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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die >>age des türkischen Staates

die des Königreichs ^Jünanistanj dagegen Jüncmly, d. i. Jonier). Von den
kleinasiatischen Griechen kann man leider nicht behaupten, daß sie sich ihren
nationalen Stolz zu bewahren gewußt hätten, sie haben ihn im Gegenteil fast
überall dem materiellen Vorteil geopfert und sind teils zum Islam übergetreten,
teils haben sie ihre Sprache aufgegeben, teils beides zugleich. Nur in ein¬
zelnen großen, vorwiegend griechischen Städten, wie Smhrna und Trcipezunt,
haben sie sich Glauben und Muttersprache bewahrt. Doch beginnt auch bei
ihnen neuerdings der nationale Sinn wieder zu erwachen, und in vielen Pon¬
tischen Küstenstädten entstehen griechische Schulen. 3. Die vereinzelten Giaurköi
("Ungläubigendörfer") in Westkleinasien, bewohnt von Levantinern, Genuesen
oder Franken, die, wenn sie nach ihrer Nationalität befragt werden, sich meist
als "Katholiken" bezeichnen.

Es giebt ein türkisches Sprichwort, das die verschiedenartigen Eigen¬
schaften der wichtigsten Völkerschaften kurz und treffend bezeichnet: "Die Schön¬
heit gehört den Tscherkessen, Handel und Reichtum den Griechen und Armeniern,
die Wissenschaft den Europäern, die Majestät lMiNuat.) den Osmanen." So
stolz urteilen die Osmanen von sich selber. In der That kann nicht geleugnet
werden, daß den echten Osmanly, der freilich heutzutage selten geworden ist,
ein würdevoller Stolz, Edelmut, Rechtschaffenheit, wahrhaftige Frömmigkeit,
Mildthätigkeit und Gastfreundschaft in hohem Maße auszeichnen. Diese schönen
Züge des türkischen Volkscharakters wird jeder Reisende, besonders unter
der Landbevölkerung, bestätigen können. Ich will nur anführen, daß ich auf
meiner Reise durch Kleinasien mit wenigen Ausnahmen in den Türkendörfern
immer die bereitwilligste Gastfreundschaft gefunden habe und alle Gepäckstücke
sorglos herumliegen lassen konnte, ohne daß mir je der geringste Gegenstand
abhanden gekommen wäre, während gleich im ersten Gricchendorfc, wo ich über¬
nachtete, der Pope, der christliche Geistliches!), mir und meinen Kameraden
erst spät abends und nur aus Gewinnsucht ein Obdach gewährte und uns
überdies noch bestahl! Zu den weniger guten Eigenschaften des Osmanly gehört
vor allem sein maßloser Stolz auf die Gründung des osmanischen Reichs, sein
geringer Sinn sür alles Höhere und Ideale, für Kunst und Wissenschaft, ferner
seine Trägheit und Gleichgiltigkeit, die ihn verächtlich herabsehen läßt auf alle
Errungenschaften unsrer modernen Kultur, die uns Europäern das Leben ver¬
schönern, und die uns unentbehrlich erscheinen, endlich sein gänzlicher Mangel
an Unternehmungs- und Spekulationsgeist, der ihn zur leichten Beute der
Griechen und Armenier macht, deren überlegner Handelstüchtigkeit und Schlau¬
heit er nichts entgegenzusetzen hat als fanatischen Haß, der sich von Zeit zu
Zeit, wie jetzt wieder, in grausamen Ausbrüchen Luft macht. Das Interesse
des "Frenki" für die Altertümer seines Landes, das so viele antike Kunst¬
schätze birgt, daß man es ein Altertumsmuseum im großen nennen könnte, ist
in den Augen des Türken ein unschädlicher Sport, und gegen die traurigen


Die >>age des türkischen Staates

die des Königreichs ^Jünanistanj dagegen Jüncmly, d. i. Jonier). Von den
kleinasiatischen Griechen kann man leider nicht behaupten, daß sie sich ihren
nationalen Stolz zu bewahren gewußt hätten, sie haben ihn im Gegenteil fast
überall dem materiellen Vorteil geopfert und sind teils zum Islam übergetreten,
teils haben sie ihre Sprache aufgegeben, teils beides zugleich. Nur in ein¬
zelnen großen, vorwiegend griechischen Städten, wie Smhrna und Trcipezunt,
haben sie sich Glauben und Muttersprache bewahrt. Doch beginnt auch bei
ihnen neuerdings der nationale Sinn wieder zu erwachen, und in vielen Pon¬
tischen Küstenstädten entstehen griechische Schulen. 3. Die vereinzelten Giaurköi
(„Ungläubigendörfer") in Westkleinasien, bewohnt von Levantinern, Genuesen
oder Franken, die, wenn sie nach ihrer Nationalität befragt werden, sich meist
als „Katholiken" bezeichnen.

Es giebt ein türkisches Sprichwort, das die verschiedenartigen Eigen¬
schaften der wichtigsten Völkerschaften kurz und treffend bezeichnet: „Die Schön¬
heit gehört den Tscherkessen, Handel und Reichtum den Griechen und Armeniern,
die Wissenschaft den Europäern, die Majestät lMiNuat.) den Osmanen." So
stolz urteilen die Osmanen von sich selber. In der That kann nicht geleugnet
werden, daß den echten Osmanly, der freilich heutzutage selten geworden ist,
ein würdevoller Stolz, Edelmut, Rechtschaffenheit, wahrhaftige Frömmigkeit,
Mildthätigkeit und Gastfreundschaft in hohem Maße auszeichnen. Diese schönen
Züge des türkischen Volkscharakters wird jeder Reisende, besonders unter
der Landbevölkerung, bestätigen können. Ich will nur anführen, daß ich auf
meiner Reise durch Kleinasien mit wenigen Ausnahmen in den Türkendörfern
immer die bereitwilligste Gastfreundschaft gefunden habe und alle Gepäckstücke
sorglos herumliegen lassen konnte, ohne daß mir je der geringste Gegenstand
abhanden gekommen wäre, während gleich im ersten Gricchendorfc, wo ich über¬
nachtete, der Pope, der christliche Geistliches!), mir und meinen Kameraden
erst spät abends und nur aus Gewinnsucht ein Obdach gewährte und uns
überdies noch bestahl! Zu den weniger guten Eigenschaften des Osmanly gehört
vor allem sein maßloser Stolz auf die Gründung des osmanischen Reichs, sein
geringer Sinn sür alles Höhere und Ideale, für Kunst und Wissenschaft, ferner
seine Trägheit und Gleichgiltigkeit, die ihn verächtlich herabsehen läßt auf alle
Errungenschaften unsrer modernen Kultur, die uns Europäern das Leben ver¬
schönern, und die uns unentbehrlich erscheinen, endlich sein gänzlicher Mangel
an Unternehmungs- und Spekulationsgeist, der ihn zur leichten Beute der
Griechen und Armenier macht, deren überlegner Handelstüchtigkeit und Schlau¬
heit er nichts entgegenzusetzen hat als fanatischen Haß, der sich von Zeit zu
Zeit, wie jetzt wieder, in grausamen Ausbrüchen Luft macht. Das Interesse
des „Frenki" für die Altertümer seines Landes, das so viele antike Kunst¬
schätze birgt, daß man es ein Altertumsmuseum im großen nennen könnte, ist
in den Augen des Türken ein unschädlicher Sport, und gegen die traurigen


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[0274] Die >>age des türkischen Staates die des Königreichs ^Jünanistanj dagegen Jüncmly, d. i. Jonier). Von den kleinasiatischen Griechen kann man leider nicht behaupten, daß sie sich ihren nationalen Stolz zu bewahren gewußt hätten, sie haben ihn im Gegenteil fast überall dem materiellen Vorteil geopfert und sind teils zum Islam übergetreten, teils haben sie ihre Sprache aufgegeben, teils beides zugleich. Nur in ein¬ zelnen großen, vorwiegend griechischen Städten, wie Smhrna und Trcipezunt, haben sie sich Glauben und Muttersprache bewahrt. Doch beginnt auch bei ihnen neuerdings der nationale Sinn wieder zu erwachen, und in vielen Pon¬ tischen Küstenstädten entstehen griechische Schulen. 3. Die vereinzelten Giaurköi („Ungläubigendörfer") in Westkleinasien, bewohnt von Levantinern, Genuesen oder Franken, die, wenn sie nach ihrer Nationalität befragt werden, sich meist als „Katholiken" bezeichnen. Es giebt ein türkisches Sprichwort, das die verschiedenartigen Eigen¬ schaften der wichtigsten Völkerschaften kurz und treffend bezeichnet: „Die Schön¬ heit gehört den Tscherkessen, Handel und Reichtum den Griechen und Armeniern, die Wissenschaft den Europäern, die Majestät lMiNuat.) den Osmanen." So stolz urteilen die Osmanen von sich selber. In der That kann nicht geleugnet werden, daß den echten Osmanly, der freilich heutzutage selten geworden ist, ein würdevoller Stolz, Edelmut, Rechtschaffenheit, wahrhaftige Frömmigkeit, Mildthätigkeit und Gastfreundschaft in hohem Maße auszeichnen. Diese schönen Züge des türkischen Volkscharakters wird jeder Reisende, besonders unter der Landbevölkerung, bestätigen können. Ich will nur anführen, daß ich auf meiner Reise durch Kleinasien mit wenigen Ausnahmen in den Türkendörfern immer die bereitwilligste Gastfreundschaft gefunden habe und alle Gepäckstücke sorglos herumliegen lassen konnte, ohne daß mir je der geringste Gegenstand abhanden gekommen wäre, während gleich im ersten Gricchendorfc, wo ich über¬ nachtete, der Pope, der christliche Geistliches!), mir und meinen Kameraden erst spät abends und nur aus Gewinnsucht ein Obdach gewährte und uns überdies noch bestahl! Zu den weniger guten Eigenschaften des Osmanly gehört vor allem sein maßloser Stolz auf die Gründung des osmanischen Reichs, sein geringer Sinn sür alles Höhere und Ideale, für Kunst und Wissenschaft, ferner seine Trägheit und Gleichgiltigkeit, die ihn verächtlich herabsehen läßt auf alle Errungenschaften unsrer modernen Kultur, die uns Europäern das Leben ver¬ schönern, und die uns unentbehrlich erscheinen, endlich sein gänzlicher Mangel an Unternehmungs- und Spekulationsgeist, der ihn zur leichten Beute der Griechen und Armenier macht, deren überlegner Handelstüchtigkeit und Schlau¬ heit er nichts entgegenzusetzen hat als fanatischen Haß, der sich von Zeit zu Zeit, wie jetzt wieder, in grausamen Ausbrüchen Luft macht. Das Interesse des „Frenki" für die Altertümer seines Landes, das so viele antike Kunst¬ schätze birgt, daß man es ein Altertumsmuseum im großen nennen könnte, ist in den Augen des Türken ein unschädlicher Sport, und gegen die traurigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/274>, abgerufen am 17.06.2024.