht zu halten, der Arbeiterstand,
im weitesten Sinne natürlich, ist heute der erste Stand der Welt, und der
Arbeiter kann als solcher nicht bloß den vollen Lohn seiner Arbeit, sondern
auch die Achtung verlangen, auf die die Pflichterfüllung Anspruch verleiht,
während sie den Nichtarbeitern, den bloß genießenden Menschen, versagt werden
muß, mit einer Ausnahme vielleicht, der der künstlerischen und wissenschaft¬
lichen Genießer nämlich, die so etwas wie die Hüter unsrer Kultur sind. Ge¬
burt, Rang, Besitz, wenn sie nicht dem Dichterwort gemäß neu erworben
werden, gelten heute an sich gar nichts mehr oder doch nur in Kreisen, die
geistig zurückgeblieben sind; die Arbeit ist das Maß des Menschen und wird
von Tag zu Tag als solches mehr anerkannt. Welche Arbeit der Mensch
leistet, gilt da zunächst gleich, die Thätigkeit an sich, sei sie nun produktiv in
wirtschaftlichem Sinne oder nicht, ist maßgebend.

Aus dieser allmählich eingetretnen sozialen Wertschätzung der Arbeit er¬
wächst unmittelbar auch der Schutz des Arbeiters, in dem Sinne, daß ihm
die Gesellschaft den Lohn für seine Arbeit und damit das äußere Dasein ge¬
währleistet, daß sie ihn vor Ausbeutung beschützt und ihm die nötigen Ruhe-
Pausen gewährt, und was der Maßregeln zum Arbeiterschutz mehr sind, die
jetzt in allen Staaten durchgeführt werden. Sie sind einfache Pflicht der
Gesellschaft, und da ist es nun höchst drollig, daß man in der Gesellschaft


Sie Pflicht der Gesellschaft

Die erste Pflicht der Gesellschaft ist die Selbsterhaltungspflicht, die zwar
nicht in eng konservativem Sinne zu fassen ist, daß immer die gerade bestehende
Form der Gesellschaft zu erhalten wäre, sondern die die rechtzeitige Umbildung
einschließt. Nicht die Ordnung der Gesellschaft in staatlicher Form und weiter
zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen ist, wie man vielfach meint, die erste
Bedingung ihrer Erhaltung, sondern die Arbeit der Gesellschaftsglieder. Die
Ordnung ist der Arbeit wegen da, nicht umgekehrt. Zunächst muß die Gesell¬
schaft leben, es muß eine hinreichende Anzahl von wirtschaftlichen Werten er¬
zeugt werden, daß die Gesellschaft nicht zu verhungern braucht, die Ordnung
der Gesellschaft hat vor allem den Zweck, die ungestörte Gütererzeugung zu
ermöglichen. Daraus folgt dann unmittelbar, daß sie persönliche Sicherheit
gewähren muß, und sodann folgt der Schutz des Besitzes. Ist aber die Arbeit
die Grundbedingung sür das Bestehen der Gesellschaft, so ist sie damit auch
der erste natürliche Maßstab für die Schützung der einzelnen Gesellschaftsmit¬
glieder. Es hat freilich einmal Gesellschaften gegeben, die nicht von der Arbeit
ihrer Mitglieder lebten, sondern von Eroberung und Raub, es hat auch immer
einzelne Stände gegeben, die von der Arbeit einfach nichts wissen wollten, sie
sogar für entehrend hielten, und noch heute findet man Anschauungen, nach
denen die Arbeit gewissermaßen das niedre Erbteil der untern Stände ist,
so daß das gegen geradezu verrückte Vorurteile ankämpfende Sprichwort:
„Arbeit schändet nicht" noch immer als zeitgemäß gelten muß. Doch sind An¬
schauungen dieser Art jetzt doch nicht mehr recht zu halten, der Arbeiterstand,
im weitesten Sinne natürlich, ist heute der erste Stand der Welt, und der
Arbeiter kann als solcher nicht bloß den vollen Lohn seiner Arbeit, sondern
auch die Achtung verlangen, auf die die Pflichterfüllung Anspruch verleiht,
während sie den Nichtarbeitern, den bloß genießenden Menschen, versagt werden
muß, mit einer Ausnahme vielleicht, der der künstlerischen und wissenschaft¬
lichen Genießer nämlich, die so etwas wie die Hüter unsrer Kultur sind. Ge¬
burt, Rang, Besitz, wenn sie nicht dem Dichterwort gemäß neu erworben
werden, gelten heute an sich gar nichts mehr oder doch nur in Kreisen, die
geistig zurückgeblieben sind; die Arbeit ist das Maß des Menschen und wird
von Tag zu Tag als solches mehr anerkannt. Welche Arbeit der Mensch
leistet, gilt da zunächst gleich, die Thätigkeit an sich, sei sie nun produktiv in
wirtschaftlichem Sinne oder nicht, ist maßgebend.

Aus dieser allmählich eingetretnen sozialen Wertschätzung der Arbeit er¬
wächst unmittelbar auch der Schutz des Arbeiters, in dem Sinne, daß ihm
die Gesellschaft den Lohn für seine Arbeit und damit das äußere Dasein ge¬
währleistet, daß sie ihn vor Ausbeutung beschützt und ihm die nötigen Ruhe-
Pausen gewährt, und was der Maßregeln zum Arbeiterschutz mehr sind, die
jetzt in allen Staaten durchgeführt werden. Sie sind einfache Pflicht der
Gesellschaft, und da ist es nun höchst drollig, daß man in der Gesellschaft


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[0213] Sie Pflicht der Gesellschaft Die erste Pflicht der Gesellschaft ist die Selbsterhaltungspflicht, die zwar nicht in eng konservativem Sinne zu fassen ist, daß immer die gerade bestehende Form der Gesellschaft zu erhalten wäre, sondern die die rechtzeitige Umbildung einschließt. Nicht die Ordnung der Gesellschaft in staatlicher Form und weiter zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen ist, wie man vielfach meint, die erste Bedingung ihrer Erhaltung, sondern die Arbeit der Gesellschaftsglieder. Die Ordnung ist der Arbeit wegen da, nicht umgekehrt. Zunächst muß die Gesell¬ schaft leben, es muß eine hinreichende Anzahl von wirtschaftlichen Werten er¬ zeugt werden, daß die Gesellschaft nicht zu verhungern braucht, die Ordnung der Gesellschaft hat vor allem den Zweck, die ungestörte Gütererzeugung zu ermöglichen. Daraus folgt dann unmittelbar, daß sie persönliche Sicherheit gewähren muß, und sodann folgt der Schutz des Besitzes. Ist aber die Arbeit die Grundbedingung sür das Bestehen der Gesellschaft, so ist sie damit auch der erste natürliche Maßstab für die Schützung der einzelnen Gesellschaftsmit¬ glieder. Es hat freilich einmal Gesellschaften gegeben, die nicht von der Arbeit ihrer Mitglieder lebten, sondern von Eroberung und Raub, es hat auch immer einzelne Stände gegeben, die von der Arbeit einfach nichts wissen wollten, sie sogar für entehrend hielten, und noch heute findet man Anschauungen, nach denen die Arbeit gewissermaßen das niedre Erbteil der untern Stände ist, so daß das gegen geradezu verrückte Vorurteile ankämpfende Sprichwort: „Arbeit schändet nicht" noch immer als zeitgemäß gelten muß. Doch sind An¬ schauungen dieser Art jetzt doch nicht mehr recht zu halten, der Arbeiterstand, im weitesten Sinne natürlich, ist heute der erste Stand der Welt, und der Arbeiter kann als solcher nicht bloß den vollen Lohn seiner Arbeit, sondern auch die Achtung verlangen, auf die die Pflichterfüllung Anspruch verleiht, während sie den Nichtarbeitern, den bloß genießenden Menschen, versagt werden muß, mit einer Ausnahme vielleicht, der der künstlerischen und wissenschaft¬ lichen Genießer nämlich, die so etwas wie die Hüter unsrer Kultur sind. Ge¬ burt, Rang, Besitz, wenn sie nicht dem Dichterwort gemäß neu erworben werden, gelten heute an sich gar nichts mehr oder doch nur in Kreisen, die geistig zurückgeblieben sind; die Arbeit ist das Maß des Menschen und wird von Tag zu Tag als solches mehr anerkannt. Welche Arbeit der Mensch leistet, gilt da zunächst gleich, die Thätigkeit an sich, sei sie nun produktiv in wirtschaftlichem Sinne oder nicht, ist maßgebend. Aus dieser allmählich eingetretnen sozialen Wertschätzung der Arbeit er¬ wächst unmittelbar auch der Schutz des Arbeiters, in dem Sinne, daß ihm die Gesellschaft den Lohn für seine Arbeit und damit das äußere Dasein ge¬ währleistet, daß sie ihn vor Ausbeutung beschützt und ihm die nötigen Ruhe- Pausen gewährt, und was der Maßregeln zum Arbeiterschutz mehr sind, die jetzt in allen Staaten durchgeführt werden. Sie sind einfache Pflicht der Gesellschaft, und da ist es nun höchst drollig, daß man in der Gesellschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/213>, abgerufen am 26.05.2024.