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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

zur Unterhaltung, und nicht einmal der besten. Dabei entgeht mir freilich
nicht, daß ein Teil der Menschheit, obwohl er auch arbeitet, von den sozialen
Arbeiterschutz- und Uuterhaltuugsbestrebuugen keinen unmittelbaren Vorteil haben
würde, alle die Kreise nämlich, die sich aus äußern und innern Gründen nicht
gut auf den Standpunkt des zu seinem Unterhalt schaffenden Arbeiters stellen
können; aber ich bin überzeugt, daß, wenn die Arbeit endlich vollständig als
der soziale Maßstab anerkannt wäre, die Mehrzahl auch dieser Menschen zu
einem befriedigenden Dasein gelangen könnte, mit Ausnahme eben aller derer,
die nicht bloß Menschen, sondern wirklich Persönlichkeiten sind.

Die Arbeit selber also ist der Maßstab der gesellschaftlichen Schützung, in
unsern Kulturstaaten der einzig natürliche und mögliche. Wer nicht arbeitet,
soll nicht essen, wer nicht arbeitet, soll nichts gelten. Aber die Arbeit selbst
ist etwas persönliches, es kann nicht jeder dieselbe, nicht jeder das gleiche Maß
von Arbeit thun. Der letzte Punkt erledigt sich leicht; jeder braucht nur soviel
Arbeit zu leisten, als er nach seinen Kräften -- und die Gesellschaft hat im
allgemeinen die Mittel, diese zu bestimmen -- leisten kann. Braucht er aber
anch nur die Arbeit zu leisten, die der Beschaffenheit seiner Kräfte angemessen
ist, darf jeder Mensch seinem innern Berufe folgen? Ich stehe nicht an, diese
Frage mit Ja zu beantworten und erkläre es für eine weitere Pflicht der Ge¬
sellschaft, daß jedem Gelegenheit gegeben werde, seinen innern Beruf zu offen¬
baren , sich zu entwickeln, in seinem Berufe zu schaffen. Gerade hierin finde
ich das hauptsächlich, was ich Schutz der Persönlichkeit nenne. Daß es im
Nutzen der Gesellschaft liegt, daß jeder gerade auf dem Gebiete arbeitet, wohin
ihn seine Kräfte verweisen, bedarf keines Beweises; auch ist uicht zu fürchten,
daß, wenn jeder seinen Anlagen, denen doch wohl die Neigungen entsprechen,
folgen dürfte, gewisse Gebiete eine Überproduktion ausweisen würden, während
andre brach lägen. Die Natur, können wir mit einiger Bestimmtheit sagen,
verteilt die menschlichen Gaben so, daß kein Gebiet notwendiger menschlicher
Thätigkeit zu kurz kommt; die einzelnen Fälle von Selbsttäuschung und Selbst¬
überhebung erledigen sich ganz vou selbst. Stellt sich dennoch, wie in unsrer
Zeit, heraus, daß gewisse Fächer überhäuft siud, so liegt das eben an der
heutigen Überkultur und besonders an den von der Gesellschaft großgezogueu
Vorurteilen, wonach z. B. manche Arbeit schändet und der Sohn mindestens
wieder die gesellschaftliche Stellung des Vaters einnehmen muß, auch an den
blödsinnigen Anschauungen, als ob eine Arbeit leichter wäre als die andre,
als ob nicht jede den ganzen Mann erforderte. Es ist unbedingt notwendig,
daß diese Vorurteile und Thorheiten aus der Welt geschafft werden; ein ge¬
waltiges Stück sozialer Erziehung wäre damit geleistet, und es wäre gar nicht
einmal schwer zu leisten, eine zeitgemäße Umgestaltung des Schulwesens, die
Einführung der allgemeinen Volksschule voran, würde schon sehr viel ändern.
Freilich wäre das ein Bruch mit dem heutigen Klasseushstem, das zwar nirgends


Die Pflicht der Gesellschaft

zur Unterhaltung, und nicht einmal der besten. Dabei entgeht mir freilich
nicht, daß ein Teil der Menschheit, obwohl er auch arbeitet, von den sozialen
Arbeiterschutz- und Uuterhaltuugsbestrebuugen keinen unmittelbaren Vorteil haben
würde, alle die Kreise nämlich, die sich aus äußern und innern Gründen nicht
gut auf den Standpunkt des zu seinem Unterhalt schaffenden Arbeiters stellen
können; aber ich bin überzeugt, daß, wenn die Arbeit endlich vollständig als
der soziale Maßstab anerkannt wäre, die Mehrzahl auch dieser Menschen zu
einem befriedigenden Dasein gelangen könnte, mit Ausnahme eben aller derer,
die nicht bloß Menschen, sondern wirklich Persönlichkeiten sind.

Die Arbeit selber also ist der Maßstab der gesellschaftlichen Schützung, in
unsern Kulturstaaten der einzig natürliche und mögliche. Wer nicht arbeitet,
soll nicht essen, wer nicht arbeitet, soll nichts gelten. Aber die Arbeit selbst
ist etwas persönliches, es kann nicht jeder dieselbe, nicht jeder das gleiche Maß
von Arbeit thun. Der letzte Punkt erledigt sich leicht; jeder braucht nur soviel
Arbeit zu leisten, als er nach seinen Kräften — und die Gesellschaft hat im
allgemeinen die Mittel, diese zu bestimmen — leisten kann. Braucht er aber
anch nur die Arbeit zu leisten, die der Beschaffenheit seiner Kräfte angemessen
ist, darf jeder Mensch seinem innern Berufe folgen? Ich stehe nicht an, diese
Frage mit Ja zu beantworten und erkläre es für eine weitere Pflicht der Ge¬
sellschaft, daß jedem Gelegenheit gegeben werde, seinen innern Beruf zu offen¬
baren , sich zu entwickeln, in seinem Berufe zu schaffen. Gerade hierin finde
ich das hauptsächlich, was ich Schutz der Persönlichkeit nenne. Daß es im
Nutzen der Gesellschaft liegt, daß jeder gerade auf dem Gebiete arbeitet, wohin
ihn seine Kräfte verweisen, bedarf keines Beweises; auch ist uicht zu fürchten,
daß, wenn jeder seinen Anlagen, denen doch wohl die Neigungen entsprechen,
folgen dürfte, gewisse Gebiete eine Überproduktion ausweisen würden, während
andre brach lägen. Die Natur, können wir mit einiger Bestimmtheit sagen,
verteilt die menschlichen Gaben so, daß kein Gebiet notwendiger menschlicher
Thätigkeit zu kurz kommt; die einzelnen Fälle von Selbsttäuschung und Selbst¬
überhebung erledigen sich ganz vou selbst. Stellt sich dennoch, wie in unsrer
Zeit, heraus, daß gewisse Fächer überhäuft siud, so liegt das eben an der
heutigen Überkultur und besonders an den von der Gesellschaft großgezogueu
Vorurteilen, wonach z. B. manche Arbeit schändet und der Sohn mindestens
wieder die gesellschaftliche Stellung des Vaters einnehmen muß, auch an den
blödsinnigen Anschauungen, als ob eine Arbeit leichter wäre als die andre,
als ob nicht jede den ganzen Mann erforderte. Es ist unbedingt notwendig,
daß diese Vorurteile und Thorheiten aus der Welt geschafft werden; ein ge¬
waltiges Stück sozialer Erziehung wäre damit geleistet, und es wäre gar nicht
einmal schwer zu leisten, eine zeitgemäße Umgestaltung des Schulwesens, die
Einführung der allgemeinen Volksschule voran, würde schon sehr viel ändern.
Freilich wäre das ein Bruch mit dem heutigen Klasseushstem, das zwar nirgends


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[0215] Die Pflicht der Gesellschaft zur Unterhaltung, und nicht einmal der besten. Dabei entgeht mir freilich nicht, daß ein Teil der Menschheit, obwohl er auch arbeitet, von den sozialen Arbeiterschutz- und Uuterhaltuugsbestrebuugen keinen unmittelbaren Vorteil haben würde, alle die Kreise nämlich, die sich aus äußern und innern Gründen nicht gut auf den Standpunkt des zu seinem Unterhalt schaffenden Arbeiters stellen können; aber ich bin überzeugt, daß, wenn die Arbeit endlich vollständig als der soziale Maßstab anerkannt wäre, die Mehrzahl auch dieser Menschen zu einem befriedigenden Dasein gelangen könnte, mit Ausnahme eben aller derer, die nicht bloß Menschen, sondern wirklich Persönlichkeiten sind. Die Arbeit selber also ist der Maßstab der gesellschaftlichen Schützung, in unsern Kulturstaaten der einzig natürliche und mögliche. Wer nicht arbeitet, soll nicht essen, wer nicht arbeitet, soll nichts gelten. Aber die Arbeit selbst ist etwas persönliches, es kann nicht jeder dieselbe, nicht jeder das gleiche Maß von Arbeit thun. Der letzte Punkt erledigt sich leicht; jeder braucht nur soviel Arbeit zu leisten, als er nach seinen Kräften — und die Gesellschaft hat im allgemeinen die Mittel, diese zu bestimmen — leisten kann. Braucht er aber anch nur die Arbeit zu leisten, die der Beschaffenheit seiner Kräfte angemessen ist, darf jeder Mensch seinem innern Berufe folgen? Ich stehe nicht an, diese Frage mit Ja zu beantworten und erkläre es für eine weitere Pflicht der Ge¬ sellschaft, daß jedem Gelegenheit gegeben werde, seinen innern Beruf zu offen¬ baren , sich zu entwickeln, in seinem Berufe zu schaffen. Gerade hierin finde ich das hauptsächlich, was ich Schutz der Persönlichkeit nenne. Daß es im Nutzen der Gesellschaft liegt, daß jeder gerade auf dem Gebiete arbeitet, wohin ihn seine Kräfte verweisen, bedarf keines Beweises; auch ist uicht zu fürchten, daß, wenn jeder seinen Anlagen, denen doch wohl die Neigungen entsprechen, folgen dürfte, gewisse Gebiete eine Überproduktion ausweisen würden, während andre brach lägen. Die Natur, können wir mit einiger Bestimmtheit sagen, verteilt die menschlichen Gaben so, daß kein Gebiet notwendiger menschlicher Thätigkeit zu kurz kommt; die einzelnen Fälle von Selbsttäuschung und Selbst¬ überhebung erledigen sich ganz vou selbst. Stellt sich dennoch, wie in unsrer Zeit, heraus, daß gewisse Fächer überhäuft siud, so liegt das eben an der heutigen Überkultur und besonders an den von der Gesellschaft großgezogueu Vorurteilen, wonach z. B. manche Arbeit schändet und der Sohn mindestens wieder die gesellschaftliche Stellung des Vaters einnehmen muß, auch an den blödsinnigen Anschauungen, als ob eine Arbeit leichter wäre als die andre, als ob nicht jede den ganzen Mann erforderte. Es ist unbedingt notwendig, daß diese Vorurteile und Thorheiten aus der Welt geschafft werden; ein ge¬ waltiges Stück sozialer Erziehung wäre damit geleistet, und es wäre gar nicht einmal schwer zu leisten, eine zeitgemäße Umgestaltung des Schulwesens, die Einführung der allgemeinen Volksschule voran, würde schon sehr viel ändern. Freilich wäre das ein Bruch mit dem heutigen Klasseushstem, das zwar nirgends

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/215>, abgerufen am 26.05.2024.