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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

ob das türkische Volk nun ein hervorragend ackerbautreibendes Volk wäre.
Diese Vorstellung wäre grundfalsch. Schon der hohe Steuerdruck muß jedes
Aufblühen der Landwirtschaft im Keime ersticken. Die Negierung erhält den
Zehnten von allen Bodenprodnkten, aber durch die gewissenlosen Erpressungen
der Steuerpächter, die die gesetzliche Bestimmung ausbeuten, daß die Ernte so
lange auf dem Dreschplatz zu lassen ist, bis die Steuer eingeschützt und ab¬
geholt ist, wird sie noch um reichlich 3 Prozent hinaufgeschraubt. Aber die
Türken sind auch von Natur kein ackerbautreibendes Volk. Der Ackerbau ist
ihnen immer etwas fremdes, ihren Neigungen widersprechendes geblieben. Sie
haben ihn bei der Eroberung des Landes von den unterworfnen Völkerschaften
angenommen und seitdem nicht einen einzigen Fortschritt, nicht eine einzige
Verbesserung gemacht. Ihr Pflug ist ein geradezu vorsündflutliches Ackergerät.
Dernschwam hat ihn auf uralten kleinasiatischen Grabsteinen abgebildet ge¬
funden. Dieser Pflug ritzt den Boden nur oberflächlich auf und ist völlig
ungeeignet, die Ertragsfähigkeit des Landes auszunutzen. Wenn trotzdem der
Boden dem anatolischen Bauer seine geringe Mühe überreich lohnt, so ist das
nur ein Beweis sür die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes. Ist es
doch einst die Kornkammer des römischen Kaiserreichs gewesen! Von einer ver¬
nünftigen Bodenkultur, von einer Steigerung der Ertragsfähigkeit durch Düngen
ist keine Rede; im Innern Anatoliens ist das Düngen so gut wie unbekannt.
Gedroschen wird in der Weise, wie wir es von den jüdischen Erzvätern aus
der Bibel kennen, wo geschrieben steht: "Du sollst dem Ochsen, der da drischet,
nicht das Maul verbinden!" Als Erntewagen dient ein zweirüdriger Büffel¬
karren, wie ihn wahrscheinlich schon die Stammväter der Türken vor Jahr¬
tausenden in den asiatischen Steppen mit sich geführt haben. Jetzt haben die
Türken zwar längst ihr asiatisches Nomadenleben aufgegeben und sind ansässig
geworden, aber ein gewisser nomadenhafter Zug ist diesen Söhnen der Steppe
immer geblieben, dieses überkonservative Volk ist mit seinen tief eingewurzelten
Neigungen ein Hirtenvolk geblieben. Ihre Herden sind ihr Reichtum und ihr
Stolz, sie geben ihnen Nahrung und Kleidung, sie sind ihr alles. Ihrer Herden
wegen ziehen die anatolischen Türken -- besonders die Turkmenen -- großen¬
teils noch heute, wie ehedem in Asien, im Sommer fröhlich hinauf in ihr Berg¬
dorf und erst zum Winter wieder herab in das geschützte Thaldorf, wo sie sich
mit Weben und Spinnen beschäftigen. So ist in gewissem Sinne auch heute
noch das anatolische Hochlandleben der Türken halbnomadisch. In ununter-
brochnem Wechsel wogt es auf und nieder, regelmüßig wie die Ebbe und Flut
des Meeres. So gering aber bei den Türken Neigung und Verständnis für
den Ackerbau sind, so groß ist ihre Freude am Gartenbau. Mit liebevollem
Fleiß und vieler Mühe wissen sie in sonst wüsten und kahlen Gegenden wahre
Oasen hervorzuzaubern. Oft genug hat der Reisende Gelegenheit, ihre kilo¬
meterlangen Wasserleitungen zu bewundern, und am Kysyl Jrmak und andern


Die Lage des türkischen Staates

ob das türkische Volk nun ein hervorragend ackerbautreibendes Volk wäre.
Diese Vorstellung wäre grundfalsch. Schon der hohe Steuerdruck muß jedes
Aufblühen der Landwirtschaft im Keime ersticken. Die Negierung erhält den
Zehnten von allen Bodenprodnkten, aber durch die gewissenlosen Erpressungen
der Steuerpächter, die die gesetzliche Bestimmung ausbeuten, daß die Ernte so
lange auf dem Dreschplatz zu lassen ist, bis die Steuer eingeschützt und ab¬
geholt ist, wird sie noch um reichlich 3 Prozent hinaufgeschraubt. Aber die
Türken sind auch von Natur kein ackerbautreibendes Volk. Der Ackerbau ist
ihnen immer etwas fremdes, ihren Neigungen widersprechendes geblieben. Sie
haben ihn bei der Eroberung des Landes von den unterworfnen Völkerschaften
angenommen und seitdem nicht einen einzigen Fortschritt, nicht eine einzige
Verbesserung gemacht. Ihr Pflug ist ein geradezu vorsündflutliches Ackergerät.
Dernschwam hat ihn auf uralten kleinasiatischen Grabsteinen abgebildet ge¬
funden. Dieser Pflug ritzt den Boden nur oberflächlich auf und ist völlig
ungeeignet, die Ertragsfähigkeit des Landes auszunutzen. Wenn trotzdem der
Boden dem anatolischen Bauer seine geringe Mühe überreich lohnt, so ist das
nur ein Beweis sür die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes. Ist es
doch einst die Kornkammer des römischen Kaiserreichs gewesen! Von einer ver¬
nünftigen Bodenkultur, von einer Steigerung der Ertragsfähigkeit durch Düngen
ist keine Rede; im Innern Anatoliens ist das Düngen so gut wie unbekannt.
Gedroschen wird in der Weise, wie wir es von den jüdischen Erzvätern aus
der Bibel kennen, wo geschrieben steht: „Du sollst dem Ochsen, der da drischet,
nicht das Maul verbinden!" Als Erntewagen dient ein zweirüdriger Büffel¬
karren, wie ihn wahrscheinlich schon die Stammväter der Türken vor Jahr¬
tausenden in den asiatischen Steppen mit sich geführt haben. Jetzt haben die
Türken zwar längst ihr asiatisches Nomadenleben aufgegeben und sind ansässig
geworden, aber ein gewisser nomadenhafter Zug ist diesen Söhnen der Steppe
immer geblieben, dieses überkonservative Volk ist mit seinen tief eingewurzelten
Neigungen ein Hirtenvolk geblieben. Ihre Herden sind ihr Reichtum und ihr
Stolz, sie geben ihnen Nahrung und Kleidung, sie sind ihr alles. Ihrer Herden
wegen ziehen die anatolischen Türken — besonders die Turkmenen — großen¬
teils noch heute, wie ehedem in Asien, im Sommer fröhlich hinauf in ihr Berg¬
dorf und erst zum Winter wieder herab in das geschützte Thaldorf, wo sie sich
mit Weben und Spinnen beschäftigen. So ist in gewissem Sinne auch heute
noch das anatolische Hochlandleben der Türken halbnomadisch. In ununter-
brochnem Wechsel wogt es auf und nieder, regelmüßig wie die Ebbe und Flut
des Meeres. So gering aber bei den Türken Neigung und Verständnis für
den Ackerbau sind, so groß ist ihre Freude am Gartenbau. Mit liebevollem
Fleiß und vieler Mühe wissen sie in sonst wüsten und kahlen Gegenden wahre
Oasen hervorzuzaubern. Oft genug hat der Reisende Gelegenheit, ihre kilo¬
meterlangen Wasserleitungen zu bewundern, und am Kysyl Jrmak und andern


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[0276] Die Lage des türkischen Staates ob das türkische Volk nun ein hervorragend ackerbautreibendes Volk wäre. Diese Vorstellung wäre grundfalsch. Schon der hohe Steuerdruck muß jedes Aufblühen der Landwirtschaft im Keime ersticken. Die Negierung erhält den Zehnten von allen Bodenprodnkten, aber durch die gewissenlosen Erpressungen der Steuerpächter, die die gesetzliche Bestimmung ausbeuten, daß die Ernte so lange auf dem Dreschplatz zu lassen ist, bis die Steuer eingeschützt und ab¬ geholt ist, wird sie noch um reichlich 3 Prozent hinaufgeschraubt. Aber die Türken sind auch von Natur kein ackerbautreibendes Volk. Der Ackerbau ist ihnen immer etwas fremdes, ihren Neigungen widersprechendes geblieben. Sie haben ihn bei der Eroberung des Landes von den unterworfnen Völkerschaften angenommen und seitdem nicht einen einzigen Fortschritt, nicht eine einzige Verbesserung gemacht. Ihr Pflug ist ein geradezu vorsündflutliches Ackergerät. Dernschwam hat ihn auf uralten kleinasiatischen Grabsteinen abgebildet ge¬ funden. Dieser Pflug ritzt den Boden nur oberflächlich auf und ist völlig ungeeignet, die Ertragsfähigkeit des Landes auszunutzen. Wenn trotzdem der Boden dem anatolischen Bauer seine geringe Mühe überreich lohnt, so ist das nur ein Beweis sür die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes. Ist es doch einst die Kornkammer des römischen Kaiserreichs gewesen! Von einer ver¬ nünftigen Bodenkultur, von einer Steigerung der Ertragsfähigkeit durch Düngen ist keine Rede; im Innern Anatoliens ist das Düngen so gut wie unbekannt. Gedroschen wird in der Weise, wie wir es von den jüdischen Erzvätern aus der Bibel kennen, wo geschrieben steht: „Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden!" Als Erntewagen dient ein zweirüdriger Büffel¬ karren, wie ihn wahrscheinlich schon die Stammväter der Türken vor Jahr¬ tausenden in den asiatischen Steppen mit sich geführt haben. Jetzt haben die Türken zwar längst ihr asiatisches Nomadenleben aufgegeben und sind ansässig geworden, aber ein gewisser nomadenhafter Zug ist diesen Söhnen der Steppe immer geblieben, dieses überkonservative Volk ist mit seinen tief eingewurzelten Neigungen ein Hirtenvolk geblieben. Ihre Herden sind ihr Reichtum und ihr Stolz, sie geben ihnen Nahrung und Kleidung, sie sind ihr alles. Ihrer Herden wegen ziehen die anatolischen Türken — besonders die Turkmenen — großen¬ teils noch heute, wie ehedem in Asien, im Sommer fröhlich hinauf in ihr Berg¬ dorf und erst zum Winter wieder herab in das geschützte Thaldorf, wo sie sich mit Weben und Spinnen beschäftigen. So ist in gewissem Sinne auch heute noch das anatolische Hochlandleben der Türken halbnomadisch. In ununter- brochnem Wechsel wogt es auf und nieder, regelmüßig wie die Ebbe und Flut des Meeres. So gering aber bei den Türken Neigung und Verständnis für den Ackerbau sind, so groß ist ihre Freude am Gartenbau. Mit liebevollem Fleiß und vieler Mühe wissen sie in sonst wüsten und kahlen Gegenden wahre Oasen hervorzuzaubern. Oft genug hat der Reisende Gelegenheit, ihre kilo¬ meterlangen Wasserleitungen zu bewundern, und am Kysyl Jrmak und andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/276>, abgerufen am 17.06.2024.