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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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die unsre Auffassung von Lebensverhältnissen durch Bücher, Romane, Erzäh¬
lungen erfährt, daß man meint, es führte zu besonders schönen Gcistesblüten
oder zu klaren wissenschaftlichen Ergebnissen, wenn ein Mensch von unten plötz¬
lich in die höhere Region gehoben wird, und es sei immer nur wirkliches Ta¬
lent, was so unvermittelt von unten nach oben dringe! Universitätslehrer von
einiger Erfahrung wissen im Gegenteil, wie außerordentlich selten die Talente
unter diesen mittellosen Emporstrebenden sind. Sie wissen andrerseits an
solchen Schülern, die aus bessern Familien stammen, den geistig vorbereiteten
Boden auch für ihre besondern Lehraufgnben zu schätzen, und vor allem wissen
sie von der entsetzlichen Misere der vielen Studenten ein Lied zu singen, die
"nichts haben," und die doch nicht aus innerm Berufe, sondern um sich äußer¬
lich zu verbessern auf die Hochschule gekommen sind oder von ihren Ange¬
hörigen und Beratern getrieben sind. Aber so etwas dringt nicht leicht an
die Öffentlichkeit, und so bleibt denu der arme, aber talentvolle Knabe mit
der großen geistigen Zukunft eine stehende Figur im Kreise der Lebens¬
anschauungen unsers Volkes und wirkt da vielleicht auf die armen Knaben nicht
minder schädlich als ehemals, nach unsrer Pädagogen Meinung, die Jndicmer-
geschichten von Cooper oder Ferry auf die reichen.

Ein feiner und tiefer Beobachter menschlicher Verhältnisse, Professor
Hilty, spricht im zweiten Bande seines Buches "Glück" über einzelne bedeu¬
tende Eigenschaften eines Menschen, wie Mut, Selbstgefühl, richtigen Geschmack,
und meint, dazu gehöre schon eine gewisse Vererbung. "Daher, sagt er weiter,
sind auch alle großen Bahnbrecher politischer und geistiger Freiheit selten aus
der untersten Volksschicht gekommen, sondern aus einer bereits vorgebildeten
Mittelschicht, oft genug sogar aus der Aristokratie selber. Es ist daher auch
ein großer Fehler, beinahe ein Vergehen gegen seine Nachkommen, wenn ein
höher gebildeter Mensch unter seinem Bildungsstande heiratet." Der Satz ist
treffend und weist nach vielen Richtungen hin. Unter den Bahnbrechern hätte
Hilty als Ausnahme Luther nennen können, vielleicht auch Shakespeare, wie¬
wohl die Forscher darüber noch nicht einig sein werden, ob der nicht schon aus
einer "vorgebildeten Mittelschicht" gekommen sei. Ein Genie ist ferner jeden¬
falls Carlyle, und er ist aus dem Arbeiterstande hervorgegangen; sein Vater
war Maurer. Nun, Bahnbrecher und Genies zählen ja an und für sich schon
als Ausnahmen, woher sie auch kommen mögen. Hat aber einer unsrer Leser
wohl einmal daran gedacht, wie viel oder wie wenig einfache sogenannte Ta¬
lente aus den untern Volksschichten auf einem sehr offenkundiger und leicht
übersehbaren Felde, nämlich in unsrer Litteraturgeschichte, zu finden sind?

Da ist zuerst der Schusterssohn Winckelmann, er gehört unter die Genialen.
Wir sind noch heute seinem Genius dankbar, daß er den Flug nach oben ge¬
nommen hat. Aber für ihn war es kein Adlersslug, mühelos der Sonne ent¬
gegen, sondern, menschlich angesehen, ein recht mühseliges, elendes Empor-


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die unsre Auffassung von Lebensverhältnissen durch Bücher, Romane, Erzäh¬
lungen erfährt, daß man meint, es führte zu besonders schönen Gcistesblüten
oder zu klaren wissenschaftlichen Ergebnissen, wenn ein Mensch von unten plötz¬
lich in die höhere Region gehoben wird, und es sei immer nur wirkliches Ta¬
lent, was so unvermittelt von unten nach oben dringe! Universitätslehrer von
einiger Erfahrung wissen im Gegenteil, wie außerordentlich selten die Talente
unter diesen mittellosen Emporstrebenden sind. Sie wissen andrerseits an
solchen Schülern, die aus bessern Familien stammen, den geistig vorbereiteten
Boden auch für ihre besondern Lehraufgnben zu schätzen, und vor allem wissen
sie von der entsetzlichen Misere der vielen Studenten ein Lied zu singen, die
„nichts haben," und die doch nicht aus innerm Berufe, sondern um sich äußer¬
lich zu verbessern auf die Hochschule gekommen sind oder von ihren Ange¬
hörigen und Beratern getrieben sind. Aber so etwas dringt nicht leicht an
die Öffentlichkeit, und so bleibt denu der arme, aber talentvolle Knabe mit
der großen geistigen Zukunft eine stehende Figur im Kreise der Lebens¬
anschauungen unsers Volkes und wirkt da vielleicht auf die armen Knaben nicht
minder schädlich als ehemals, nach unsrer Pädagogen Meinung, die Jndicmer-
geschichten von Cooper oder Ferry auf die reichen.

Ein feiner und tiefer Beobachter menschlicher Verhältnisse, Professor
Hilty, spricht im zweiten Bande seines Buches „Glück" über einzelne bedeu¬
tende Eigenschaften eines Menschen, wie Mut, Selbstgefühl, richtigen Geschmack,
und meint, dazu gehöre schon eine gewisse Vererbung. „Daher, sagt er weiter,
sind auch alle großen Bahnbrecher politischer und geistiger Freiheit selten aus
der untersten Volksschicht gekommen, sondern aus einer bereits vorgebildeten
Mittelschicht, oft genug sogar aus der Aristokratie selber. Es ist daher auch
ein großer Fehler, beinahe ein Vergehen gegen seine Nachkommen, wenn ein
höher gebildeter Mensch unter seinem Bildungsstande heiratet." Der Satz ist
treffend und weist nach vielen Richtungen hin. Unter den Bahnbrechern hätte
Hilty als Ausnahme Luther nennen können, vielleicht auch Shakespeare, wie¬
wohl die Forscher darüber noch nicht einig sein werden, ob der nicht schon aus
einer „vorgebildeten Mittelschicht" gekommen sei. Ein Genie ist ferner jeden¬
falls Carlyle, und er ist aus dem Arbeiterstande hervorgegangen; sein Vater
war Maurer. Nun, Bahnbrecher und Genies zählen ja an und für sich schon
als Ausnahmen, woher sie auch kommen mögen. Hat aber einer unsrer Leser
wohl einmal daran gedacht, wie viel oder wie wenig einfache sogenannte Ta¬
lente aus den untern Volksschichten auf einem sehr offenkundiger und leicht
übersehbaren Felde, nämlich in unsrer Litteraturgeschichte, zu finden sind?

Da ist zuerst der Schusterssohn Winckelmann, er gehört unter die Genialen.
Wir sind noch heute seinem Genius dankbar, daß er den Flug nach oben ge¬
nommen hat. Aber für ihn war es kein Adlersslug, mühelos der Sonne ent¬
gegen, sondern, menschlich angesehen, ein recht mühseliges, elendes Empor-


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[0514] von unten nach oben die unsre Auffassung von Lebensverhältnissen durch Bücher, Romane, Erzäh¬ lungen erfährt, daß man meint, es führte zu besonders schönen Gcistesblüten oder zu klaren wissenschaftlichen Ergebnissen, wenn ein Mensch von unten plötz¬ lich in die höhere Region gehoben wird, und es sei immer nur wirkliches Ta¬ lent, was so unvermittelt von unten nach oben dringe! Universitätslehrer von einiger Erfahrung wissen im Gegenteil, wie außerordentlich selten die Talente unter diesen mittellosen Emporstrebenden sind. Sie wissen andrerseits an solchen Schülern, die aus bessern Familien stammen, den geistig vorbereiteten Boden auch für ihre besondern Lehraufgnben zu schätzen, und vor allem wissen sie von der entsetzlichen Misere der vielen Studenten ein Lied zu singen, die „nichts haben," und die doch nicht aus innerm Berufe, sondern um sich äußer¬ lich zu verbessern auf die Hochschule gekommen sind oder von ihren Ange¬ hörigen und Beratern getrieben sind. Aber so etwas dringt nicht leicht an die Öffentlichkeit, und so bleibt denu der arme, aber talentvolle Knabe mit der großen geistigen Zukunft eine stehende Figur im Kreise der Lebens¬ anschauungen unsers Volkes und wirkt da vielleicht auf die armen Knaben nicht minder schädlich als ehemals, nach unsrer Pädagogen Meinung, die Jndicmer- geschichten von Cooper oder Ferry auf die reichen. Ein feiner und tiefer Beobachter menschlicher Verhältnisse, Professor Hilty, spricht im zweiten Bande seines Buches „Glück" über einzelne bedeu¬ tende Eigenschaften eines Menschen, wie Mut, Selbstgefühl, richtigen Geschmack, und meint, dazu gehöre schon eine gewisse Vererbung. „Daher, sagt er weiter, sind auch alle großen Bahnbrecher politischer und geistiger Freiheit selten aus der untersten Volksschicht gekommen, sondern aus einer bereits vorgebildeten Mittelschicht, oft genug sogar aus der Aristokratie selber. Es ist daher auch ein großer Fehler, beinahe ein Vergehen gegen seine Nachkommen, wenn ein höher gebildeter Mensch unter seinem Bildungsstande heiratet." Der Satz ist treffend und weist nach vielen Richtungen hin. Unter den Bahnbrechern hätte Hilty als Ausnahme Luther nennen können, vielleicht auch Shakespeare, wie¬ wohl die Forscher darüber noch nicht einig sein werden, ob der nicht schon aus einer „vorgebildeten Mittelschicht" gekommen sei. Ein Genie ist ferner jeden¬ falls Carlyle, und er ist aus dem Arbeiterstande hervorgegangen; sein Vater war Maurer. Nun, Bahnbrecher und Genies zählen ja an und für sich schon als Ausnahmen, woher sie auch kommen mögen. Hat aber einer unsrer Leser wohl einmal daran gedacht, wie viel oder wie wenig einfache sogenannte Ta¬ lente aus den untern Volksschichten auf einem sehr offenkundiger und leicht übersehbaren Felde, nämlich in unsrer Litteraturgeschichte, zu finden sind? Da ist zuerst der Schusterssohn Winckelmann, er gehört unter die Genialen. Wir sind noch heute seinem Genius dankbar, daß er den Flug nach oben ge¬ nommen hat. Aber für ihn war es kein Adlersslug, mühelos der Sonne ent¬ gegen, sondern, menschlich angesehen, ein recht mühseliges, elendes Empor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/514>, abgerufen am 16.06.2024.