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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Dagegen kommen auf unsre Universitäten jetzt viel mehr Leute unmittelbar
nus den untern Ständen als früher.*) Darüber liegen längst Zahlen vor,
die wir nicht zu wiederholen brauchen. Im Falle nun den betreffenden sein
Streben zum Ziele führt, würde das für unsre Frage bedeuten: dem bessern,
gebildeten Mittelstände wachsen heute mehr als früher Elemente aus dem
Volke zu, ohne daß eine Zwischenstufe vou einer Generation eingenommen
wird. Wie vollkommen oder wie unvollkommen das Hineinwachsen in den
höhern Stand auf der entscheidenden Stufe geschieht, davon ist gewöhnlich
nicht die Rede, und die vielen gar nicht zum Ziel gekommnen und vollständig
verunglückten Existenzen zählen vollends nicht mehr mit. Der "Ersatz" des
bessern Mittelstandes geschieht also thatsächlich auf diesem Wege, unmittelbar
von unten. Gymnasiallehrer, namentlich in kleinern Städten, werben alljährlich
dafür, indem sie sogenannte talentvolle arme Knaben zum Studiren ermuntern.
Die "Entdeckung" der Talente ist gewöhnlich schon Sache der Landpfarrer. Es
wird keiner unter unsern Lesern sein, der sich nicht eines oder einiger solcher
Kameraden von irgend einer Stufe seiner fachmäßigen Ausbildung her erinnern
konnte. Als Universitätsstudium kommt vorzugsweise in Betracht, was am
wenigsten Aufwand an Mitteln verlangt, also Theologie und höheres Lehramt.

Günstige Ergebnisse hat diese Art des Aufsteigens bis in die neueste Zeit
wohl nur in der Theologie gehabt, nämlich in manchen ausgezeichneten Geist¬
lichen von ganz kleiner Herkunft. Jeder wird solche Namen leicht finden. In
der Herkunft liegt eine wichtige Quelle des Volkstümlichen, was der Pfarrer
unter allen Umständen braucht. Ich hörte z. V. einst in einer Dorfkirche den
Prediger vor seinen Zuhörern seine Ermahnung in dieser Form auf den Bauers¬
mann zuschneiden: "Wenn du deinen Sohn um einer geringen Unwahrheit willen
im Jähzorn zu hart straffe ..." und sagte beim Hinausgehen zu meinem Be¬
gleiter etwa folgendes: Erstens bringt eine Lüge seines Kindes einen Bauern
nicht zum Jähzorn, wohl aber ein zerbrochner Topf oder ein Verlorner Pfennig,
und zweitens sollte in einem solchen Beispiel ein Pfarrer der Lüge niemals
die Rolle des Adiaphorou geben, da der geringe Mann hier ohnehin das Grobe
kaum richtig beurteilt. Dieser Prediger war nun zufällig ein Sohn vornehmer
Eltern und kannte das Wesen des Bauern gar nicht, womit natürlich nicht
gesagt sein soll, daß, um das Volk zu kennen, man notwendig Sohn eines
Bauern sein müsse. Das Volkstümliche kann ja auch durch Anempfindung
und Beobachtung begriffen werden.

Viel seltener gehen Juristen und Ärzte unmittelbar aus den niedern Ständen



Der Satz kann bezweifelt werden. Aber man darf sich nicht tauschen lassen durch die
äußerlich, z. B. in Kleidern, viel noblere Haltung. Vielleicht gab es vor hundert Jahren, an
einzelnen Universitäten möglicherweise auch noch vor fünfzig, mehr Studentenvroletariai als jetzt.
Aber davon zählte der größte Teil gesellschaftlich von vorn herein nicht mit und brachte es auch
zu nichts, sondern verkam.
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Dagegen kommen auf unsre Universitäten jetzt viel mehr Leute unmittelbar
nus den untern Ständen als früher.*) Darüber liegen längst Zahlen vor,
die wir nicht zu wiederholen brauchen. Im Falle nun den betreffenden sein
Streben zum Ziele führt, würde das für unsre Frage bedeuten: dem bessern,
gebildeten Mittelstände wachsen heute mehr als früher Elemente aus dem
Volke zu, ohne daß eine Zwischenstufe vou einer Generation eingenommen
wird. Wie vollkommen oder wie unvollkommen das Hineinwachsen in den
höhern Stand auf der entscheidenden Stufe geschieht, davon ist gewöhnlich
nicht die Rede, und die vielen gar nicht zum Ziel gekommnen und vollständig
verunglückten Existenzen zählen vollends nicht mehr mit. Der „Ersatz" des
bessern Mittelstandes geschieht also thatsächlich auf diesem Wege, unmittelbar
von unten. Gymnasiallehrer, namentlich in kleinern Städten, werben alljährlich
dafür, indem sie sogenannte talentvolle arme Knaben zum Studiren ermuntern.
Die „Entdeckung" der Talente ist gewöhnlich schon Sache der Landpfarrer. Es
wird keiner unter unsern Lesern sein, der sich nicht eines oder einiger solcher
Kameraden von irgend einer Stufe seiner fachmäßigen Ausbildung her erinnern
konnte. Als Universitätsstudium kommt vorzugsweise in Betracht, was am
wenigsten Aufwand an Mitteln verlangt, also Theologie und höheres Lehramt.

Günstige Ergebnisse hat diese Art des Aufsteigens bis in die neueste Zeit
wohl nur in der Theologie gehabt, nämlich in manchen ausgezeichneten Geist¬
lichen von ganz kleiner Herkunft. Jeder wird solche Namen leicht finden. In
der Herkunft liegt eine wichtige Quelle des Volkstümlichen, was der Pfarrer
unter allen Umständen braucht. Ich hörte z. V. einst in einer Dorfkirche den
Prediger vor seinen Zuhörern seine Ermahnung in dieser Form auf den Bauers¬
mann zuschneiden: „Wenn du deinen Sohn um einer geringen Unwahrheit willen
im Jähzorn zu hart straffe ..." und sagte beim Hinausgehen zu meinem Be¬
gleiter etwa folgendes: Erstens bringt eine Lüge seines Kindes einen Bauern
nicht zum Jähzorn, wohl aber ein zerbrochner Topf oder ein Verlorner Pfennig,
und zweitens sollte in einem solchen Beispiel ein Pfarrer der Lüge niemals
die Rolle des Adiaphorou geben, da der geringe Mann hier ohnehin das Grobe
kaum richtig beurteilt. Dieser Prediger war nun zufällig ein Sohn vornehmer
Eltern und kannte das Wesen des Bauern gar nicht, womit natürlich nicht
gesagt sein soll, daß, um das Volk zu kennen, man notwendig Sohn eines
Bauern sein müsse. Das Volkstümliche kann ja auch durch Anempfindung
und Beobachtung begriffen werden.

Viel seltener gehen Juristen und Ärzte unmittelbar aus den niedern Ständen



Der Satz kann bezweifelt werden. Aber man darf sich nicht tauschen lassen durch die
äußerlich, z. B. in Kleidern, viel noblere Haltung. Vielleicht gab es vor hundert Jahren, an
einzelnen Universitäten möglicherweise auch noch vor fünfzig, mehr Studentenvroletariai als jetzt.
Aber davon zählte der größte Teil gesellschaftlich von vorn herein nicht mit und brachte es auch
zu nichts, sondern verkam.
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[0510] Von unten nach oben Dagegen kommen auf unsre Universitäten jetzt viel mehr Leute unmittelbar nus den untern Ständen als früher.*) Darüber liegen längst Zahlen vor, die wir nicht zu wiederholen brauchen. Im Falle nun den betreffenden sein Streben zum Ziele führt, würde das für unsre Frage bedeuten: dem bessern, gebildeten Mittelstände wachsen heute mehr als früher Elemente aus dem Volke zu, ohne daß eine Zwischenstufe vou einer Generation eingenommen wird. Wie vollkommen oder wie unvollkommen das Hineinwachsen in den höhern Stand auf der entscheidenden Stufe geschieht, davon ist gewöhnlich nicht die Rede, und die vielen gar nicht zum Ziel gekommnen und vollständig verunglückten Existenzen zählen vollends nicht mehr mit. Der „Ersatz" des bessern Mittelstandes geschieht also thatsächlich auf diesem Wege, unmittelbar von unten. Gymnasiallehrer, namentlich in kleinern Städten, werben alljährlich dafür, indem sie sogenannte talentvolle arme Knaben zum Studiren ermuntern. Die „Entdeckung" der Talente ist gewöhnlich schon Sache der Landpfarrer. Es wird keiner unter unsern Lesern sein, der sich nicht eines oder einiger solcher Kameraden von irgend einer Stufe seiner fachmäßigen Ausbildung her erinnern konnte. Als Universitätsstudium kommt vorzugsweise in Betracht, was am wenigsten Aufwand an Mitteln verlangt, also Theologie und höheres Lehramt. Günstige Ergebnisse hat diese Art des Aufsteigens bis in die neueste Zeit wohl nur in der Theologie gehabt, nämlich in manchen ausgezeichneten Geist¬ lichen von ganz kleiner Herkunft. Jeder wird solche Namen leicht finden. In der Herkunft liegt eine wichtige Quelle des Volkstümlichen, was der Pfarrer unter allen Umständen braucht. Ich hörte z. V. einst in einer Dorfkirche den Prediger vor seinen Zuhörern seine Ermahnung in dieser Form auf den Bauers¬ mann zuschneiden: „Wenn du deinen Sohn um einer geringen Unwahrheit willen im Jähzorn zu hart straffe ..." und sagte beim Hinausgehen zu meinem Be¬ gleiter etwa folgendes: Erstens bringt eine Lüge seines Kindes einen Bauern nicht zum Jähzorn, wohl aber ein zerbrochner Topf oder ein Verlorner Pfennig, und zweitens sollte in einem solchen Beispiel ein Pfarrer der Lüge niemals die Rolle des Adiaphorou geben, da der geringe Mann hier ohnehin das Grobe kaum richtig beurteilt. Dieser Prediger war nun zufällig ein Sohn vornehmer Eltern und kannte das Wesen des Bauern gar nicht, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß, um das Volk zu kennen, man notwendig Sohn eines Bauern sein müsse. Das Volkstümliche kann ja auch durch Anempfindung und Beobachtung begriffen werden. Viel seltener gehen Juristen und Ärzte unmittelbar aus den niedern Ständen Der Satz kann bezweifelt werden. Aber man darf sich nicht tauschen lassen durch die äußerlich, z. B. in Kleidern, viel noblere Haltung. Vielleicht gab es vor hundert Jahren, an einzelnen Universitäten möglicherweise auch noch vor fünfzig, mehr Studentenvroletariai als jetzt. Aber davon zählte der größte Teil gesellschaftlich von vorn herein nicht mit und brachte es auch zu nichts, sondern verkam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/510>, abgerufen am 16.06.2024.