Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue deutsche Lvik

Wie dem ländlichen Manne des wackern I. H. Boß, der den erblühten
Apfelbaum "voll rötlicher Sträuße, beglänzt vom Golde des Abends," be¬
trachtet, so wird uns zu Mute, wenn wir aus solchem und ähnlichem Ge¬
strüpp zu einem wirklichen Gedicht kommen, zu dem frischen und anmutigen
Idyll Bin der Schwärmer von I. V. Widmann (Frauenfeld, I. Huber,
1896). Es ist ein Nichts von einer Handlung, ein kleines Erlebnis eines
studentischen Poeten, "ein Nektarschnlchen Jugendmorgenrot." Bin (d. i. Sa-
binns) der Schwärmer wird beim Anblick jedes hübschen Mädchens vom
Liebespfeil getroffen, aber der Schmerz des Pfeils, das sehnende Verlangen
geht ihm jederzeit "in ein vergnügtes schweigendes Betrachten des Abenteuers,
das er hier erlebt," über:

Auf der Reise zur Hochzeit eines Freundes hat ihn wieder einmal vor
einem Parkthore beim Anblick eines entzückenden vierzehnjährigen Kindes, das
"Hirschjagd" spielte, ein leichter Pfeil getroffen. Höchst selbstzufrieden versucht
er sein Gefühl zu wiegen, erliegt aber beim Hochzeitsfeste selbst augenblicklich
dem Zauber einer schönen, jungen Witwe, die als unerwarteter Gast bei der
Hochzeit erscheint, die ihn entzückt und ihn zu einer feurigen poetischen Im¬
provisation begeistert, mit der er beim Pfänderspiele süße Blicke und Küsse
tauscht, der er aber beim nächsten Morgengrauen, von moralischem Katzen¬
jammer erfaßt, zu Fuß entflieht, damit ihn die reizende Frau nicht, wie ver¬
abredet, in ihrem Wagen heimführen könne. Er will sich nun gewaltsam in seine
erste Empfindung für den entzückenden Backfisch am Parkthore zurückschrauben,
versteht nicht, wie ihm trotz seines ethischen Pathos allmählich die Bilder der
schönen Frau und des jungen Mädchens zusammenfließen, wird gegen Abend
von der schönen Frau von gestern eingeholt und sträubt sich nicht länger gegen
die Mitfahrt und das Abendessen in dem Landhause der Dame. Als man sich
aber an den für drei gedeckten Tisch setzt, erfolgt ein Donnerschlag: Frau
Diotima, wie sie der Freund genannt hat, stellt ihm ihr Töchterlein Sibhlle
vor, Bin erkennt mit Entsetzen die Angebetete von vorgestern neben der Un¬
gebeten von gestern, er sitzt beiden Damen errötend und erschüttert gegenüber,
die kluge Frau errät sofort den wahren Zusammenhang, und sie spürt bei dem
Spaß an der Sache auch ein ernstes Mahnen, wobei ihr etwas seltsam zu
Mute ist:


Neue deutsche Lvik

Wie dem ländlichen Manne des wackern I. H. Boß, der den erblühten
Apfelbaum „voll rötlicher Sträuße, beglänzt vom Golde des Abends," be¬
trachtet, so wird uns zu Mute, wenn wir aus solchem und ähnlichem Ge¬
strüpp zu einem wirklichen Gedicht kommen, zu dem frischen und anmutigen
Idyll Bin der Schwärmer von I. V. Widmann (Frauenfeld, I. Huber,
1896). Es ist ein Nichts von einer Handlung, ein kleines Erlebnis eines
studentischen Poeten, „ein Nektarschnlchen Jugendmorgenrot." Bin (d. i. Sa-
binns) der Schwärmer wird beim Anblick jedes hübschen Mädchens vom
Liebespfeil getroffen, aber der Schmerz des Pfeils, das sehnende Verlangen
geht ihm jederzeit „in ein vergnügtes schweigendes Betrachten des Abenteuers,
das er hier erlebt," über:

Auf der Reise zur Hochzeit eines Freundes hat ihn wieder einmal vor
einem Parkthore beim Anblick eines entzückenden vierzehnjährigen Kindes, das
„Hirschjagd" spielte, ein leichter Pfeil getroffen. Höchst selbstzufrieden versucht
er sein Gefühl zu wiegen, erliegt aber beim Hochzeitsfeste selbst augenblicklich
dem Zauber einer schönen, jungen Witwe, die als unerwarteter Gast bei der
Hochzeit erscheint, die ihn entzückt und ihn zu einer feurigen poetischen Im¬
provisation begeistert, mit der er beim Pfänderspiele süße Blicke und Küsse
tauscht, der er aber beim nächsten Morgengrauen, von moralischem Katzen¬
jammer erfaßt, zu Fuß entflieht, damit ihn die reizende Frau nicht, wie ver¬
abredet, in ihrem Wagen heimführen könne. Er will sich nun gewaltsam in seine
erste Empfindung für den entzückenden Backfisch am Parkthore zurückschrauben,
versteht nicht, wie ihm trotz seines ethischen Pathos allmählich die Bilder der
schönen Frau und des jungen Mädchens zusammenfließen, wird gegen Abend
von der schönen Frau von gestern eingeholt und sträubt sich nicht länger gegen
die Mitfahrt und das Abendessen in dem Landhause der Dame. Als man sich
aber an den für drei gedeckten Tisch setzt, erfolgt ein Donnerschlag: Frau
Diotima, wie sie der Freund genannt hat, stellt ihm ihr Töchterlein Sibhlle
vor, Bin erkennt mit Entsetzen die Angebetete von vorgestern neben der Un¬
gebeten von gestern, er sitzt beiden Damen errötend und erschüttert gegenüber,
die kluge Frau errät sofort den wahren Zusammenhang, und sie spürt bei dem
Spaß an der Sache auch ein ernstes Mahnen, wobei ihr etwas seltsam zu
Mute ist:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222683"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue deutsche Lvik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1107"> Wie dem ländlichen Manne des wackern I. H. Boß, der den erblühten<lb/>
Apfelbaum &#x201E;voll rötlicher Sträuße, beglänzt vom Golde des Abends," be¬<lb/>
trachtet, so wird uns zu Mute, wenn wir aus solchem und ähnlichem Ge¬<lb/>
strüpp zu einem wirklichen Gedicht kommen, zu dem frischen und anmutigen<lb/>
Idyll Bin der Schwärmer von I. V. Widmann (Frauenfeld, I. Huber,<lb/>
1896). Es ist ein Nichts von einer Handlung, ein kleines Erlebnis eines<lb/>
studentischen Poeten, &#x201E;ein Nektarschnlchen Jugendmorgenrot." Bin (d. i. Sa-<lb/>
binns) der Schwärmer wird beim Anblick jedes hübschen Mädchens vom<lb/>
Liebespfeil getroffen, aber der Schmerz des Pfeils, das sehnende Verlangen<lb/>
geht ihm jederzeit &#x201E;in ein vergnügtes schweigendes Betrachten des Abenteuers,<lb/>
das er hier erlebt," über:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_16" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1108"> Auf der Reise zur Hochzeit eines Freundes hat ihn wieder einmal vor<lb/>
einem Parkthore beim Anblick eines entzückenden vierzehnjährigen Kindes, das<lb/>
&#x201E;Hirschjagd" spielte, ein leichter Pfeil getroffen. Höchst selbstzufrieden versucht<lb/>
er sein Gefühl zu wiegen, erliegt aber beim Hochzeitsfeste selbst augenblicklich<lb/>
dem Zauber einer schönen, jungen Witwe, die als unerwarteter Gast bei der<lb/>
Hochzeit erscheint, die ihn entzückt und ihn zu einer feurigen poetischen Im¬<lb/>
provisation begeistert, mit der er beim Pfänderspiele süße Blicke und Küsse<lb/>
tauscht, der er aber beim nächsten Morgengrauen, von moralischem Katzen¬<lb/>
jammer erfaßt, zu Fuß entflieht, damit ihn die reizende Frau nicht, wie ver¬<lb/>
abredet, in ihrem Wagen heimführen könne. Er will sich nun gewaltsam in seine<lb/>
erste Empfindung für den entzückenden Backfisch am Parkthore zurückschrauben,<lb/>
versteht nicht, wie ihm trotz seines ethischen Pathos allmählich die Bilder der<lb/>
schönen Frau und des jungen Mädchens zusammenfließen, wird gegen Abend<lb/>
von der schönen Frau von gestern eingeholt und sträubt sich nicht länger gegen<lb/>
die Mitfahrt und das Abendessen in dem Landhause der Dame. Als man sich<lb/>
aber an den für drei gedeckten Tisch setzt, erfolgt ein Donnerschlag: Frau<lb/>
Diotima, wie sie der Freund genannt hat, stellt ihm ihr Töchterlein Sibhlle<lb/>
vor, Bin erkennt mit Entsetzen die Angebetete von vorgestern neben der Un¬<lb/>
gebeten von gestern, er sitzt beiden Damen errötend und erschüttert gegenüber,<lb/>
die kluge Frau errät sofort den wahren Zusammenhang, und sie spürt bei dem<lb/>
Spaß an der Sache auch ein ernstes Mahnen, wobei ihr etwas seltsam zu<lb/>
Mute ist:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] Neue deutsche Lvik Wie dem ländlichen Manne des wackern I. H. Boß, der den erblühten Apfelbaum „voll rötlicher Sträuße, beglänzt vom Golde des Abends," be¬ trachtet, so wird uns zu Mute, wenn wir aus solchem und ähnlichem Ge¬ strüpp zu einem wirklichen Gedicht kommen, zu dem frischen und anmutigen Idyll Bin der Schwärmer von I. V. Widmann (Frauenfeld, I. Huber, 1896). Es ist ein Nichts von einer Handlung, ein kleines Erlebnis eines studentischen Poeten, „ein Nektarschnlchen Jugendmorgenrot." Bin (d. i. Sa- binns) der Schwärmer wird beim Anblick jedes hübschen Mädchens vom Liebespfeil getroffen, aber der Schmerz des Pfeils, das sehnende Verlangen geht ihm jederzeit „in ein vergnügtes schweigendes Betrachten des Abenteuers, das er hier erlebt," über: Auf der Reise zur Hochzeit eines Freundes hat ihn wieder einmal vor einem Parkthore beim Anblick eines entzückenden vierzehnjährigen Kindes, das „Hirschjagd" spielte, ein leichter Pfeil getroffen. Höchst selbstzufrieden versucht er sein Gefühl zu wiegen, erliegt aber beim Hochzeitsfeste selbst augenblicklich dem Zauber einer schönen, jungen Witwe, die als unerwarteter Gast bei der Hochzeit erscheint, die ihn entzückt und ihn zu einer feurigen poetischen Im¬ provisation begeistert, mit der er beim Pfänderspiele süße Blicke und Küsse tauscht, der er aber beim nächsten Morgengrauen, von moralischem Katzen¬ jammer erfaßt, zu Fuß entflieht, damit ihn die reizende Frau nicht, wie ver¬ abredet, in ihrem Wagen heimführen könne. Er will sich nun gewaltsam in seine erste Empfindung für den entzückenden Backfisch am Parkthore zurückschrauben, versteht nicht, wie ihm trotz seines ethischen Pathos allmählich die Bilder der schönen Frau und des jungen Mädchens zusammenfließen, wird gegen Abend von der schönen Frau von gestern eingeholt und sträubt sich nicht länger gegen die Mitfahrt und das Abendessen in dem Landhause der Dame. Als man sich aber an den für drei gedeckten Tisch setzt, erfolgt ein Donnerschlag: Frau Diotima, wie sie der Freund genannt hat, stellt ihm ihr Töchterlein Sibhlle vor, Bin erkennt mit Entsetzen die Angebetete von vorgestern neben der Un¬ gebeten von gestern, er sitzt beiden Damen errötend und erschüttert gegenüber, die kluge Frau errät sofort den wahren Zusammenhang, und sie spürt bei dem Spaß an der Sache auch ein ernstes Mahnen, wobei ihr etwas seltsam zu Mute ist:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/379>, abgerufen am 17.06.2024.