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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Schillerpreisdramen

Szene zu legen und an ihre Stelle die Auseinandersetzung des Königs mit
seinem ungeliebten und verkannten Weibe und die darauf folgende Nührszene
der mit den Weihnachtsbäumchen aufziehenden Kinder von Worms zu setzen
wagt, die aus Kotzebues Requisitenkammer ("Die Hussitten vor Naumburg")
zu stammen scheint.

Alle diese Bedenken müssen und noch viele andre im einzelnen können
geltend gemacht werden. Dennoch sind die nicht zu beneiden, die in Wilden¬
bruchs "Heinrich" nichts besseres zu sehen wissen, als eine mit Sprachglanz
aufpolirte Birchpfeifferiade. Die Parteisucht, die ans solchen Mißurteilen
spricht, ist zum großen Teil schuld daran, daß ein Dichter wie Wildenbruch
darin bestärkt wird, sich bei dem allgemeinen Schiffbruch unsrer ästhetischen
Überzeugungen an die greifbare und feste Planke des theatralisch Wirksamen,
des schauspielerisch, wo nicht poetisch Überzeugenden zu klammern. Der Be¬
schuldigung, deklamatorisch zu sein, sucht er sich durch die Prosaausführnug
der Heinrichdramen zu entwinden, wobei dann freilich zu Tage kommt, daß
auch in dieser Prosa, obschon sie gelegentlich epigrammatisch zugespitzt wird,
etwas stark Deklamatorisches steckt.

Auf alle Fälle aber haben wir in "König Heinrich" und "Kaiser Heinrich"
Tragödien vor uns, die von einer großen Absicht erfüllt sind, in denen
von weltgeschichtlichen, noch heute wehendem Odem eine Leidenschaftsflamme
höher getrieben wird, in denen soviel Phantasie, Situationsmalerei und
Lebensgefühl, soviel interessante Charakteristik wenigstens in einigen Haupt¬
gestalten vorhanden ist, daß sie ernstliche Teilnahme beanspruchen können. Wir
fechten auch die Erteilung des Schillerpreises an das Doppeldrama nicht an,
wir Protestiren nur dagegen, daß diese durch und durch dem Tage entstammten
Dichtungen, die auf Grund einer modernen Neigung, das Situationsdrama an
die Stelle des Charakterdramas zu setzen, aufgebaut und ausgeführt sind, als
Thpen und als Sündenböcke der alten Kunst gegenüber der neuen betrachtet
werden. Ihre Vorzüge in allen Ehren; doch gerade ihre Mängel sind es, die
keine Muster bei der alten Kunst finden. Ihr Mangel an Logik, ihr Mangel
an innerm Gleichmaß der Ausgestaltung, ihr Mangel an edler Einfachheit,
ihr nervöser, zuckender, übersteigerter Ausdruck entstammt keineswegs der alten
Kunst; in diesem Sinne wären ganz moderne Dichtungen wie Hebbels "Gyges
und sein Ring," Hebbels "Nibelungen" oder Ludwigs "Makkabüer" weit eher
Zeugnisse der alten Kunst als Wildenbruchs Heinrichdramen. Wenn alles
wahr wäre, was die Berliner naturalistisch-shmbolistische Kritik gegen das
preisgekrönte Werk vorgebracht hat (nicht die Hälfte davon ist wahr, und was
allenfalls unwiderlegbar ist, wird in gehässiger Übertreibung ausgedrückt), so
bewiese es nichts gegen die Kunstanschauung, die die Welt als das Gebiet des
Dichters ansieht und ihm die Freiheit zuspricht, nach Maßgabe seines Naturells
und seines innern Dranges sein Stück Welt darzustellen.


Die Berliner Schillerpreisdramen

Szene zu legen und an ihre Stelle die Auseinandersetzung des Königs mit
seinem ungeliebten und verkannten Weibe und die darauf folgende Nührszene
der mit den Weihnachtsbäumchen aufziehenden Kinder von Worms zu setzen
wagt, die aus Kotzebues Requisitenkammer („Die Hussitten vor Naumburg")
zu stammen scheint.

Alle diese Bedenken müssen und noch viele andre im einzelnen können
geltend gemacht werden. Dennoch sind die nicht zu beneiden, die in Wilden¬
bruchs „Heinrich" nichts besseres zu sehen wissen, als eine mit Sprachglanz
aufpolirte Birchpfeifferiade. Die Parteisucht, die ans solchen Mißurteilen
spricht, ist zum großen Teil schuld daran, daß ein Dichter wie Wildenbruch
darin bestärkt wird, sich bei dem allgemeinen Schiffbruch unsrer ästhetischen
Überzeugungen an die greifbare und feste Planke des theatralisch Wirksamen,
des schauspielerisch, wo nicht poetisch Überzeugenden zu klammern. Der Be¬
schuldigung, deklamatorisch zu sein, sucht er sich durch die Prosaausführnug
der Heinrichdramen zu entwinden, wobei dann freilich zu Tage kommt, daß
auch in dieser Prosa, obschon sie gelegentlich epigrammatisch zugespitzt wird,
etwas stark Deklamatorisches steckt.

Auf alle Fälle aber haben wir in „König Heinrich" und „Kaiser Heinrich"
Tragödien vor uns, die von einer großen Absicht erfüllt sind, in denen
von weltgeschichtlichen, noch heute wehendem Odem eine Leidenschaftsflamme
höher getrieben wird, in denen soviel Phantasie, Situationsmalerei und
Lebensgefühl, soviel interessante Charakteristik wenigstens in einigen Haupt¬
gestalten vorhanden ist, daß sie ernstliche Teilnahme beanspruchen können. Wir
fechten auch die Erteilung des Schillerpreises an das Doppeldrama nicht an,
wir Protestiren nur dagegen, daß diese durch und durch dem Tage entstammten
Dichtungen, die auf Grund einer modernen Neigung, das Situationsdrama an
die Stelle des Charakterdramas zu setzen, aufgebaut und ausgeführt sind, als
Thpen und als Sündenböcke der alten Kunst gegenüber der neuen betrachtet
werden. Ihre Vorzüge in allen Ehren; doch gerade ihre Mängel sind es, die
keine Muster bei der alten Kunst finden. Ihr Mangel an Logik, ihr Mangel
an innerm Gleichmaß der Ausgestaltung, ihr Mangel an edler Einfachheit,
ihr nervöser, zuckender, übersteigerter Ausdruck entstammt keineswegs der alten
Kunst; in diesem Sinne wären ganz moderne Dichtungen wie Hebbels „Gyges
und sein Ring," Hebbels „Nibelungen" oder Ludwigs „Makkabüer" weit eher
Zeugnisse der alten Kunst als Wildenbruchs Heinrichdramen. Wenn alles
wahr wäre, was die Berliner naturalistisch-shmbolistische Kritik gegen das
preisgekrönte Werk vorgebracht hat (nicht die Hälfte davon ist wahr, und was
allenfalls unwiderlegbar ist, wird in gehässiger Übertreibung ausgedrückt), so
bewiese es nichts gegen die Kunstanschauung, die die Welt als das Gebiet des
Dichters ansieht und ihm die Freiheit zuspricht, nach Maßgabe seines Naturells
und seines innern Dranges sein Stück Welt darzustellen.


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[0038] Die Berliner Schillerpreisdramen Szene zu legen und an ihre Stelle die Auseinandersetzung des Königs mit seinem ungeliebten und verkannten Weibe und die darauf folgende Nührszene der mit den Weihnachtsbäumchen aufziehenden Kinder von Worms zu setzen wagt, die aus Kotzebues Requisitenkammer („Die Hussitten vor Naumburg") zu stammen scheint. Alle diese Bedenken müssen und noch viele andre im einzelnen können geltend gemacht werden. Dennoch sind die nicht zu beneiden, die in Wilden¬ bruchs „Heinrich" nichts besseres zu sehen wissen, als eine mit Sprachglanz aufpolirte Birchpfeifferiade. Die Parteisucht, die ans solchen Mißurteilen spricht, ist zum großen Teil schuld daran, daß ein Dichter wie Wildenbruch darin bestärkt wird, sich bei dem allgemeinen Schiffbruch unsrer ästhetischen Überzeugungen an die greifbare und feste Planke des theatralisch Wirksamen, des schauspielerisch, wo nicht poetisch Überzeugenden zu klammern. Der Be¬ schuldigung, deklamatorisch zu sein, sucht er sich durch die Prosaausführnug der Heinrichdramen zu entwinden, wobei dann freilich zu Tage kommt, daß auch in dieser Prosa, obschon sie gelegentlich epigrammatisch zugespitzt wird, etwas stark Deklamatorisches steckt. Auf alle Fälle aber haben wir in „König Heinrich" und „Kaiser Heinrich" Tragödien vor uns, die von einer großen Absicht erfüllt sind, in denen von weltgeschichtlichen, noch heute wehendem Odem eine Leidenschaftsflamme höher getrieben wird, in denen soviel Phantasie, Situationsmalerei und Lebensgefühl, soviel interessante Charakteristik wenigstens in einigen Haupt¬ gestalten vorhanden ist, daß sie ernstliche Teilnahme beanspruchen können. Wir fechten auch die Erteilung des Schillerpreises an das Doppeldrama nicht an, wir Protestiren nur dagegen, daß diese durch und durch dem Tage entstammten Dichtungen, die auf Grund einer modernen Neigung, das Situationsdrama an die Stelle des Charakterdramas zu setzen, aufgebaut und ausgeführt sind, als Thpen und als Sündenböcke der alten Kunst gegenüber der neuen betrachtet werden. Ihre Vorzüge in allen Ehren; doch gerade ihre Mängel sind es, die keine Muster bei der alten Kunst finden. Ihr Mangel an Logik, ihr Mangel an innerm Gleichmaß der Ausgestaltung, ihr Mangel an edler Einfachheit, ihr nervöser, zuckender, übersteigerter Ausdruck entstammt keineswegs der alten Kunst; in diesem Sinne wären ganz moderne Dichtungen wie Hebbels „Gyges und sein Ring," Hebbels „Nibelungen" oder Ludwigs „Makkabüer" weit eher Zeugnisse der alten Kunst als Wildenbruchs Heinrichdramen. Wenn alles wahr wäre, was die Berliner naturalistisch-shmbolistische Kritik gegen das preisgekrönte Werk vorgebracht hat (nicht die Hälfte davon ist wahr, und was allenfalls unwiderlegbar ist, wird in gehässiger Übertreibung ausgedrückt), so bewiese es nichts gegen die Kunstanschauung, die die Welt als das Gebiet des Dichters ansieht und ihm die Freiheit zuspricht, nach Maßgabe seines Naturells und seines innern Dranges sein Stück Welt darzustellen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/38>, abgerufen am 21.05.2024.