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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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kriechen und Krabbeln, und ich weiß nicht, ob ihm viele von uns das nach¬
machen möchten, bloß um den Lohn eines großen Nachruhms, wenn der ihnen
für ihre Mühsal verbürgt werden könnte! Denn glücklich und in sich harmonisch
war Winckelmann nicht. Und wer Carlyles Leben kennt, weiß, daß es mit ihm
nicht anders war. Hätte aber jemand an ihn geradezu die Frage gestellt, er
würde vollends in seiner polternden Art geantwortet haben: Der Mensch ist gar
nicht dazu da, glücklich zu sein, er ist da, um zu arbeiten! Und wer das von
Herzen sagen kann, für den giebt es ja auch die ganze Frage, mit der wir uns
hier beschäftigen, überhaupt nicht mehr. Ein andrer unter den Emporgestiegnen
wäre etwa noch Jung-Stilling, der Sohn eines Dorfschneiders. Seine Selbst¬
biographie ist für unsre Frage lehrreich. Wir wollen an sie aber hier nur eine
Beobachtung knüpfen: wie lange hat dieser Mann mit dem kindergleichen Gemüt
und mit seinem Gottvertrauen gebraucht, um nur eine einzige Folge seines
Aufsteigens, nämlich die zu den Forderungen des neuen Standes nicht passenden
äußern Unebenheiten seines Wesens, notdürftig auszugleichen! Und darnach
frage sich jeder Leser der Selbstbiographie Stillings, ob er noch, wenn er vor
die Wahl gestellt wäre, für seine Person das Glück eines solchen Lebens ein¬
tauschen möchte. Er wird zum mindesten der Ansicht sein, daß der vortreff¬
liche Mann das Glück, wie es die Menschen gewöhnlich verstehen, eher ge¬
funden hätte auf den bescheidnen Wegen seiner Vorfahren. Ihm war nur der
Beruf des Arztes und seine Schriftstellern, also wieder die Arbeit, wie bei
Carlyle, Ersatz für das, was ihm an heitern und erfreulichen Gaben das Leben
ebenfalls nicht gewährt hatte, als es ihn äußerlich zu beglücken schien. Hütte
er diese Arbeit nicht gefunden, so würde er geradezu unglücklich geworden sein.
Ganz anders ist es Goethes Jugendfreunde Klinger gegangen. Dem ist es wirklich
"geglückt," ein vornehmer Mann zu werden. Er war der Sohn einer Wasch¬
frau und ist später nicht nur General geworden, sondern anch ein hochgebildeter
und wirklich vornehmer Mann. Aber nun stelle man dazu noch einen, den
letzten, an dem wir etwas zu beobachten haben, nämlich Seume! Dann ist die
Reihe schon zu Ende. Seume stammte aus kleinbäuerlichen Verhältnissen,
war nicht unbegabt, aber in seinen Schriften zeigt er sich durch und durch
verärgert und vergrämelt, äußerlich genommen über Erscheinungen seiner Zeit,
im Grunde aber doch über sich selbst, weil er es auf seinem unebnen Lebens¬
pfade zu keiner innern Harmonie hat bringen können. Ein äußerst trauriger
Eindruck!

Und diesen Eindruck hat man so oft in Schriften geistiger Parvenus, die
noch nicht der Litteraturgeschichte angehören, und dann darf man wohl denken:
wieviel Glück mußte erst zerstört werden, damit diese Kunstpflanze emporkommen
konnte! Und hat dieses oder jenes Buch wirklich den Wert, daß darum erst
ein natürliches, bescheidnes, bücherloses Menschenleben geknickt werden mußte?
Es wird nicht unter die Sätze der "Klassenmoral" gerechnet werden dürfen,


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kriechen und Krabbeln, und ich weiß nicht, ob ihm viele von uns das nach¬
machen möchten, bloß um den Lohn eines großen Nachruhms, wenn der ihnen
für ihre Mühsal verbürgt werden könnte! Denn glücklich und in sich harmonisch
war Winckelmann nicht. Und wer Carlyles Leben kennt, weiß, daß es mit ihm
nicht anders war. Hätte aber jemand an ihn geradezu die Frage gestellt, er
würde vollends in seiner polternden Art geantwortet haben: Der Mensch ist gar
nicht dazu da, glücklich zu sein, er ist da, um zu arbeiten! Und wer das von
Herzen sagen kann, für den giebt es ja auch die ganze Frage, mit der wir uns
hier beschäftigen, überhaupt nicht mehr. Ein andrer unter den Emporgestiegnen
wäre etwa noch Jung-Stilling, der Sohn eines Dorfschneiders. Seine Selbst¬
biographie ist für unsre Frage lehrreich. Wir wollen an sie aber hier nur eine
Beobachtung knüpfen: wie lange hat dieser Mann mit dem kindergleichen Gemüt
und mit seinem Gottvertrauen gebraucht, um nur eine einzige Folge seines
Aufsteigens, nämlich die zu den Forderungen des neuen Standes nicht passenden
äußern Unebenheiten seines Wesens, notdürftig auszugleichen! Und darnach
frage sich jeder Leser der Selbstbiographie Stillings, ob er noch, wenn er vor
die Wahl gestellt wäre, für seine Person das Glück eines solchen Lebens ein¬
tauschen möchte. Er wird zum mindesten der Ansicht sein, daß der vortreff¬
liche Mann das Glück, wie es die Menschen gewöhnlich verstehen, eher ge¬
funden hätte auf den bescheidnen Wegen seiner Vorfahren. Ihm war nur der
Beruf des Arztes und seine Schriftstellern, also wieder die Arbeit, wie bei
Carlyle, Ersatz für das, was ihm an heitern und erfreulichen Gaben das Leben
ebenfalls nicht gewährt hatte, als es ihn äußerlich zu beglücken schien. Hütte
er diese Arbeit nicht gefunden, so würde er geradezu unglücklich geworden sein.
Ganz anders ist es Goethes Jugendfreunde Klinger gegangen. Dem ist es wirklich
„geglückt," ein vornehmer Mann zu werden. Er war der Sohn einer Wasch¬
frau und ist später nicht nur General geworden, sondern anch ein hochgebildeter
und wirklich vornehmer Mann. Aber nun stelle man dazu noch einen, den
letzten, an dem wir etwas zu beobachten haben, nämlich Seume! Dann ist die
Reihe schon zu Ende. Seume stammte aus kleinbäuerlichen Verhältnissen,
war nicht unbegabt, aber in seinen Schriften zeigt er sich durch und durch
verärgert und vergrämelt, äußerlich genommen über Erscheinungen seiner Zeit,
im Grunde aber doch über sich selbst, weil er es auf seinem unebnen Lebens¬
pfade zu keiner innern Harmonie hat bringen können. Ein äußerst trauriger
Eindruck!

Und diesen Eindruck hat man so oft in Schriften geistiger Parvenus, die
noch nicht der Litteraturgeschichte angehören, und dann darf man wohl denken:
wieviel Glück mußte erst zerstört werden, damit diese Kunstpflanze emporkommen
konnte! Und hat dieses oder jenes Buch wirklich den Wert, daß darum erst
ein natürliches, bescheidnes, bücherloses Menschenleben geknickt werden mußte?
Es wird nicht unter die Sätze der „Klassenmoral" gerechnet werden dürfen,


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[0515] von unten nach oben kriechen und Krabbeln, und ich weiß nicht, ob ihm viele von uns das nach¬ machen möchten, bloß um den Lohn eines großen Nachruhms, wenn der ihnen für ihre Mühsal verbürgt werden könnte! Denn glücklich und in sich harmonisch war Winckelmann nicht. Und wer Carlyles Leben kennt, weiß, daß es mit ihm nicht anders war. Hätte aber jemand an ihn geradezu die Frage gestellt, er würde vollends in seiner polternden Art geantwortet haben: Der Mensch ist gar nicht dazu da, glücklich zu sein, er ist da, um zu arbeiten! Und wer das von Herzen sagen kann, für den giebt es ja auch die ganze Frage, mit der wir uns hier beschäftigen, überhaupt nicht mehr. Ein andrer unter den Emporgestiegnen wäre etwa noch Jung-Stilling, der Sohn eines Dorfschneiders. Seine Selbst¬ biographie ist für unsre Frage lehrreich. Wir wollen an sie aber hier nur eine Beobachtung knüpfen: wie lange hat dieser Mann mit dem kindergleichen Gemüt und mit seinem Gottvertrauen gebraucht, um nur eine einzige Folge seines Aufsteigens, nämlich die zu den Forderungen des neuen Standes nicht passenden äußern Unebenheiten seines Wesens, notdürftig auszugleichen! Und darnach frage sich jeder Leser der Selbstbiographie Stillings, ob er noch, wenn er vor die Wahl gestellt wäre, für seine Person das Glück eines solchen Lebens ein¬ tauschen möchte. Er wird zum mindesten der Ansicht sein, daß der vortreff¬ liche Mann das Glück, wie es die Menschen gewöhnlich verstehen, eher ge¬ funden hätte auf den bescheidnen Wegen seiner Vorfahren. Ihm war nur der Beruf des Arztes und seine Schriftstellern, also wieder die Arbeit, wie bei Carlyle, Ersatz für das, was ihm an heitern und erfreulichen Gaben das Leben ebenfalls nicht gewährt hatte, als es ihn äußerlich zu beglücken schien. Hütte er diese Arbeit nicht gefunden, so würde er geradezu unglücklich geworden sein. Ganz anders ist es Goethes Jugendfreunde Klinger gegangen. Dem ist es wirklich „geglückt," ein vornehmer Mann zu werden. Er war der Sohn einer Wasch¬ frau und ist später nicht nur General geworden, sondern anch ein hochgebildeter und wirklich vornehmer Mann. Aber nun stelle man dazu noch einen, den letzten, an dem wir etwas zu beobachten haben, nämlich Seume! Dann ist die Reihe schon zu Ende. Seume stammte aus kleinbäuerlichen Verhältnissen, war nicht unbegabt, aber in seinen Schriften zeigt er sich durch und durch verärgert und vergrämelt, äußerlich genommen über Erscheinungen seiner Zeit, im Grunde aber doch über sich selbst, weil er es auf seinem unebnen Lebens¬ pfade zu keiner innern Harmonie hat bringen können. Ein äußerst trauriger Eindruck! Und diesen Eindruck hat man so oft in Schriften geistiger Parvenus, die noch nicht der Litteraturgeschichte angehören, und dann darf man wohl denken: wieviel Glück mußte erst zerstört werden, damit diese Kunstpflanze emporkommen konnte! Und hat dieses oder jenes Buch wirklich den Wert, daß darum erst ein natürliches, bescheidnes, bücherloses Menschenleben geknickt werden mußte? Es wird nicht unter die Sätze der „Klassenmoral" gerechnet werden dürfen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/515>, abgerufen am 16.06.2024.