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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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John Brinckman

Thatsache, die zwar widerspruchsvoll zu sein scheint, aber durchaus logisch und
begreiflich ist. Denn als durch die großartige Ausdehnung des Verkehrs die
provinzielle Abgeschiedenheit überall mehr und mehr aufgehoben wurde, mußten
auch die plattdeutschen Landesteile ihre jahrhundertelang gepflegte sprachliche
und ästhetische Sonderstellung aufgeben und notgedrungen den ihrer Behaglichkeit
unbequemen Anschluß suchen. Sie sträubten sich aber gegen diesen Zwang
und bemühten sich, ihre Eigenart in letzter Stunde noch damit zu retten, daß
sie mit frischen und großen Kräften in den litterarischen Wettbewerb mit dem
Hochdeutschen eintraten. Und da die neuere Zeit ein allgemeines Verständnis
angebahnt hatte, so fanden die besten plattdeutschen Dichter auch bald in ganz
Deutschland Anklang und Beifall.

Freilich nicht alle. Nur Klaus Groth und Fritz Reuter sind vollständig
durchgedrungen und fast zu einem Weltruf gelangt; John Brinckman aber ist
ziemlich unbekannt geblieben, obgleich sich mancher für ihn bemüht hat. Erst
ganz neuerdings (vielleicht infolge eines übrigens nur kurzen und unvollständigen
Aufsatzes seines glücklichern Landsmanns Heinrich Seidel im Daheim, 1893)
scheint wenigstens das Hauptwerk Brinckmanns "Kasper-Ohm un ick" mehr
gelesen zu werden, wie aus dem Erscheinen der fünften, jetzt vielleicht gar
schon der sechsten Auflage geschlossen werden darf. Aber wie lange hat das
gedauert, wenn man bedenkt, daß der Dichter vor achtzig Jahren geboren
wurde und schon fast siebenundzwanzig Jahre tot ist!

Von John Brinckmans Leben wissen wir nicht viel, aber immerhin genug,
um den Kern seiner Persönlichkeit begreifen zu können. Er wurde als der
Sohn eines ursprünglich wohl begüterten Reeders in Rostock am 3. Juli 1817
geboren und verlebte am Warnowstrande eine fröhliche und ziemlich ungebundne
Kinderzeit, die sich zum Teil in seinem "Kasper-Ohm" wiederspiegelt. So
entspricht z. B. der tolle Streich auf dem Ballastplatz (Andrees läßt von
seinen als Türken verkleideten Kameraden ein größeres Schiffsmodell vor den
Augen des verschrobnen sächsischen Professorsohnes in die Luft sprengen)
wirklichen Vorkommnissen; denn angeregt dnrch den griechischen Freiheitskrieg
übte sich die Rostocker Jugend der zwanziger Jahre öfter in der Sprengung
derartiger Pulverminen, und der Vater des Verfassers hätte bei einer solchen
Gelegenheit fast sein Augenlicht eingebüßt, weil der Schwefelfaden die Ent¬
zündung gerade in dem Augenblick herbeiführte, als sich der Knabe über den
Sandhaufen bückte, um nach der Verzögerung der Explosion zu spähen. Auch
die sächsischen Professoren und Professorensöhne, die in "Kaspar-Ohm" durch
Kncillerballer, alias Doktor Spirfix, und seinen Sohn Eucharins-Eikater ver¬
treten werden, sind eine Eigentümlichkeit des damaligen Rostock gewesen: der
allmächtige Gottfried Herrmann versorgte die Rostocker Universität von Leipzig
aus mit solchen, nicht unbedingt zum Vorteil des gegenseitigen Verständnisses
von Lehrer und Schüler (denn verschiedne Universitätsprofessoren waren gleich-


John Brinckman

Thatsache, die zwar widerspruchsvoll zu sein scheint, aber durchaus logisch und
begreiflich ist. Denn als durch die großartige Ausdehnung des Verkehrs die
provinzielle Abgeschiedenheit überall mehr und mehr aufgehoben wurde, mußten
auch die plattdeutschen Landesteile ihre jahrhundertelang gepflegte sprachliche
und ästhetische Sonderstellung aufgeben und notgedrungen den ihrer Behaglichkeit
unbequemen Anschluß suchen. Sie sträubten sich aber gegen diesen Zwang
und bemühten sich, ihre Eigenart in letzter Stunde noch damit zu retten, daß
sie mit frischen und großen Kräften in den litterarischen Wettbewerb mit dem
Hochdeutschen eintraten. Und da die neuere Zeit ein allgemeines Verständnis
angebahnt hatte, so fanden die besten plattdeutschen Dichter auch bald in ganz
Deutschland Anklang und Beifall.

Freilich nicht alle. Nur Klaus Groth und Fritz Reuter sind vollständig
durchgedrungen und fast zu einem Weltruf gelangt; John Brinckman aber ist
ziemlich unbekannt geblieben, obgleich sich mancher für ihn bemüht hat. Erst
ganz neuerdings (vielleicht infolge eines übrigens nur kurzen und unvollständigen
Aufsatzes seines glücklichern Landsmanns Heinrich Seidel im Daheim, 1893)
scheint wenigstens das Hauptwerk Brinckmanns „Kasper-Ohm un ick" mehr
gelesen zu werden, wie aus dem Erscheinen der fünften, jetzt vielleicht gar
schon der sechsten Auflage geschlossen werden darf. Aber wie lange hat das
gedauert, wenn man bedenkt, daß der Dichter vor achtzig Jahren geboren
wurde und schon fast siebenundzwanzig Jahre tot ist!

Von John Brinckmans Leben wissen wir nicht viel, aber immerhin genug,
um den Kern seiner Persönlichkeit begreifen zu können. Er wurde als der
Sohn eines ursprünglich wohl begüterten Reeders in Rostock am 3. Juli 1817
geboren und verlebte am Warnowstrande eine fröhliche und ziemlich ungebundne
Kinderzeit, die sich zum Teil in seinem „Kasper-Ohm" wiederspiegelt. So
entspricht z. B. der tolle Streich auf dem Ballastplatz (Andrees läßt von
seinen als Türken verkleideten Kameraden ein größeres Schiffsmodell vor den
Augen des verschrobnen sächsischen Professorsohnes in die Luft sprengen)
wirklichen Vorkommnissen; denn angeregt dnrch den griechischen Freiheitskrieg
übte sich die Rostocker Jugend der zwanziger Jahre öfter in der Sprengung
derartiger Pulverminen, und der Vater des Verfassers hätte bei einer solchen
Gelegenheit fast sein Augenlicht eingebüßt, weil der Schwefelfaden die Ent¬
zündung gerade in dem Augenblick herbeiführte, als sich der Knabe über den
Sandhaufen bückte, um nach der Verzögerung der Explosion zu spähen. Auch
die sächsischen Professoren und Professorensöhne, die in „Kaspar-Ohm" durch
Kncillerballer, alias Doktor Spirfix, und seinen Sohn Eucharins-Eikater ver¬
treten werden, sind eine Eigentümlichkeit des damaligen Rostock gewesen: der
allmächtige Gottfried Herrmann versorgte die Rostocker Universität von Leipzig
aus mit solchen, nicht unbedingt zum Vorteil des gegenseitigen Verständnisses
von Lehrer und Schüler (denn verschiedne Universitätsprofessoren waren gleich-


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[0126] John Brinckman Thatsache, die zwar widerspruchsvoll zu sein scheint, aber durchaus logisch und begreiflich ist. Denn als durch die großartige Ausdehnung des Verkehrs die provinzielle Abgeschiedenheit überall mehr und mehr aufgehoben wurde, mußten auch die plattdeutschen Landesteile ihre jahrhundertelang gepflegte sprachliche und ästhetische Sonderstellung aufgeben und notgedrungen den ihrer Behaglichkeit unbequemen Anschluß suchen. Sie sträubten sich aber gegen diesen Zwang und bemühten sich, ihre Eigenart in letzter Stunde noch damit zu retten, daß sie mit frischen und großen Kräften in den litterarischen Wettbewerb mit dem Hochdeutschen eintraten. Und da die neuere Zeit ein allgemeines Verständnis angebahnt hatte, so fanden die besten plattdeutschen Dichter auch bald in ganz Deutschland Anklang und Beifall. Freilich nicht alle. Nur Klaus Groth und Fritz Reuter sind vollständig durchgedrungen und fast zu einem Weltruf gelangt; John Brinckman aber ist ziemlich unbekannt geblieben, obgleich sich mancher für ihn bemüht hat. Erst ganz neuerdings (vielleicht infolge eines übrigens nur kurzen und unvollständigen Aufsatzes seines glücklichern Landsmanns Heinrich Seidel im Daheim, 1893) scheint wenigstens das Hauptwerk Brinckmanns „Kasper-Ohm un ick" mehr gelesen zu werden, wie aus dem Erscheinen der fünften, jetzt vielleicht gar schon der sechsten Auflage geschlossen werden darf. Aber wie lange hat das gedauert, wenn man bedenkt, daß der Dichter vor achtzig Jahren geboren wurde und schon fast siebenundzwanzig Jahre tot ist! Von John Brinckmans Leben wissen wir nicht viel, aber immerhin genug, um den Kern seiner Persönlichkeit begreifen zu können. Er wurde als der Sohn eines ursprünglich wohl begüterten Reeders in Rostock am 3. Juli 1817 geboren und verlebte am Warnowstrande eine fröhliche und ziemlich ungebundne Kinderzeit, die sich zum Teil in seinem „Kasper-Ohm" wiederspiegelt. So entspricht z. B. der tolle Streich auf dem Ballastplatz (Andrees läßt von seinen als Türken verkleideten Kameraden ein größeres Schiffsmodell vor den Augen des verschrobnen sächsischen Professorsohnes in die Luft sprengen) wirklichen Vorkommnissen; denn angeregt dnrch den griechischen Freiheitskrieg übte sich die Rostocker Jugend der zwanziger Jahre öfter in der Sprengung derartiger Pulverminen, und der Vater des Verfassers hätte bei einer solchen Gelegenheit fast sein Augenlicht eingebüßt, weil der Schwefelfaden die Ent¬ zündung gerade in dem Augenblick herbeiführte, als sich der Knabe über den Sandhaufen bückte, um nach der Verzögerung der Explosion zu spähen. Auch die sächsischen Professoren und Professorensöhne, die in „Kaspar-Ohm" durch Kncillerballer, alias Doktor Spirfix, und seinen Sohn Eucharins-Eikater ver¬ treten werden, sind eine Eigentümlichkeit des damaligen Rostock gewesen: der allmächtige Gottfried Herrmann versorgte die Rostocker Universität von Leipzig aus mit solchen, nicht unbedingt zum Vorteil des gegenseitigen Verständnisses von Lehrer und Schüler (denn verschiedne Universitätsprofessoren waren gleich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/126>, abgerufen am 17.06.2024.