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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

nomadischen Jürüken (d. i. Wanderer, von M-üm<et, wandern). Götschebehs
(d. i. Nomaden, von Z'öwonmsK, umherziehen) und Tataren. Man darf keinen
Osmanly "Türke" nennen; dies gilt ihm als Schimpfwort und gleichbedeutend
mit "grob," "bäurisch." Doch haben die von den Osmnnly verächtlich "Türk"
genannten nomadischen Stammesvettern den türkischen Typus besser bewahrt
als die Osmanly. Besonders die anatolischen Turkmenen bilden heute den
besten Teil des türkischen Heeresersatzes.

Neben diesen der ural-altcnschen Rasse angehörigen türkischen Stämmen
gehören zur islamitischen Bevölkerung des türkischen Reiches von andern Rassen
(der into-germanischen und der semitischen) noch die Kurden, Lasen, ein Teil
der kleinasiatischen Griechen, die Syrer und die Araber. Aber auf alle diese
Völkerschaften kaun das türkische Reich im Falle der Not nicht mit Sicherheit
zählen. Die Kurden bereiten der türkischen Negierung durch ihre räuberischen
Überfälle und ihre Unbotmäßigkeit immerfort Verlegenheiten und die Araber
haben sich erst kürzlich wieder offen empört.

Zu diesem bunten Völkergemisch sind nun in Anatolien in neuerer Zeit
noch die verschiednen zahlreichen Muhadschyrs (Flüchtlinge, Auswandrer) ge¬
kommen. Das sind 1. kaukasische Muhadschyrs: die von den Russen aus ihrer
kaukasischen Heimat Vertriebnen mohammedanischen Tscherkessen, Abchasen und
Georgier, die in zwei großen Fluten (1858 bis 1865 und 1877 f.) die Halb¬
insel überschwemmten; 2. europäische Muhadschyrs: mohammedanische Flücht¬
linge aus den Grenzländern der europäischen Türkei: Bosniaken, Pomaken
(d. s. mohammedanische Bulgaren), Arnauten (d. s. Albanesen), türkische Bauern
aus Rumelien und Tataren aus der Dobrudscha. Die ununterbrochne ge¬
räuschlose Völkerwanderung der Muhadschyrs nach Kleinasten scheint nicht eher
aufhören zu wollen, als bis der letzte mohammedanische Bauer das christliche
Europa verlassen hat. Die Auswanderung hat schon einen Umfang angenommen,
daß sie von historischem Interesse und von politischer Bedeutung für die Zu¬
kunft geworden ist. Diese Muhadschyrs, die in Anatolien jetzt stellenweise ganze
Bezirke einnehmen (besonders an der anatolischen Bahn), sind fast ausnahmslos
fleißige und tüchtige Bauern, die von der türkischen Negierung gern aufge¬
nommen und angesiedelt wurden und einen Geist des Fortschritts und der Be¬
triebsamkeit in das halberstorbne Land gebracht haben. Von den anatolischen
Türken stechen sie auch in ihrer Gestalt auffallend ab: es ist ein schöner, großer,
breitschultriger Menschenschlag, selbst die wirklichen Türken unter ihnen haben
viel arisches Blut in ihren Adern, blonde, blauäugige Gesichter sind keine
Seltenheit, aber alle sind gute Türken und fromme Mohammedaner, ein vor¬
zügliches Menschenmaterial, ein vortrefflicher Heeresersatz.

Christlich geblieben, sogenannte Rajah, sind nur: 1. völlig die Armenier.
2. zum Teil die Griechen (die der Türkei werden von den Türken Urum oder
lium, d. i. Romäer, "/^""t"^ Angehörige des oströmischen Reichs genannt,


Grenzboten II 1396 34
Die Lage des türkischen Staates

nomadischen Jürüken (d. i. Wanderer, von M-üm<et, wandern). Götschebehs
(d. i. Nomaden, von Z'öwonmsK, umherziehen) und Tataren. Man darf keinen
Osmanly „Türke" nennen; dies gilt ihm als Schimpfwort und gleichbedeutend
mit „grob," „bäurisch." Doch haben die von den Osmnnly verächtlich „Türk"
genannten nomadischen Stammesvettern den türkischen Typus besser bewahrt
als die Osmanly. Besonders die anatolischen Turkmenen bilden heute den
besten Teil des türkischen Heeresersatzes.

Neben diesen der ural-altcnschen Rasse angehörigen türkischen Stämmen
gehören zur islamitischen Bevölkerung des türkischen Reiches von andern Rassen
(der into-germanischen und der semitischen) noch die Kurden, Lasen, ein Teil
der kleinasiatischen Griechen, die Syrer und die Araber. Aber auf alle diese
Völkerschaften kaun das türkische Reich im Falle der Not nicht mit Sicherheit
zählen. Die Kurden bereiten der türkischen Negierung durch ihre räuberischen
Überfälle und ihre Unbotmäßigkeit immerfort Verlegenheiten und die Araber
haben sich erst kürzlich wieder offen empört.

Zu diesem bunten Völkergemisch sind nun in Anatolien in neuerer Zeit
noch die verschiednen zahlreichen Muhadschyrs (Flüchtlinge, Auswandrer) ge¬
kommen. Das sind 1. kaukasische Muhadschyrs: die von den Russen aus ihrer
kaukasischen Heimat Vertriebnen mohammedanischen Tscherkessen, Abchasen und
Georgier, die in zwei großen Fluten (1858 bis 1865 und 1877 f.) die Halb¬
insel überschwemmten; 2. europäische Muhadschyrs: mohammedanische Flücht¬
linge aus den Grenzländern der europäischen Türkei: Bosniaken, Pomaken
(d. s. mohammedanische Bulgaren), Arnauten (d. s. Albanesen), türkische Bauern
aus Rumelien und Tataren aus der Dobrudscha. Die ununterbrochne ge¬
räuschlose Völkerwanderung der Muhadschyrs nach Kleinasten scheint nicht eher
aufhören zu wollen, als bis der letzte mohammedanische Bauer das christliche
Europa verlassen hat. Die Auswanderung hat schon einen Umfang angenommen,
daß sie von historischem Interesse und von politischer Bedeutung für die Zu¬
kunft geworden ist. Diese Muhadschyrs, die in Anatolien jetzt stellenweise ganze
Bezirke einnehmen (besonders an der anatolischen Bahn), sind fast ausnahmslos
fleißige und tüchtige Bauern, die von der türkischen Negierung gern aufge¬
nommen und angesiedelt wurden und einen Geist des Fortschritts und der Be¬
triebsamkeit in das halberstorbne Land gebracht haben. Von den anatolischen
Türken stechen sie auch in ihrer Gestalt auffallend ab: es ist ein schöner, großer,
breitschultriger Menschenschlag, selbst die wirklichen Türken unter ihnen haben
viel arisches Blut in ihren Adern, blonde, blauäugige Gesichter sind keine
Seltenheit, aber alle sind gute Türken und fromme Mohammedaner, ein vor¬
zügliches Menschenmaterial, ein vortrefflicher Heeresersatz.

Christlich geblieben, sogenannte Rajah, sind nur: 1. völlig die Armenier.
2. zum Teil die Griechen (die der Türkei werden von den Türken Urum oder
lium, d. i. Romäer, "/^««t»^ Angehörige des oströmischen Reichs genannt,


Grenzboten II 1396 34
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[0273] Die Lage des türkischen Staates nomadischen Jürüken (d. i. Wanderer, von M-üm<et, wandern). Götschebehs (d. i. Nomaden, von Z'öwonmsK, umherziehen) und Tataren. Man darf keinen Osmanly „Türke" nennen; dies gilt ihm als Schimpfwort und gleichbedeutend mit „grob," „bäurisch." Doch haben die von den Osmnnly verächtlich „Türk" genannten nomadischen Stammesvettern den türkischen Typus besser bewahrt als die Osmanly. Besonders die anatolischen Turkmenen bilden heute den besten Teil des türkischen Heeresersatzes. Neben diesen der ural-altcnschen Rasse angehörigen türkischen Stämmen gehören zur islamitischen Bevölkerung des türkischen Reiches von andern Rassen (der into-germanischen und der semitischen) noch die Kurden, Lasen, ein Teil der kleinasiatischen Griechen, die Syrer und die Araber. Aber auf alle diese Völkerschaften kaun das türkische Reich im Falle der Not nicht mit Sicherheit zählen. Die Kurden bereiten der türkischen Negierung durch ihre räuberischen Überfälle und ihre Unbotmäßigkeit immerfort Verlegenheiten und die Araber haben sich erst kürzlich wieder offen empört. Zu diesem bunten Völkergemisch sind nun in Anatolien in neuerer Zeit noch die verschiednen zahlreichen Muhadschyrs (Flüchtlinge, Auswandrer) ge¬ kommen. Das sind 1. kaukasische Muhadschyrs: die von den Russen aus ihrer kaukasischen Heimat Vertriebnen mohammedanischen Tscherkessen, Abchasen und Georgier, die in zwei großen Fluten (1858 bis 1865 und 1877 f.) die Halb¬ insel überschwemmten; 2. europäische Muhadschyrs: mohammedanische Flücht¬ linge aus den Grenzländern der europäischen Türkei: Bosniaken, Pomaken (d. s. mohammedanische Bulgaren), Arnauten (d. s. Albanesen), türkische Bauern aus Rumelien und Tataren aus der Dobrudscha. Die ununterbrochne ge¬ räuschlose Völkerwanderung der Muhadschyrs nach Kleinasten scheint nicht eher aufhören zu wollen, als bis der letzte mohammedanische Bauer das christliche Europa verlassen hat. Die Auswanderung hat schon einen Umfang angenommen, daß sie von historischem Interesse und von politischer Bedeutung für die Zu¬ kunft geworden ist. Diese Muhadschyrs, die in Anatolien jetzt stellenweise ganze Bezirke einnehmen (besonders an der anatolischen Bahn), sind fast ausnahmslos fleißige und tüchtige Bauern, die von der türkischen Negierung gern aufge¬ nommen und angesiedelt wurden und einen Geist des Fortschritts und der Be¬ triebsamkeit in das halberstorbne Land gebracht haben. Von den anatolischen Türken stechen sie auch in ihrer Gestalt auffallend ab: es ist ein schöner, großer, breitschultriger Menschenschlag, selbst die wirklichen Türken unter ihnen haben viel arisches Blut in ihren Adern, blonde, blauäugige Gesichter sind keine Seltenheit, aber alle sind gute Türken und fromme Mohammedaner, ein vor¬ zügliches Menschenmaterial, ein vortrefflicher Heeresersatz. Christlich geblieben, sogenannte Rajah, sind nur: 1. völlig die Armenier. 2. zum Teil die Griechen (die der Türkei werden von den Türken Urum oder lium, d. i. Romäer, "/^««t»^ Angehörige des oströmischen Reichs genannt, Grenzboten II 1396 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/273>, abgerufen am 17.06.2024.