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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Schillerpreisdramen

liebe Überreichtum der Vorgänge und die Wiederholungen der zu dieser Zeit
miteinander ringenden Gegensätze fast in jedem Einzelleben fördern und hemmen
zugleich die dramatische Gestaltung. Muß mau auch Wildeubruchs Dichtung
unbedingt zugestehen, daß sie das Haupterfordernis energischer Gedrängtheit
im Auge hat und behält, so kann man doch starke Bedenken nicht unterdrücken
gegen die wilden Sprünge, in denen die Handlung vorwärts eilt, um dafür
gewisse große theatralische Bilder breit und farbensatt auszumalen. Wilden¬
bruchs Talent, in mächtiger, kunstvoller Anlage den Anfängen seiner Dramen
eine große, fesselnde Wirkung zu sichern, bethätigt sich sowohl im ersten
Akt von "König Heinrich" als namentlich in den in ihrer Art gewaltigen
beideu ersten Akten von "Kaiser Heinrich." Hier ist Mannichfaltigkeit der
szenischen Wirkung, die Kunst, die verschiedensten Töne anzuschlagen und
in einen immer stärker anschwellenden Ton zusammenklingen zu lassen, hier
sind Ausbrüche und Aufeiunnderprall elementarer Leidenschaften, die immer
erschütternd und fortreißend wirken. Ebenso aber treffen wir auch in diese"
Dramen wieder auf deu plötzlichen Tausch des großem und wahrhaft aus
dein Innern der handelnden Gestalten wachsenden dramatischen Effekts mit
dem malerisch arrangirten, dein rührseligen oder überhitzt rednerische", auf
die Unklarheit oder Unentwickeltheit zahlreicher Charaktere, die zu viel mit¬
handeln, zu wuchtig und einschneidend sprechen, um als bloße Füllfiguren an¬
gesehen zu werden. An die Stelle der geistigen Spannung, die im Drama
allein walten soll, tritt in ganz entscheidenden Szenen die materielle Spannung
der Kulisseutechuik, ein Verfahren, bei dem der Ausdruck des Vvseu, des
Furchtbaren gleichsam nicht durch die Mimik, die der Widerschein des seelischen
Lebens ist, sondern durch grelle von der Seite her kommende Lichter erzielt
wird. Wir würden weit ausholen und die Doppeltragödie Szene für Szene
durchgehe" müssen, um überall die Mischung des Echten, innerlich Gereiften und
Nacherlebten und des theatralisch Äußerlichen nachzuweisen. Aber niemand,
der die Tragödien sieht, und vollends niemand, der sie liest, kann sich über
die Mängel täuschen; die Psyche vieler, namentlich der weiblichen Gestalten,
bleibt völlig dunkel, eine Figur wie Praxedis erscheint rein auf den alten
Köhlerglauben des deutschen Publikums gestellt, jede widerspruchsvolle und
ihre Widersprüche stark posirende Erscheinung für eine dümvnische zu halte".
Freilich wird die Berechnung auf die szenische Wirkung den Dichter in deu
wenigsten Füllen getäuscht haben; er verführt dabei mit so guter Kenntnis
des Publikums, daß er, nach der Gegenüberstellung der beiden ringenden
Mächte, des überreizten Köuigsbewußtseius in Heinrich IV. und des Päpst¬
lichen Weltbeherrschuugsanspruchs in Gregor VII. (im ersten und zweiten Akt
von "König Heinrich") das dramatisch größte Ergebnis des Zusammenstoßes:
die Wirkung des Bannfluchs auf König Heinrichs Volk, den Abfall der
Fürsten, das Verzagen der Massen, die Zerrüttung der Gemüter hinter die


Die Berliner Schillerpreisdramen

liebe Überreichtum der Vorgänge und die Wiederholungen der zu dieser Zeit
miteinander ringenden Gegensätze fast in jedem Einzelleben fördern und hemmen
zugleich die dramatische Gestaltung. Muß mau auch Wildeubruchs Dichtung
unbedingt zugestehen, daß sie das Haupterfordernis energischer Gedrängtheit
im Auge hat und behält, so kann man doch starke Bedenken nicht unterdrücken
gegen die wilden Sprünge, in denen die Handlung vorwärts eilt, um dafür
gewisse große theatralische Bilder breit und farbensatt auszumalen. Wilden¬
bruchs Talent, in mächtiger, kunstvoller Anlage den Anfängen seiner Dramen
eine große, fesselnde Wirkung zu sichern, bethätigt sich sowohl im ersten
Akt von „König Heinrich" als namentlich in den in ihrer Art gewaltigen
beideu ersten Akten von „Kaiser Heinrich." Hier ist Mannichfaltigkeit der
szenischen Wirkung, die Kunst, die verschiedensten Töne anzuschlagen und
in einen immer stärker anschwellenden Ton zusammenklingen zu lassen, hier
sind Ausbrüche und Aufeiunnderprall elementarer Leidenschaften, die immer
erschütternd und fortreißend wirken. Ebenso aber treffen wir auch in diese»
Dramen wieder auf deu plötzlichen Tausch des großem und wahrhaft aus
dein Innern der handelnden Gestalten wachsenden dramatischen Effekts mit
dem malerisch arrangirten, dein rührseligen oder überhitzt rednerische», auf
die Unklarheit oder Unentwickeltheit zahlreicher Charaktere, die zu viel mit¬
handeln, zu wuchtig und einschneidend sprechen, um als bloße Füllfiguren an¬
gesehen zu werden. An die Stelle der geistigen Spannung, die im Drama
allein walten soll, tritt in ganz entscheidenden Szenen die materielle Spannung
der Kulisseutechuik, ein Verfahren, bei dem der Ausdruck des Vvseu, des
Furchtbaren gleichsam nicht durch die Mimik, die der Widerschein des seelischen
Lebens ist, sondern durch grelle von der Seite her kommende Lichter erzielt
wird. Wir würden weit ausholen und die Doppeltragödie Szene für Szene
durchgehe» müssen, um überall die Mischung des Echten, innerlich Gereiften und
Nacherlebten und des theatralisch Äußerlichen nachzuweisen. Aber niemand,
der die Tragödien sieht, und vollends niemand, der sie liest, kann sich über
die Mängel täuschen; die Psyche vieler, namentlich der weiblichen Gestalten,
bleibt völlig dunkel, eine Figur wie Praxedis erscheint rein auf den alten
Köhlerglauben des deutschen Publikums gestellt, jede widerspruchsvolle und
ihre Widersprüche stark posirende Erscheinung für eine dümvnische zu halte«.
Freilich wird die Berechnung auf die szenische Wirkung den Dichter in deu
wenigsten Füllen getäuscht haben; er verführt dabei mit so guter Kenntnis
des Publikums, daß er, nach der Gegenüberstellung der beiden ringenden
Mächte, des überreizten Köuigsbewußtseius in Heinrich IV. und des Päpst¬
lichen Weltbeherrschuugsanspruchs in Gregor VII. (im ersten und zweiten Akt
von „König Heinrich") das dramatisch größte Ergebnis des Zusammenstoßes:
die Wirkung des Bannfluchs auf König Heinrichs Volk, den Abfall der
Fürsten, das Verzagen der Massen, die Zerrüttung der Gemüter hinter die


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[0037] Die Berliner Schillerpreisdramen liebe Überreichtum der Vorgänge und die Wiederholungen der zu dieser Zeit miteinander ringenden Gegensätze fast in jedem Einzelleben fördern und hemmen zugleich die dramatische Gestaltung. Muß mau auch Wildeubruchs Dichtung unbedingt zugestehen, daß sie das Haupterfordernis energischer Gedrängtheit im Auge hat und behält, so kann man doch starke Bedenken nicht unterdrücken gegen die wilden Sprünge, in denen die Handlung vorwärts eilt, um dafür gewisse große theatralische Bilder breit und farbensatt auszumalen. Wilden¬ bruchs Talent, in mächtiger, kunstvoller Anlage den Anfängen seiner Dramen eine große, fesselnde Wirkung zu sichern, bethätigt sich sowohl im ersten Akt von „König Heinrich" als namentlich in den in ihrer Art gewaltigen beideu ersten Akten von „Kaiser Heinrich." Hier ist Mannichfaltigkeit der szenischen Wirkung, die Kunst, die verschiedensten Töne anzuschlagen und in einen immer stärker anschwellenden Ton zusammenklingen zu lassen, hier sind Ausbrüche und Aufeiunnderprall elementarer Leidenschaften, die immer erschütternd und fortreißend wirken. Ebenso aber treffen wir auch in diese» Dramen wieder auf deu plötzlichen Tausch des großem und wahrhaft aus dein Innern der handelnden Gestalten wachsenden dramatischen Effekts mit dem malerisch arrangirten, dein rührseligen oder überhitzt rednerische», auf die Unklarheit oder Unentwickeltheit zahlreicher Charaktere, die zu viel mit¬ handeln, zu wuchtig und einschneidend sprechen, um als bloße Füllfiguren an¬ gesehen zu werden. An die Stelle der geistigen Spannung, die im Drama allein walten soll, tritt in ganz entscheidenden Szenen die materielle Spannung der Kulisseutechuik, ein Verfahren, bei dem der Ausdruck des Vvseu, des Furchtbaren gleichsam nicht durch die Mimik, die der Widerschein des seelischen Lebens ist, sondern durch grelle von der Seite her kommende Lichter erzielt wird. Wir würden weit ausholen und die Doppeltragödie Szene für Szene durchgehe» müssen, um überall die Mischung des Echten, innerlich Gereiften und Nacherlebten und des theatralisch Äußerlichen nachzuweisen. Aber niemand, der die Tragödien sieht, und vollends niemand, der sie liest, kann sich über die Mängel täuschen; die Psyche vieler, namentlich der weiblichen Gestalten, bleibt völlig dunkel, eine Figur wie Praxedis erscheint rein auf den alten Köhlerglauben des deutschen Publikums gestellt, jede widerspruchsvolle und ihre Widersprüche stark posirende Erscheinung für eine dümvnische zu halte«. Freilich wird die Berechnung auf die szenische Wirkung den Dichter in deu wenigsten Füllen getäuscht haben; er verführt dabei mit so guter Kenntnis des Publikums, daß er, nach der Gegenüberstellung der beiden ringenden Mächte, des überreizten Köuigsbewußtseius in Heinrich IV. und des Päpst¬ lichen Weltbeherrschuugsanspruchs in Gregor VII. (im ersten und zweiten Akt von „König Heinrich") das dramatisch größte Ergebnis des Zusammenstoßes: die Wirkung des Bannfluchs auf König Heinrichs Volk, den Abfall der Fürsten, das Verzagen der Massen, die Zerrüttung der Gemüter hinter die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/37>, abgerufen am 22.05.2024.