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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Politische Pastoren

in der Sozialpolitik, auf dessen Wiederherstellung wir in Deutschland, und in
gewissem Sinne mit Recht, so stolz sind, ganz und gar entwerten, denn wo es sich
um praktisches Christentum handelt, da hat doch vor allem auch die christliche
Kirche und die christliche Geistlichkeit ein Wort mit zu reden. Sie soll dem
Kaiser geben, was des Kaisers ist, gewiß, aber auch Gotte, was Gottes ist,
und sie wäre unwürdig ihres erhabnen Amts, wenn sie nicht auch dann den
Mund aufthäte, wenn die Staatsgewalt mit ihren Organen, mit ihrem ganzen
"Thun" und "Lassen" in der nationalen Rechts-, Wirtschafts- und Gesell¬
schaftsordnung in Bahnen hineingerät, die der sittlichen Weltordnung wieder¬
sprechen. Im "Lassen" in der Politik hat man ja, wie viele auch wieder mit
Recht behaupten, bis in die jüngste Vergangenheit bei uns viel gesündigt, und
wenn Geistliche gegen diese politischen Sünden angekämpft haben, so war das
doch, von der Form, in der es geschah, und etwaigen Begleitmotiven ganz
abgesehen, ihre Pflicht und Schuldigkeit. Und so wird es auch in Zukunft
sein, auch dann, wenn etwa die Politik nach der andern Seite, durch ein Zu¬
viel im "Thun," zu sündigen ansinge, wie gar nicht so fern liegt. Man soll
sich also ja nicht unterfangen, den Satz: "Die Politik geht die Geistlichen nichts
an" unberechtigtermaßen als willkommnes Schlagwort dahin auszunützen, daß
der Geistliche auch allen politischen -- d. h. in Gesetzgebnngs- und in Ver¬
waltungsakten bis zu deu Kreistage" und Stadtverordneten, bis zum preußischen
Landrat, Amtsvorsteher und Bürgermeister hinunter sich bethätigenden -- Un-
christlichkeiten und Unsittlichkeiten gegenüber einfach den gehorsamen Diener
machen müsse. An Neigung zu derartigen Ausnutznngen wird es leider nicht
fehlen. Und ob sie den Sinn des Satzes dabei auch noch so sehr vergewal¬
tigen müssen, daran werden sich viele Politiker von Fach wenig stoßen, wenn
sie der Interessengruppe, der sie dienen, damit zu nützen glauben. Das ver¬
fassungsmäßige politische Recht der Geistlichen bei Wahlen und dergleichen hat
natürlich mit der ganzen Telegrammfrage nichts zu thun. Nur politische
Klvpffechterei kann es hereinziehen.

Wer Christ ist, ist "sozial" oder sollte es doch sein, aber durchaus nicht
nur oder auch nur hauptsächlich in der Politik, im Staatsleben, im Ver¬
hältnis zum Ganzen. Das ist es, was heute zum Verständnis zu bringen
vor allem not thut, auch den politischen Pastoren und -- um es gleich hier
Zu sagen -- auch den politischen Professoren. Das ist es, weswegen wir
das Telegramm des Kaisers mit Freude begrüßen und ihm den weitesten
Wiederhall wünschen.

In der Osterwoche dieses Jahres hat der "Protestantenverein" in Berlin
nach sechsjähriger Pause wieder einen "Protestantentag" abgehalten, auf dem
sich der liberale Protestantismus endlich dazu verstanden hat, zum Sozialismus
Stellung zu nehmen. Die Herren scheinen schwer genug darau gegangen zu
sein, aber sie mußten. Der Geist der Zeit hat sie gezwungen, den Bann des


Grenzboten II 1396 48
Politische Pastoren

in der Sozialpolitik, auf dessen Wiederherstellung wir in Deutschland, und in
gewissem Sinne mit Recht, so stolz sind, ganz und gar entwerten, denn wo es sich
um praktisches Christentum handelt, da hat doch vor allem auch die christliche
Kirche und die christliche Geistlichkeit ein Wort mit zu reden. Sie soll dem
Kaiser geben, was des Kaisers ist, gewiß, aber auch Gotte, was Gottes ist,
und sie wäre unwürdig ihres erhabnen Amts, wenn sie nicht auch dann den
Mund aufthäte, wenn die Staatsgewalt mit ihren Organen, mit ihrem ganzen
„Thun" und „Lassen" in der nationalen Rechts-, Wirtschafts- und Gesell¬
schaftsordnung in Bahnen hineingerät, die der sittlichen Weltordnung wieder¬
sprechen. Im „Lassen" in der Politik hat man ja, wie viele auch wieder mit
Recht behaupten, bis in die jüngste Vergangenheit bei uns viel gesündigt, und
wenn Geistliche gegen diese politischen Sünden angekämpft haben, so war das
doch, von der Form, in der es geschah, und etwaigen Begleitmotiven ganz
abgesehen, ihre Pflicht und Schuldigkeit. Und so wird es auch in Zukunft
sein, auch dann, wenn etwa die Politik nach der andern Seite, durch ein Zu¬
viel im „Thun," zu sündigen ansinge, wie gar nicht so fern liegt. Man soll
sich also ja nicht unterfangen, den Satz: „Die Politik geht die Geistlichen nichts
an" unberechtigtermaßen als willkommnes Schlagwort dahin auszunützen, daß
der Geistliche auch allen politischen — d. h. in Gesetzgebnngs- und in Ver¬
waltungsakten bis zu deu Kreistage» und Stadtverordneten, bis zum preußischen
Landrat, Amtsvorsteher und Bürgermeister hinunter sich bethätigenden — Un-
christlichkeiten und Unsittlichkeiten gegenüber einfach den gehorsamen Diener
machen müsse. An Neigung zu derartigen Ausnutznngen wird es leider nicht
fehlen. Und ob sie den Sinn des Satzes dabei auch noch so sehr vergewal¬
tigen müssen, daran werden sich viele Politiker von Fach wenig stoßen, wenn
sie der Interessengruppe, der sie dienen, damit zu nützen glauben. Das ver¬
fassungsmäßige politische Recht der Geistlichen bei Wahlen und dergleichen hat
natürlich mit der ganzen Telegrammfrage nichts zu thun. Nur politische
Klvpffechterei kann es hereinziehen.

Wer Christ ist, ist „sozial" oder sollte es doch sein, aber durchaus nicht
nur oder auch nur hauptsächlich in der Politik, im Staatsleben, im Ver¬
hältnis zum Ganzen. Das ist es, was heute zum Verständnis zu bringen
vor allem not thut, auch den politischen Pastoren und — um es gleich hier
Zu sagen — auch den politischen Professoren. Das ist es, weswegen wir
das Telegramm des Kaisers mit Freude begrüßen und ihm den weitesten
Wiederhall wünschen.

In der Osterwoche dieses Jahres hat der „Protestantenverein" in Berlin
nach sechsjähriger Pause wieder einen „Protestantentag" abgehalten, auf dem
sich der liberale Protestantismus endlich dazu verstanden hat, zum Sozialismus
Stellung zu nehmen. Die Herren scheinen schwer genug darau gegangen zu
sein, aber sie mußten. Der Geist der Zeit hat sie gezwungen, den Bann des


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[0385] Politische Pastoren in der Sozialpolitik, auf dessen Wiederherstellung wir in Deutschland, und in gewissem Sinne mit Recht, so stolz sind, ganz und gar entwerten, denn wo es sich um praktisches Christentum handelt, da hat doch vor allem auch die christliche Kirche und die christliche Geistlichkeit ein Wort mit zu reden. Sie soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, gewiß, aber auch Gotte, was Gottes ist, und sie wäre unwürdig ihres erhabnen Amts, wenn sie nicht auch dann den Mund aufthäte, wenn die Staatsgewalt mit ihren Organen, mit ihrem ganzen „Thun" und „Lassen" in der nationalen Rechts-, Wirtschafts- und Gesell¬ schaftsordnung in Bahnen hineingerät, die der sittlichen Weltordnung wieder¬ sprechen. Im „Lassen" in der Politik hat man ja, wie viele auch wieder mit Recht behaupten, bis in die jüngste Vergangenheit bei uns viel gesündigt, und wenn Geistliche gegen diese politischen Sünden angekämpft haben, so war das doch, von der Form, in der es geschah, und etwaigen Begleitmotiven ganz abgesehen, ihre Pflicht und Schuldigkeit. Und so wird es auch in Zukunft sein, auch dann, wenn etwa die Politik nach der andern Seite, durch ein Zu¬ viel im „Thun," zu sündigen ansinge, wie gar nicht so fern liegt. Man soll sich also ja nicht unterfangen, den Satz: „Die Politik geht die Geistlichen nichts an" unberechtigtermaßen als willkommnes Schlagwort dahin auszunützen, daß der Geistliche auch allen politischen — d. h. in Gesetzgebnngs- und in Ver¬ waltungsakten bis zu deu Kreistage» und Stadtverordneten, bis zum preußischen Landrat, Amtsvorsteher und Bürgermeister hinunter sich bethätigenden — Un- christlichkeiten und Unsittlichkeiten gegenüber einfach den gehorsamen Diener machen müsse. An Neigung zu derartigen Ausnutznngen wird es leider nicht fehlen. Und ob sie den Sinn des Satzes dabei auch noch so sehr vergewal¬ tigen müssen, daran werden sich viele Politiker von Fach wenig stoßen, wenn sie der Interessengruppe, der sie dienen, damit zu nützen glauben. Das ver¬ fassungsmäßige politische Recht der Geistlichen bei Wahlen und dergleichen hat natürlich mit der ganzen Telegrammfrage nichts zu thun. Nur politische Klvpffechterei kann es hereinziehen. Wer Christ ist, ist „sozial" oder sollte es doch sein, aber durchaus nicht nur oder auch nur hauptsächlich in der Politik, im Staatsleben, im Ver¬ hältnis zum Ganzen. Das ist es, was heute zum Verständnis zu bringen vor allem not thut, auch den politischen Pastoren und — um es gleich hier Zu sagen — auch den politischen Professoren. Das ist es, weswegen wir das Telegramm des Kaisers mit Freude begrüßen und ihm den weitesten Wiederhall wünschen. In der Osterwoche dieses Jahres hat der „Protestantenverein" in Berlin nach sechsjähriger Pause wieder einen „Protestantentag" abgehalten, auf dem sich der liberale Protestantismus endlich dazu verstanden hat, zum Sozialismus Stellung zu nehmen. Die Herren scheinen schwer genug darau gegangen zu sein, aber sie mußten. Der Geist der Zeit hat sie gezwungen, den Bann des Grenzboten II 1396 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/385>, abgerufen am 27.05.2024.