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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

"offiziell," aber in Wirklichkeit doch noch besteht; nicht einmal die sogenannte
"gute Familie," die aber in der Regel auch ihre mißratenen Mitglieder aus¬
weist, könnte da noch zur Geltung kommen; dem Begabten würde die Lauf¬
bahn erleichtert, den Dummköpfen erschwert, und das wäre für viele Leute
doch ein gar zu großes Unglück. Nun, die Zeit wird sicher kommen, wo man
mit den Bollwerken der Dummheit fertig wird. Jeden Menschen seinem Beruf!
Immerhin giebt es eine große Anzahl Menschen ohne ausgeprägte Anlagen und
Neigungen, und es wird immer in der Hand der Gesellschaft liegen, diese in
die Stellen zu bringen, wo Arbeit, die keinen innern Beruf erfordert, zu leisten
ist. Im allgemeinen kaun man sich, wie gesagt, auf die Natur verlassen, die
keine Gattung ausgehen läßt und die Menschen den veränderten Zeitverhält¬
nissen anpaßt. Auch die lieben Eltern können das thun und werden das thun
müssen. Ein Recht der Persönlichkeit wird mit dieser Freiheit der Berufs¬
wahl, die ja zugleich auch wieder eine größere Gebundenheit, an die Natur
nämlich, in sich schließt, nicht geschaffen, es bleibt immer noch beim Schutz;
denn man muß doch wohl annehmen, daß der Mensch in der Frohn unan¬
gemessener Arbeit verkümmert. Ihre Unangemessenheit ist es auch wohl, was
so vielen ihre Arbeit zuwider macht, obwohl wir die Macht der Trägheit
nicht unterschätzen wollen; dieser gegenüber hat aber jede Gesellschaft Zwangs¬
mittel genug in der Hand, und der berühmte, den Sozialdemokraten so oft
gemachte Vorwurf, daß im Zukunftsstaate niemand mehr werde arbeiten wollen,
ist von derselben Hohlheit wie die meisten andern, über die die gewöhnlichen
Ordnungskämpfer verfügen. Darf in einem wahrhaft sozialen Staate jeder¬
mann auch seinem innern Berufe folgen, so streitet damit natürlich niemand
der Gesellschaft das Recht ab, in außerordentlichen Fällen jedermann zu jeder
Dienstleistung zu befehlen.

Die Gesellschaft hätte also, um jedem zu ermöglichen, seinem innern Berufe
zu folgen, die gesamte Ausbildung der Jngend zu übernehmen, und zwar in
weit ausgedehnterm Maße als jetzt, bis zur vollen Selbständigkeit des Einzelnen.
Damit würde nun zwar manche Blüte der gegenwärtigen Kultur wegfallen,
so z. B. der seine Jugendzeit verbummelnde Student, aber es ist ziemlich sicher
anzunehmen, daß der Nation als Ganzem die wissenschaftliche Ausbildung
ihrer begabten jungen Leute verhältnismäßig billiger zu stehen käme als bisher,
und daß die Auslese auch bedeutend besser ausfiele, zumal wenn man das
heutige Prüfungswesen durch eine zweckentsprechendere Aufsicht ersetzte. Mit
der Vollendung der Ausbildung würde dann die Pflicht der Gesellschaft er¬
löschen; daß jeder an den richtigen Platz gelangte, müßte dann seine eigne
Sorge sein und würde das auch wohl selbst im sozialdemokratischen Staate,
um so mehr, als dieser mehr als jeder andre von der zu leistenden Arbeit
abhängig wäre. Für den bedeutenden Menschen nun noch besondre Ausnahmen
zu verlangen, kann mir gar nicht einfallen. Allerdings aber müssen wir jetzt


Die Pflicht der Gesellschaft

„offiziell," aber in Wirklichkeit doch noch besteht; nicht einmal die sogenannte
„gute Familie," die aber in der Regel auch ihre mißratenen Mitglieder aus¬
weist, könnte da noch zur Geltung kommen; dem Begabten würde die Lauf¬
bahn erleichtert, den Dummköpfen erschwert, und das wäre für viele Leute
doch ein gar zu großes Unglück. Nun, die Zeit wird sicher kommen, wo man
mit den Bollwerken der Dummheit fertig wird. Jeden Menschen seinem Beruf!
Immerhin giebt es eine große Anzahl Menschen ohne ausgeprägte Anlagen und
Neigungen, und es wird immer in der Hand der Gesellschaft liegen, diese in
die Stellen zu bringen, wo Arbeit, die keinen innern Beruf erfordert, zu leisten
ist. Im allgemeinen kaun man sich, wie gesagt, auf die Natur verlassen, die
keine Gattung ausgehen läßt und die Menschen den veränderten Zeitverhält¬
nissen anpaßt. Auch die lieben Eltern können das thun und werden das thun
müssen. Ein Recht der Persönlichkeit wird mit dieser Freiheit der Berufs¬
wahl, die ja zugleich auch wieder eine größere Gebundenheit, an die Natur
nämlich, in sich schließt, nicht geschaffen, es bleibt immer noch beim Schutz;
denn man muß doch wohl annehmen, daß der Mensch in der Frohn unan¬
gemessener Arbeit verkümmert. Ihre Unangemessenheit ist es auch wohl, was
so vielen ihre Arbeit zuwider macht, obwohl wir die Macht der Trägheit
nicht unterschätzen wollen; dieser gegenüber hat aber jede Gesellschaft Zwangs¬
mittel genug in der Hand, und der berühmte, den Sozialdemokraten so oft
gemachte Vorwurf, daß im Zukunftsstaate niemand mehr werde arbeiten wollen,
ist von derselben Hohlheit wie die meisten andern, über die die gewöhnlichen
Ordnungskämpfer verfügen. Darf in einem wahrhaft sozialen Staate jeder¬
mann auch seinem innern Berufe folgen, so streitet damit natürlich niemand
der Gesellschaft das Recht ab, in außerordentlichen Fällen jedermann zu jeder
Dienstleistung zu befehlen.

Die Gesellschaft hätte also, um jedem zu ermöglichen, seinem innern Berufe
zu folgen, die gesamte Ausbildung der Jngend zu übernehmen, und zwar in
weit ausgedehnterm Maße als jetzt, bis zur vollen Selbständigkeit des Einzelnen.
Damit würde nun zwar manche Blüte der gegenwärtigen Kultur wegfallen,
so z. B. der seine Jugendzeit verbummelnde Student, aber es ist ziemlich sicher
anzunehmen, daß der Nation als Ganzem die wissenschaftliche Ausbildung
ihrer begabten jungen Leute verhältnismäßig billiger zu stehen käme als bisher,
und daß die Auslese auch bedeutend besser ausfiele, zumal wenn man das
heutige Prüfungswesen durch eine zweckentsprechendere Aufsicht ersetzte. Mit
der Vollendung der Ausbildung würde dann die Pflicht der Gesellschaft er¬
löschen; daß jeder an den richtigen Platz gelangte, müßte dann seine eigne
Sorge sein und würde das auch wohl selbst im sozialdemokratischen Staate,
um so mehr, als dieser mehr als jeder andre von der zu leistenden Arbeit
abhängig wäre. Für den bedeutenden Menschen nun noch besondre Ausnahmen
zu verlangen, kann mir gar nicht einfallen. Allerdings aber müssen wir jetzt


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[0216] Die Pflicht der Gesellschaft „offiziell," aber in Wirklichkeit doch noch besteht; nicht einmal die sogenannte „gute Familie," die aber in der Regel auch ihre mißratenen Mitglieder aus¬ weist, könnte da noch zur Geltung kommen; dem Begabten würde die Lauf¬ bahn erleichtert, den Dummköpfen erschwert, und das wäre für viele Leute doch ein gar zu großes Unglück. Nun, die Zeit wird sicher kommen, wo man mit den Bollwerken der Dummheit fertig wird. Jeden Menschen seinem Beruf! Immerhin giebt es eine große Anzahl Menschen ohne ausgeprägte Anlagen und Neigungen, und es wird immer in der Hand der Gesellschaft liegen, diese in die Stellen zu bringen, wo Arbeit, die keinen innern Beruf erfordert, zu leisten ist. Im allgemeinen kaun man sich, wie gesagt, auf die Natur verlassen, die keine Gattung ausgehen läßt und die Menschen den veränderten Zeitverhält¬ nissen anpaßt. Auch die lieben Eltern können das thun und werden das thun müssen. Ein Recht der Persönlichkeit wird mit dieser Freiheit der Berufs¬ wahl, die ja zugleich auch wieder eine größere Gebundenheit, an die Natur nämlich, in sich schließt, nicht geschaffen, es bleibt immer noch beim Schutz; denn man muß doch wohl annehmen, daß der Mensch in der Frohn unan¬ gemessener Arbeit verkümmert. Ihre Unangemessenheit ist es auch wohl, was so vielen ihre Arbeit zuwider macht, obwohl wir die Macht der Trägheit nicht unterschätzen wollen; dieser gegenüber hat aber jede Gesellschaft Zwangs¬ mittel genug in der Hand, und der berühmte, den Sozialdemokraten so oft gemachte Vorwurf, daß im Zukunftsstaate niemand mehr werde arbeiten wollen, ist von derselben Hohlheit wie die meisten andern, über die die gewöhnlichen Ordnungskämpfer verfügen. Darf in einem wahrhaft sozialen Staate jeder¬ mann auch seinem innern Berufe folgen, so streitet damit natürlich niemand der Gesellschaft das Recht ab, in außerordentlichen Fällen jedermann zu jeder Dienstleistung zu befehlen. Die Gesellschaft hätte also, um jedem zu ermöglichen, seinem innern Berufe zu folgen, die gesamte Ausbildung der Jngend zu übernehmen, und zwar in weit ausgedehnterm Maße als jetzt, bis zur vollen Selbständigkeit des Einzelnen. Damit würde nun zwar manche Blüte der gegenwärtigen Kultur wegfallen, so z. B. der seine Jugendzeit verbummelnde Student, aber es ist ziemlich sicher anzunehmen, daß der Nation als Ganzem die wissenschaftliche Ausbildung ihrer begabten jungen Leute verhältnismäßig billiger zu stehen käme als bisher, und daß die Auslese auch bedeutend besser ausfiele, zumal wenn man das heutige Prüfungswesen durch eine zweckentsprechendere Aufsicht ersetzte. Mit der Vollendung der Ausbildung würde dann die Pflicht der Gesellschaft er¬ löschen; daß jeder an den richtigen Platz gelangte, müßte dann seine eigne Sorge sein und würde das auch wohl selbst im sozialdemokratischen Staate, um so mehr, als dieser mehr als jeder andre von der zu leistenden Arbeit abhängig wäre. Für den bedeutenden Menschen nun noch besondre Ausnahmen zu verlangen, kann mir gar nicht einfallen. Allerdings aber müssen wir jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/216>, abgerufen am 26.05.2024.