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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Altbairische Wanderungen

Baiern bis zur Salzach, wo Burghausen, die alte Hauptstadt bairischer Herzöge,
sich als ein Kleinod aus alter Zeit erhebt. Niemand versäume dort in den
stimmungsvollen Schloßhof einzutreten. Wer kennt Wasserburg am Jnn, die
grünnmflosseue Jnselstcidt mit ihren Türmen und Thoren? Wer das schön
gelegne Gars mit seinem schloßartigen Kloster? Wer weiß überhaupt von
der Schönheit des Innthales bei Sosen und Mühldorf, wo sich über der
kalkweißen Sohle schöne Waldberge in dichter Reihe erheben und unter hohen
Buchen zahlreiche kleine Seen stehen? Von dem welligen, waldigen Lande, das
Jsar und Jnn in ihrem untern Laufe umfassen, wo der Fernblick auf die ebeu
noch heraufdämmernden schönen Felsgipfel des Watzmann und des Wendelstein
an die Nähe der Alpen erinnert, die übrigens auch von der grünen Farbe
jener gletscher- und sirnentsprungnen Flüsse verkündet wird, und -- für den
tiefern Blick -- von der alten Moränenlandschaft des Diluvialgletschers mit
ihrem Reichtum an kleinen Seen und großen Mooren, weiß Deutschland wenig.
Zwar ist ein Faden des Weltverkehrsnetzes mitten hindurch gezogen, die Eisen¬
bahnlinie München--Simbach--Wien, die bei Mühldorf den Jun überschreitet,
die Linie des Orientexpreßzuges. Aber die Leute, die auf dem schmalen Stahl¬
wege durch Ober- und Niederbaiern sausen, haben in diesem Lande, das ihnen
reizlos erscheint, weil es nichts Auffallendes bietet, gerade Zeit an die Ver¬
gnügungen zu denken, die sie eben in München verlassen haben, oder an die
Geschäfte, die sie in Wien machen werden. Die Morgensonne, die die Watz-
mannschneide anglüht, die Abendsonne, die die Fenster der schloßartigen Bauern¬
höfe in Flammen setzt, läßt ihnen höchstens eine Seifenblase durch die Land¬
schaft fliegen und weckt eine Ahnung, daß das keine ganz leeren Raume seien.
Eine angenehme Beigabe in dem Zustande des Schlafwachens, in dem man
große Eisenbahnfahrtcn zurücklegt; weiter nichts! Wen kann ein Land inter-
essiren, wo es keine großen Städte, keine blühende Industrie -- wie duften
diese Blüten? -- giebt, und von dem die landläufigen Geschichtsbücher nichts
andres zu sagen wissen, als daß auf dem Schlachtfeld von Ampsing bei Mühl¬
dorf zwischen Ludwig dem Valer und Friedrich dem Schonen von Osterreich
entschieden worden sei?

Steige doch der Reisende, der Zeit und Sinn hat, irgendwo aus, nach¬
dem er den Jnn bei Mühldorf gekreuzt hat, und wandre ins Land hinein.
Nördlich von der Bahnlinie betritt er die Landstraße, auf der sich einst der
große Verkehr zwischen München und Wien bewegte. Zeugen davon sind die
breite Anlage, die weit über die heutigen Bedürfnisse hinausgeht, und in den
größern Dörfern ein altes Pvstwirtshaus mit überzähligen Fremdenzimmern, die
als landwirtschaftliche Vorratskammern dienen. Es steht meist an einer Straßen¬
kreuzung, hat ein hellfenstriges Gastzimmer, oft mit freundlichem Erker. Wenn
es nicht modernisirt ist, zeigen Möbel und Bilder an, daß es seine letzte
Erneuerung in den zwanziger oder dreißiger Jahren erfahren hat. Man findet


Altbairische Wanderungen

Baiern bis zur Salzach, wo Burghausen, die alte Hauptstadt bairischer Herzöge,
sich als ein Kleinod aus alter Zeit erhebt. Niemand versäume dort in den
stimmungsvollen Schloßhof einzutreten. Wer kennt Wasserburg am Jnn, die
grünnmflosseue Jnselstcidt mit ihren Türmen und Thoren? Wer das schön
gelegne Gars mit seinem schloßartigen Kloster? Wer weiß überhaupt von
der Schönheit des Innthales bei Sosen und Mühldorf, wo sich über der
kalkweißen Sohle schöne Waldberge in dichter Reihe erheben und unter hohen
Buchen zahlreiche kleine Seen stehen? Von dem welligen, waldigen Lande, das
Jsar und Jnn in ihrem untern Laufe umfassen, wo der Fernblick auf die ebeu
noch heraufdämmernden schönen Felsgipfel des Watzmann und des Wendelstein
an die Nähe der Alpen erinnert, die übrigens auch von der grünen Farbe
jener gletscher- und sirnentsprungnen Flüsse verkündet wird, und — für den
tiefern Blick — von der alten Moränenlandschaft des Diluvialgletschers mit
ihrem Reichtum an kleinen Seen und großen Mooren, weiß Deutschland wenig.
Zwar ist ein Faden des Weltverkehrsnetzes mitten hindurch gezogen, die Eisen¬
bahnlinie München—Simbach—Wien, die bei Mühldorf den Jun überschreitet,
die Linie des Orientexpreßzuges. Aber die Leute, die auf dem schmalen Stahl¬
wege durch Ober- und Niederbaiern sausen, haben in diesem Lande, das ihnen
reizlos erscheint, weil es nichts Auffallendes bietet, gerade Zeit an die Ver¬
gnügungen zu denken, die sie eben in München verlassen haben, oder an die
Geschäfte, die sie in Wien machen werden. Die Morgensonne, die die Watz-
mannschneide anglüht, die Abendsonne, die die Fenster der schloßartigen Bauern¬
höfe in Flammen setzt, läßt ihnen höchstens eine Seifenblase durch die Land¬
schaft fliegen und weckt eine Ahnung, daß das keine ganz leeren Raume seien.
Eine angenehme Beigabe in dem Zustande des Schlafwachens, in dem man
große Eisenbahnfahrtcn zurücklegt; weiter nichts! Wen kann ein Land inter-
essiren, wo es keine großen Städte, keine blühende Industrie — wie duften
diese Blüten? — giebt, und von dem die landläufigen Geschichtsbücher nichts
andres zu sagen wissen, als daß auf dem Schlachtfeld von Ampsing bei Mühl¬
dorf zwischen Ludwig dem Valer und Friedrich dem Schonen von Osterreich
entschieden worden sei?

Steige doch der Reisende, der Zeit und Sinn hat, irgendwo aus, nach¬
dem er den Jnn bei Mühldorf gekreuzt hat, und wandre ins Land hinein.
Nördlich von der Bahnlinie betritt er die Landstraße, auf der sich einst der
große Verkehr zwischen München und Wien bewegte. Zeugen davon sind die
breite Anlage, die weit über die heutigen Bedürfnisse hinausgeht, und in den
größern Dörfern ein altes Pvstwirtshaus mit überzähligen Fremdenzimmern, die
als landwirtschaftliche Vorratskammern dienen. Es steht meist an einer Straßen¬
kreuzung, hat ein hellfenstriges Gastzimmer, oft mit freundlichem Erker. Wenn
es nicht modernisirt ist, zeigen Möbel und Bilder an, daß es seine letzte
Erneuerung in den zwanziger oder dreißiger Jahren erfahren hat. Man findet


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[0146] Altbairische Wanderungen Baiern bis zur Salzach, wo Burghausen, die alte Hauptstadt bairischer Herzöge, sich als ein Kleinod aus alter Zeit erhebt. Niemand versäume dort in den stimmungsvollen Schloßhof einzutreten. Wer kennt Wasserburg am Jnn, die grünnmflosseue Jnselstcidt mit ihren Türmen und Thoren? Wer das schön gelegne Gars mit seinem schloßartigen Kloster? Wer weiß überhaupt von der Schönheit des Innthales bei Sosen und Mühldorf, wo sich über der kalkweißen Sohle schöne Waldberge in dichter Reihe erheben und unter hohen Buchen zahlreiche kleine Seen stehen? Von dem welligen, waldigen Lande, das Jsar und Jnn in ihrem untern Laufe umfassen, wo der Fernblick auf die ebeu noch heraufdämmernden schönen Felsgipfel des Watzmann und des Wendelstein an die Nähe der Alpen erinnert, die übrigens auch von der grünen Farbe jener gletscher- und sirnentsprungnen Flüsse verkündet wird, und — für den tiefern Blick — von der alten Moränenlandschaft des Diluvialgletschers mit ihrem Reichtum an kleinen Seen und großen Mooren, weiß Deutschland wenig. Zwar ist ein Faden des Weltverkehrsnetzes mitten hindurch gezogen, die Eisen¬ bahnlinie München—Simbach—Wien, die bei Mühldorf den Jun überschreitet, die Linie des Orientexpreßzuges. Aber die Leute, die auf dem schmalen Stahl¬ wege durch Ober- und Niederbaiern sausen, haben in diesem Lande, das ihnen reizlos erscheint, weil es nichts Auffallendes bietet, gerade Zeit an die Ver¬ gnügungen zu denken, die sie eben in München verlassen haben, oder an die Geschäfte, die sie in Wien machen werden. Die Morgensonne, die die Watz- mannschneide anglüht, die Abendsonne, die die Fenster der schloßartigen Bauern¬ höfe in Flammen setzt, läßt ihnen höchstens eine Seifenblase durch die Land¬ schaft fliegen und weckt eine Ahnung, daß das keine ganz leeren Raume seien. Eine angenehme Beigabe in dem Zustande des Schlafwachens, in dem man große Eisenbahnfahrtcn zurücklegt; weiter nichts! Wen kann ein Land inter- essiren, wo es keine großen Städte, keine blühende Industrie — wie duften diese Blüten? — giebt, und von dem die landläufigen Geschichtsbücher nichts andres zu sagen wissen, als daß auf dem Schlachtfeld von Ampsing bei Mühl¬ dorf zwischen Ludwig dem Valer und Friedrich dem Schonen von Osterreich entschieden worden sei? Steige doch der Reisende, der Zeit und Sinn hat, irgendwo aus, nach¬ dem er den Jnn bei Mühldorf gekreuzt hat, und wandre ins Land hinein. Nördlich von der Bahnlinie betritt er die Landstraße, auf der sich einst der große Verkehr zwischen München und Wien bewegte. Zeugen davon sind die breite Anlage, die weit über die heutigen Bedürfnisse hinausgeht, und in den größern Dörfern ein altes Pvstwirtshaus mit überzähligen Fremdenzimmern, die als landwirtschaftliche Vorratskammern dienen. Es steht meist an einer Straßen¬ kreuzung, hat ein hellfenstriges Gastzimmer, oft mit freundlichem Erker. Wenn es nicht modernisirt ist, zeigen Möbel und Bilder an, daß es seine letzte Erneuerung in den zwanziger oder dreißiger Jahren erfahren hat. Man findet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/146>, abgerufen am 17.06.2024.