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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

Flüssen trifft man allerorten jene sinnreichen Schöpfrüder an, die das Wasser
fortdauernd über das hohe Flußufer hinweg in die Gärten leiten.

Das soziale Leben der Türken ist vor allem durch ihre Religion beein¬
flußt und gestaltet worden; denn der Islam ist, wie kaum eine andre Religion,
auch eine ausgesprochne soziale Gesetzgebung. Es muß anerkannt werden, daß
der Koran in vieler Beziehung und in hohem Maße veredelnd eingewirkt hat,
besonders auf die Rechtschaffenheit, die Mildthätigkeit und die Gastfreundschaft.
Aber andrerseits hat er doch auch die schlimmsten sittlichen Schäden gro߬
gezogen, besonders in einem Punkte, in der sozialen Stellung der Frauen.
Während im ganzen übrigen Europa die Stellung der Frauen an sich schon
ungleich höher war und in neuerer Zeit wieder große Fortschritte gemacht hat,
bleibt das Leben der türkischen Frauen, von alledem unberührt, in dem Sumpfe
der alten sklavischen Abhängigkeit, unwürdigen Unfreiheit und wahrhaft be¬
dauernswerten Bildungsarmut stecken. Es ist das ein Punkt, der auch schon
von vielen vorurteilsfreien und aufgeklärten Türken schmerzlich empfunden und
anerkannt wird, der geradezu ein Notstand geworden ist, und an dem ein künf¬
tiger Reformator vor allem den Hebel ansetzen müßte. Die Frau ist ein bloßer
Handels- und Luxusartikel, von dem sich der Reiche mehr und schönere Exem¬
plare zulegen kann, der Arme weniger, sie gilt als ein tief unter dem Manne
stehendes Geschöpf, das nur zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit geschaffen ist,
mit dem der Mann weder zusammen speisen noch zusammen ausgehen kann,
und das nach dem Koran sogar keine unsterbliche Seele hat, die der himm¬
lischen Freuden teilhaftig werden kann. Die durch den Koran gestattete Viel¬
weiberei ist, weil sie wegen ihrer Kostspieligkeit nur selten vorkommt, nicht
die verderblichste Seite der türkischen Frauenfrage, sondern das Hauptübel ist
die Leichtigkeit der Ehescheidungen. Das eine Wort vaolllÄd, d. i. "deinen
Rücken (will ich sehen)!" genügt, und jeder Kady scheidet nach Ablauf der
Bedenkzeit für 40 Piaster (7 Mark). Mit dieser Erlaubnis (die jedoch nur
dem Manne zusteht) wird ein weit verbreiteter und in seinen Folgen geradezu
entsittlichender Mißbrauch getrieben. "Unter den Türken giebt es Männer,
die sich fünfzehn- bis zwanzigmal nach einander verheiraten." Erst wenn die
Frau ihrem Manne einen Sohn geboren hat, ist sie einigermaßen gegen eine
Ehescheidung gesichert. Um das traurige Gemälde zu vollenden, sei auch noch
die Kinderlosigkeit der türkischen Ehen erwähnt, die ein wahrhaft erschreckendes
Aussterben der türkischen Bevölkerung, besonders an den Küsten, zur Folge
hat. "Keinem Reisenden in der Türkei, sagt Pischon. kann der Abstand zwischen
der Menge fröhlicher Kinder in griechischen, bulgarischen, syrischen, armenischen
Städten, Quartieren und Dörfern und der geringen Anzahl der Türkenkinder
entgehen." Als Ursachen sind anzusehen die Entnervung der Männer durch
das Haremsleben und durch die Häufigkeit der Eheschließungen, sowie die Ab¬
neigung der Eltern gegen die Sorgen eines zu reichen Kindersegens; nach


Die Lage des türkischen Staates

Flüssen trifft man allerorten jene sinnreichen Schöpfrüder an, die das Wasser
fortdauernd über das hohe Flußufer hinweg in die Gärten leiten.

Das soziale Leben der Türken ist vor allem durch ihre Religion beein¬
flußt und gestaltet worden; denn der Islam ist, wie kaum eine andre Religion,
auch eine ausgesprochne soziale Gesetzgebung. Es muß anerkannt werden, daß
der Koran in vieler Beziehung und in hohem Maße veredelnd eingewirkt hat,
besonders auf die Rechtschaffenheit, die Mildthätigkeit und die Gastfreundschaft.
Aber andrerseits hat er doch auch die schlimmsten sittlichen Schäden gro߬
gezogen, besonders in einem Punkte, in der sozialen Stellung der Frauen.
Während im ganzen übrigen Europa die Stellung der Frauen an sich schon
ungleich höher war und in neuerer Zeit wieder große Fortschritte gemacht hat,
bleibt das Leben der türkischen Frauen, von alledem unberührt, in dem Sumpfe
der alten sklavischen Abhängigkeit, unwürdigen Unfreiheit und wahrhaft be¬
dauernswerten Bildungsarmut stecken. Es ist das ein Punkt, der auch schon
von vielen vorurteilsfreien und aufgeklärten Türken schmerzlich empfunden und
anerkannt wird, der geradezu ein Notstand geworden ist, und an dem ein künf¬
tiger Reformator vor allem den Hebel ansetzen müßte. Die Frau ist ein bloßer
Handels- und Luxusartikel, von dem sich der Reiche mehr und schönere Exem¬
plare zulegen kann, der Arme weniger, sie gilt als ein tief unter dem Manne
stehendes Geschöpf, das nur zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit geschaffen ist,
mit dem der Mann weder zusammen speisen noch zusammen ausgehen kann,
und das nach dem Koran sogar keine unsterbliche Seele hat, die der himm¬
lischen Freuden teilhaftig werden kann. Die durch den Koran gestattete Viel¬
weiberei ist, weil sie wegen ihrer Kostspieligkeit nur selten vorkommt, nicht
die verderblichste Seite der türkischen Frauenfrage, sondern das Hauptübel ist
die Leichtigkeit der Ehescheidungen. Das eine Wort vaolllÄd, d. i. „deinen
Rücken (will ich sehen)!" genügt, und jeder Kady scheidet nach Ablauf der
Bedenkzeit für 40 Piaster (7 Mark). Mit dieser Erlaubnis (die jedoch nur
dem Manne zusteht) wird ein weit verbreiteter und in seinen Folgen geradezu
entsittlichender Mißbrauch getrieben. „Unter den Türken giebt es Männer,
die sich fünfzehn- bis zwanzigmal nach einander verheiraten." Erst wenn die
Frau ihrem Manne einen Sohn geboren hat, ist sie einigermaßen gegen eine
Ehescheidung gesichert. Um das traurige Gemälde zu vollenden, sei auch noch
die Kinderlosigkeit der türkischen Ehen erwähnt, die ein wahrhaft erschreckendes
Aussterben der türkischen Bevölkerung, besonders an den Küsten, zur Folge
hat. „Keinem Reisenden in der Türkei, sagt Pischon. kann der Abstand zwischen
der Menge fröhlicher Kinder in griechischen, bulgarischen, syrischen, armenischen
Städten, Quartieren und Dörfern und der geringen Anzahl der Türkenkinder
entgehen." Als Ursachen sind anzusehen die Entnervung der Männer durch
das Haremsleben und durch die Häufigkeit der Eheschließungen, sowie die Ab¬
neigung der Eltern gegen die Sorgen eines zu reichen Kindersegens; nach


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[0277] Die Lage des türkischen Staates Flüssen trifft man allerorten jene sinnreichen Schöpfrüder an, die das Wasser fortdauernd über das hohe Flußufer hinweg in die Gärten leiten. Das soziale Leben der Türken ist vor allem durch ihre Religion beein¬ flußt und gestaltet worden; denn der Islam ist, wie kaum eine andre Religion, auch eine ausgesprochne soziale Gesetzgebung. Es muß anerkannt werden, daß der Koran in vieler Beziehung und in hohem Maße veredelnd eingewirkt hat, besonders auf die Rechtschaffenheit, die Mildthätigkeit und die Gastfreundschaft. Aber andrerseits hat er doch auch die schlimmsten sittlichen Schäden gro߬ gezogen, besonders in einem Punkte, in der sozialen Stellung der Frauen. Während im ganzen übrigen Europa die Stellung der Frauen an sich schon ungleich höher war und in neuerer Zeit wieder große Fortschritte gemacht hat, bleibt das Leben der türkischen Frauen, von alledem unberührt, in dem Sumpfe der alten sklavischen Abhängigkeit, unwürdigen Unfreiheit und wahrhaft be¬ dauernswerten Bildungsarmut stecken. Es ist das ein Punkt, der auch schon von vielen vorurteilsfreien und aufgeklärten Türken schmerzlich empfunden und anerkannt wird, der geradezu ein Notstand geworden ist, und an dem ein künf¬ tiger Reformator vor allem den Hebel ansetzen müßte. Die Frau ist ein bloßer Handels- und Luxusartikel, von dem sich der Reiche mehr und schönere Exem¬ plare zulegen kann, der Arme weniger, sie gilt als ein tief unter dem Manne stehendes Geschöpf, das nur zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit geschaffen ist, mit dem der Mann weder zusammen speisen noch zusammen ausgehen kann, und das nach dem Koran sogar keine unsterbliche Seele hat, die der himm¬ lischen Freuden teilhaftig werden kann. Die durch den Koran gestattete Viel¬ weiberei ist, weil sie wegen ihrer Kostspieligkeit nur selten vorkommt, nicht die verderblichste Seite der türkischen Frauenfrage, sondern das Hauptübel ist die Leichtigkeit der Ehescheidungen. Das eine Wort vaolllÄd, d. i. „deinen Rücken (will ich sehen)!" genügt, und jeder Kady scheidet nach Ablauf der Bedenkzeit für 40 Piaster (7 Mark). Mit dieser Erlaubnis (die jedoch nur dem Manne zusteht) wird ein weit verbreiteter und in seinen Folgen geradezu entsittlichender Mißbrauch getrieben. „Unter den Türken giebt es Männer, die sich fünfzehn- bis zwanzigmal nach einander verheiraten." Erst wenn die Frau ihrem Manne einen Sohn geboren hat, ist sie einigermaßen gegen eine Ehescheidung gesichert. Um das traurige Gemälde zu vollenden, sei auch noch die Kinderlosigkeit der türkischen Ehen erwähnt, die ein wahrhaft erschreckendes Aussterben der türkischen Bevölkerung, besonders an den Küsten, zur Folge hat. „Keinem Reisenden in der Türkei, sagt Pischon. kann der Abstand zwischen der Menge fröhlicher Kinder in griechischen, bulgarischen, syrischen, armenischen Städten, Quartieren und Dörfern und der geringen Anzahl der Türkenkinder entgehen." Als Ursachen sind anzusehen die Entnervung der Männer durch das Haremsleben und durch die Häufigkeit der Eheschließungen, sowie die Ab¬ neigung der Eltern gegen die Sorgen eines zu reichen Kindersegens; nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/277>, abgerufen am 17.06.2024.