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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

Trümmer, die der Fanatismus seiner Vorfahren davon noch übrig gelassen
hat, hegt selbst der heutige Türke noch einen grenzenlosen Haß und tiefe Ver¬
achtung.*) Das Ideal jedes Türken ist die Erlangung eines einträglichen
Staatsamts. Das Bild, das sich unsre Phantasie von einem "Pascha" ent¬
wirft, kann als das typische Ideal des ganzen türkischen Volks gelten. Wenn
sich der Türke beim Tschybuk oder Nargileh in süßem Nichtsthun dem träume¬
rischen Zustand des KSf hingiebt, so gaukelt ihm seine Phantasie ein "Pascha¬
leben" als das höchste begehrenswerte Ziel vor Augen.**) Wie oft sieht man
nicht Türken in den Städten vor ihren Häusern den ganzen Tag faulenzend,
Cigaretten rauchend und Kaffee schlürfend am Boden hocken. Daher ge¬
hört es denn auch zu den Seltenheiten, daß sich ein Türke aus eigner That¬
kraft durch Handel oder Industrie ein Vermögen erwirbt. Meist ist der genüg¬
same Osmanly zufrieden, wenn er so viel erworben hat, wie er zu seinem be¬
quemen Lebensunterhalt nötig hat. Wegen der Zukunft macht er sich keine
Gedanken, mögen die Kinder sür sich selber sorgen. Handel und Gewerbe
ruhen deshalb überwiegend in den Händen der Griechen und Armenier, mit
deren angebornem Handelsgenie selbst die Juden nicht konkurriren können. Ich
möchte nach berühmten Mustern folgende Stufenleiter aufstellen: ein Jude ist
schlauer als zwei Türken, ein Grieche schlauer als zwei Juden, und ein Ar¬
menier schlauer als zwei Griechen.

Den griechischen und armenischen Kaufleuten ist es zu verdanken, daß sich
der Levantehandel neuerdings wieder zu hoher Blüte entwickelt hat, seitdem
mildere Gesetze eine freie Entfaltung der Kräfte ermöglichen. An der Handels¬
reichen Westküste Kleinasiens ist die türkische Bevölkerung in einem unaufhalt¬
samen Zurückweichen vor dem überlegnen Griechentum. Es läßt sich statistisch
verfolgen, wie hier die türkischen Ortschaften immer mehr zusammenschrumpfen,
ja ganz und gar aussterben und verschwinden, die griechischen dagegen immer¬
mehr zunehmen, an Boden gewinnen und weiterschreiten. Die Türken
werden mehr und mehr von der Küste in das Innere zurückgedrängt und bilden
die große Masse der Landbevölkerung. Auf der anatolischen Hochebne hat sich
das türkische Volkstum noch am unvermischtesten erhalten, hier wurzelt noch
am kräftigsten die türkische Volkskraft, und von hier rekrutirt sich der Kern des
türkischen Heeres.

Wenn ich aber auch die Abneigung des Türken gegen die Küste, das
Meer und den Handel hervorgehoben und den binnenländischen Charakter des
Türkentums betont habe, so muß ich doch der Vorstellung entgegentreten, als




Vgl. Pischon, Der Einfluß des Islam, S, 83 f.
**) A. Bono berichtet, daß es Türken gebe, die ein Ausstoßen bei Tisch -- das durchaus
nicht sür unanständig, sondern im Gegenteil als ein Kompliment sür den Wirt gilt -- mit
einem Wunsche begleiten, z> B, "Pascha zu sein."
Die Lage des türkischen Staates

Trümmer, die der Fanatismus seiner Vorfahren davon noch übrig gelassen
hat, hegt selbst der heutige Türke noch einen grenzenlosen Haß und tiefe Ver¬
achtung.*) Das Ideal jedes Türken ist die Erlangung eines einträglichen
Staatsamts. Das Bild, das sich unsre Phantasie von einem „Pascha" ent¬
wirft, kann als das typische Ideal des ganzen türkischen Volks gelten. Wenn
sich der Türke beim Tschybuk oder Nargileh in süßem Nichtsthun dem träume¬
rischen Zustand des KSf hingiebt, so gaukelt ihm seine Phantasie ein „Pascha¬
leben" als das höchste begehrenswerte Ziel vor Augen.**) Wie oft sieht man
nicht Türken in den Städten vor ihren Häusern den ganzen Tag faulenzend,
Cigaretten rauchend und Kaffee schlürfend am Boden hocken. Daher ge¬
hört es denn auch zu den Seltenheiten, daß sich ein Türke aus eigner That¬
kraft durch Handel oder Industrie ein Vermögen erwirbt. Meist ist der genüg¬
same Osmanly zufrieden, wenn er so viel erworben hat, wie er zu seinem be¬
quemen Lebensunterhalt nötig hat. Wegen der Zukunft macht er sich keine
Gedanken, mögen die Kinder sür sich selber sorgen. Handel und Gewerbe
ruhen deshalb überwiegend in den Händen der Griechen und Armenier, mit
deren angebornem Handelsgenie selbst die Juden nicht konkurriren können. Ich
möchte nach berühmten Mustern folgende Stufenleiter aufstellen: ein Jude ist
schlauer als zwei Türken, ein Grieche schlauer als zwei Juden, und ein Ar¬
menier schlauer als zwei Griechen.

Den griechischen und armenischen Kaufleuten ist es zu verdanken, daß sich
der Levantehandel neuerdings wieder zu hoher Blüte entwickelt hat, seitdem
mildere Gesetze eine freie Entfaltung der Kräfte ermöglichen. An der Handels¬
reichen Westküste Kleinasiens ist die türkische Bevölkerung in einem unaufhalt¬
samen Zurückweichen vor dem überlegnen Griechentum. Es läßt sich statistisch
verfolgen, wie hier die türkischen Ortschaften immer mehr zusammenschrumpfen,
ja ganz und gar aussterben und verschwinden, die griechischen dagegen immer¬
mehr zunehmen, an Boden gewinnen und weiterschreiten. Die Türken
werden mehr und mehr von der Küste in das Innere zurückgedrängt und bilden
die große Masse der Landbevölkerung. Auf der anatolischen Hochebne hat sich
das türkische Volkstum noch am unvermischtesten erhalten, hier wurzelt noch
am kräftigsten die türkische Volkskraft, und von hier rekrutirt sich der Kern des
türkischen Heeres.

Wenn ich aber auch die Abneigung des Türken gegen die Küste, das
Meer und den Handel hervorgehoben und den binnenländischen Charakter des
Türkentums betont habe, so muß ich doch der Vorstellung entgegentreten, als




Vgl. Pischon, Der Einfluß des Islam, S, 83 f.
**) A. Bono berichtet, daß es Türken gebe, die ein Ausstoßen bei Tisch — das durchaus
nicht sür unanständig, sondern im Gegenteil als ein Kompliment sür den Wirt gilt — mit
einem Wunsche begleiten, z> B, „Pascha zu sein."
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[0275] Die Lage des türkischen Staates Trümmer, die der Fanatismus seiner Vorfahren davon noch übrig gelassen hat, hegt selbst der heutige Türke noch einen grenzenlosen Haß und tiefe Ver¬ achtung.*) Das Ideal jedes Türken ist die Erlangung eines einträglichen Staatsamts. Das Bild, das sich unsre Phantasie von einem „Pascha" ent¬ wirft, kann als das typische Ideal des ganzen türkischen Volks gelten. Wenn sich der Türke beim Tschybuk oder Nargileh in süßem Nichtsthun dem träume¬ rischen Zustand des KSf hingiebt, so gaukelt ihm seine Phantasie ein „Pascha¬ leben" als das höchste begehrenswerte Ziel vor Augen.**) Wie oft sieht man nicht Türken in den Städten vor ihren Häusern den ganzen Tag faulenzend, Cigaretten rauchend und Kaffee schlürfend am Boden hocken. Daher ge¬ hört es denn auch zu den Seltenheiten, daß sich ein Türke aus eigner That¬ kraft durch Handel oder Industrie ein Vermögen erwirbt. Meist ist der genüg¬ same Osmanly zufrieden, wenn er so viel erworben hat, wie er zu seinem be¬ quemen Lebensunterhalt nötig hat. Wegen der Zukunft macht er sich keine Gedanken, mögen die Kinder sür sich selber sorgen. Handel und Gewerbe ruhen deshalb überwiegend in den Händen der Griechen und Armenier, mit deren angebornem Handelsgenie selbst die Juden nicht konkurriren können. Ich möchte nach berühmten Mustern folgende Stufenleiter aufstellen: ein Jude ist schlauer als zwei Türken, ein Grieche schlauer als zwei Juden, und ein Ar¬ menier schlauer als zwei Griechen. Den griechischen und armenischen Kaufleuten ist es zu verdanken, daß sich der Levantehandel neuerdings wieder zu hoher Blüte entwickelt hat, seitdem mildere Gesetze eine freie Entfaltung der Kräfte ermöglichen. An der Handels¬ reichen Westküste Kleinasiens ist die türkische Bevölkerung in einem unaufhalt¬ samen Zurückweichen vor dem überlegnen Griechentum. Es läßt sich statistisch verfolgen, wie hier die türkischen Ortschaften immer mehr zusammenschrumpfen, ja ganz und gar aussterben und verschwinden, die griechischen dagegen immer¬ mehr zunehmen, an Boden gewinnen und weiterschreiten. Die Türken werden mehr und mehr von der Küste in das Innere zurückgedrängt und bilden die große Masse der Landbevölkerung. Auf der anatolischen Hochebne hat sich das türkische Volkstum noch am unvermischtesten erhalten, hier wurzelt noch am kräftigsten die türkische Volkskraft, und von hier rekrutirt sich der Kern des türkischen Heeres. Wenn ich aber auch die Abneigung des Türken gegen die Küste, das Meer und den Handel hervorgehoben und den binnenländischen Charakter des Türkentums betont habe, so muß ich doch der Vorstellung entgegentreten, als Vgl. Pischon, Der Einfluß des Islam, S, 83 f. **) A. Bono berichtet, daß es Türken gebe, die ein Ausstoßen bei Tisch — das durchaus nicht sür unanständig, sondern im Gegenteil als ein Kompliment sür den Wirt gilt — mit einem Wunsche begleiten, z> B, „Pascha zu sein."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/275>, abgerufen am 17.06.2024.