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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Befähigungsnachweis der akademisch Gebildeten

Semester erhalten und damit leider in seinem Lieblingsfach einen andern Exa¬
minator, einen Herrn, dem er weder ans dem Kolleg noch aus den Übungen
bekannt ist, der übrigens auch manche für einen Examinanden nicht gerade er¬
freuliche Eigenschaften haben soll.

In der Prüfung zeigt A vortreffliche Kenntnisse und wirklich wissen¬
schaftlichen Sinn. Aber mit einigen Dingen, die dem Examinator gerade be¬
sonders wichtig erscheinen, hat er sich wenig oder gar nicht beschäftigt. Er
hat zwar tüchtig und planvoll studirt, aber gerade diese Dinge sind ihm fern
geblieben. Er hat sie sür weniger wichtig angesehen, und alles kann man ja
auch unmöglich in der kurzen Zeit des akademischen Studiums gründlich be¬
treiben. Das war ihm um so klarer geworden, je gründlicher er in andre
Gebiete eindrang. Die Universitütszeit kann nur der Vorbereitung und Ein¬
führung in das Studium dienen, sie reicht gerade aus, sich zu "orientiren,"
sich wissenschaftliche Methode und ein bestimmtes Maß wissenschaftlicher Kennt¬
nisse anzueignen, aber nicht, ein vollendeter Gelehrter zu werden und alle
Zweige des heute so weit verzweigten Wissens mit gleicher Sicherheit zu be¬
herrschen. Ist doch auch der Professor erst nach vieljährigem Studium im¬
stande, ein Buch zu schreiben, das ein größeres Gebiet einigermaßen erschöpfend
behandelt. Einigen Gegenständen, die der Examinand etwas vernachlässigt hat,
legt der Examinator unstreitig mit Recht großen Wert bei; über die Wichtigkeit
andrer Fragen aber und über das Maß der billig zu verlangenden Kenntnisse
läßt sich streiten. Immerhin erhält A noch ein gutes Zeugnis, wenn auch
lange nicht ein Zeugnis, wie es nach seiner Begabung und seinem gewissen
haften, planvollen Studium zu erwarten gewesen wäre.

Viel schlechter ergeht es B. Er hat zwar auch fleißig, aber viel weniger
geschickt und planmäßig gearbeitet als A. Was schon diesem geschadet hat,
tritt bei ihm noch mehr zu Tage. Dazu kommt aber noch manches andre.
Er ist dem Examinator völlig fremd, während A dem seinigen wenigstens
einigermaßen aus seinen Übungen bekannt war, dieser also sein Urteil auch
qarauf hatte gründen können. Sein Examinator ist auch noch unerfahren
im Prüfen, versteht es nicht recht, die Fragen zu stellen, daß er sich wenigstens
über das vorhandne Wissen des Kandidaten eine einigermaßen richtige Meinung
bilden könnte, er fragt viel nach unwesentlichen, abgelegnen Dingen. Außerdem
ist er den Tag bei besonders schlechter Laune. Und zu alledem ist B selbst
den Tag über nicht in der rechten Verfassung. Das übermäßige Arbeiten in
den letzten Wochen hat ihn körperlich heruntergebracht, und je länger die
Quälerei des Examens dauert, desto mehr machen sich die Wirkungen der Ab¬
spannung geltend; für die einfachsten Dinge läßt ihn sein Gedächtnis im Stich.
So besteht auch er in seinem Lieblingssache nur mit "genügend."

C fällt durchs Examen, wie er es verdient, da sich sein Wissen auf allen
Gebieten trotz des zuletzt noch mühsam Eingepaukten in wesentlichen wie in


Der Befähigungsnachweis der akademisch Gebildeten

Semester erhalten und damit leider in seinem Lieblingsfach einen andern Exa¬
minator, einen Herrn, dem er weder ans dem Kolleg noch aus den Übungen
bekannt ist, der übrigens auch manche für einen Examinanden nicht gerade er¬
freuliche Eigenschaften haben soll.

In der Prüfung zeigt A vortreffliche Kenntnisse und wirklich wissen¬
schaftlichen Sinn. Aber mit einigen Dingen, die dem Examinator gerade be¬
sonders wichtig erscheinen, hat er sich wenig oder gar nicht beschäftigt. Er
hat zwar tüchtig und planvoll studirt, aber gerade diese Dinge sind ihm fern
geblieben. Er hat sie sür weniger wichtig angesehen, und alles kann man ja
auch unmöglich in der kurzen Zeit des akademischen Studiums gründlich be¬
treiben. Das war ihm um so klarer geworden, je gründlicher er in andre
Gebiete eindrang. Die Universitütszeit kann nur der Vorbereitung und Ein¬
führung in das Studium dienen, sie reicht gerade aus, sich zu „orientiren,"
sich wissenschaftliche Methode und ein bestimmtes Maß wissenschaftlicher Kennt¬
nisse anzueignen, aber nicht, ein vollendeter Gelehrter zu werden und alle
Zweige des heute so weit verzweigten Wissens mit gleicher Sicherheit zu be¬
herrschen. Ist doch auch der Professor erst nach vieljährigem Studium im¬
stande, ein Buch zu schreiben, das ein größeres Gebiet einigermaßen erschöpfend
behandelt. Einigen Gegenständen, die der Examinand etwas vernachlässigt hat,
legt der Examinator unstreitig mit Recht großen Wert bei; über die Wichtigkeit
andrer Fragen aber und über das Maß der billig zu verlangenden Kenntnisse
läßt sich streiten. Immerhin erhält A noch ein gutes Zeugnis, wenn auch
lange nicht ein Zeugnis, wie es nach seiner Begabung und seinem gewissen
haften, planvollen Studium zu erwarten gewesen wäre.

Viel schlechter ergeht es B. Er hat zwar auch fleißig, aber viel weniger
geschickt und planmäßig gearbeitet als A. Was schon diesem geschadet hat,
tritt bei ihm noch mehr zu Tage. Dazu kommt aber noch manches andre.
Er ist dem Examinator völlig fremd, während A dem seinigen wenigstens
einigermaßen aus seinen Übungen bekannt war, dieser also sein Urteil auch
qarauf hatte gründen können. Sein Examinator ist auch noch unerfahren
im Prüfen, versteht es nicht recht, die Fragen zu stellen, daß er sich wenigstens
über das vorhandne Wissen des Kandidaten eine einigermaßen richtige Meinung
bilden könnte, er fragt viel nach unwesentlichen, abgelegnen Dingen. Außerdem
ist er den Tag bei besonders schlechter Laune. Und zu alledem ist B selbst
den Tag über nicht in der rechten Verfassung. Das übermäßige Arbeiten in
den letzten Wochen hat ihn körperlich heruntergebracht, und je länger die
Quälerei des Examens dauert, desto mehr machen sich die Wirkungen der Ab¬
spannung geltend; für die einfachsten Dinge läßt ihn sein Gedächtnis im Stich.
So besteht auch er in seinem Lieblingssache nur mit „genügend."

C fällt durchs Examen, wie er es verdient, da sich sein Wissen auf allen
Gebieten trotz des zuletzt noch mühsam Eingepaukten in wesentlichen wie in


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[0464] Der Befähigungsnachweis der akademisch Gebildeten Semester erhalten und damit leider in seinem Lieblingsfach einen andern Exa¬ minator, einen Herrn, dem er weder ans dem Kolleg noch aus den Übungen bekannt ist, der übrigens auch manche für einen Examinanden nicht gerade er¬ freuliche Eigenschaften haben soll. In der Prüfung zeigt A vortreffliche Kenntnisse und wirklich wissen¬ schaftlichen Sinn. Aber mit einigen Dingen, die dem Examinator gerade be¬ sonders wichtig erscheinen, hat er sich wenig oder gar nicht beschäftigt. Er hat zwar tüchtig und planvoll studirt, aber gerade diese Dinge sind ihm fern geblieben. Er hat sie sür weniger wichtig angesehen, und alles kann man ja auch unmöglich in der kurzen Zeit des akademischen Studiums gründlich be¬ treiben. Das war ihm um so klarer geworden, je gründlicher er in andre Gebiete eindrang. Die Universitütszeit kann nur der Vorbereitung und Ein¬ führung in das Studium dienen, sie reicht gerade aus, sich zu „orientiren," sich wissenschaftliche Methode und ein bestimmtes Maß wissenschaftlicher Kennt¬ nisse anzueignen, aber nicht, ein vollendeter Gelehrter zu werden und alle Zweige des heute so weit verzweigten Wissens mit gleicher Sicherheit zu be¬ herrschen. Ist doch auch der Professor erst nach vieljährigem Studium im¬ stande, ein Buch zu schreiben, das ein größeres Gebiet einigermaßen erschöpfend behandelt. Einigen Gegenständen, die der Examinand etwas vernachlässigt hat, legt der Examinator unstreitig mit Recht großen Wert bei; über die Wichtigkeit andrer Fragen aber und über das Maß der billig zu verlangenden Kenntnisse läßt sich streiten. Immerhin erhält A noch ein gutes Zeugnis, wenn auch lange nicht ein Zeugnis, wie es nach seiner Begabung und seinem gewissen haften, planvollen Studium zu erwarten gewesen wäre. Viel schlechter ergeht es B. Er hat zwar auch fleißig, aber viel weniger geschickt und planmäßig gearbeitet als A. Was schon diesem geschadet hat, tritt bei ihm noch mehr zu Tage. Dazu kommt aber noch manches andre. Er ist dem Examinator völlig fremd, während A dem seinigen wenigstens einigermaßen aus seinen Übungen bekannt war, dieser also sein Urteil auch qarauf hatte gründen können. Sein Examinator ist auch noch unerfahren im Prüfen, versteht es nicht recht, die Fragen zu stellen, daß er sich wenigstens über das vorhandne Wissen des Kandidaten eine einigermaßen richtige Meinung bilden könnte, er fragt viel nach unwesentlichen, abgelegnen Dingen. Außerdem ist er den Tag bei besonders schlechter Laune. Und zu alledem ist B selbst den Tag über nicht in der rechten Verfassung. Das übermäßige Arbeiten in den letzten Wochen hat ihn körperlich heruntergebracht, und je länger die Quälerei des Examens dauert, desto mehr machen sich die Wirkungen der Ab¬ spannung geltend; für die einfachsten Dinge läßt ihn sein Gedächtnis im Stich. So besteht auch er in seinem Lieblingssache nur mit „genügend." C fällt durchs Examen, wie er es verdient, da sich sein Wissen auf allen Gebieten trotz des zuletzt noch mühsam Eingepaukten in wesentlichen wie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/464>, abgerufen am 23.05.2024.