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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Aornpreise und Industrie

sieben Prozent der englischen im Werte ausmacht. Aber der seit etwa zwanzig
Jahren bemerkbare Aufschwung unsrer Industrie und des Absatzes ihrer Er¬
zeugnisse nach andern Weltteilen hat schon die Eifersucht unsrer Vettern so
weit erregt, daß ihr Zorn bei passender und auch bei unpassender Gelegenheit
durchzubrechen begonnen hat. Wenn wir wünschen und hoffen, auf dem ein¬
geschlagnen Wege der industriellen und merkantilen Entwicklung weiter zu
gehen, so müssen wir uns darauf gefaßt machen, diese Eifersucht sich parallel
steigern zu sehen, und wir können ziemlich gewiß sein, bei einem Kriege
mit einer europäischen Großmacht England nicht mehr grollend und unthätig
wie 1870, sondern uns feindselig gegenüber zu sehen. So weit entfernt wir heute
vielleicht von einem solchen Kriege sein mögen, so verhängnisvoll wäre es,
wenn wir einmal unvorbereitet von ihm überrascht würden.

Schon die wachsende Mißstimmung Englands gegen uns treibt uns all-
mühlich in die Arme Rußlands, wie es die Feindschaft Frankreichs gethan hat.
Offner Bruch würde uus vollends zur Unterwerfung unter russischen Willen
nötigen, und zwar umso mehr, je abhängiger wir von der russischen Kornein¬
fuhr wären. Das mangelnde eigne Brot macht uns von Nußland, die
mangelnde Flottenmacht von England abhängig. Wie beugen wir dieser
doppelten Gefahr vor?

Nicht indem wir unsern Ackerbauern raten, Gemüse zu bauen, sondern
indem wir die Erhaltung, die Mehrung des Korubaues selbst mit großen
Opfern fördern, emanzipiren wir uns von Nußland. Sonst müßten wir in
unserm Osten politisch und wirtschaftlich abhängige Gebiete zu erwerben
streben, das heißt wir müßten uus mit den Waffen in der Hand gegen
Nußland Luft schaffen. Wollen wir das nicht, nun so sollten wir unsern
heimischen Kornbau sorgfältigst pflegen und fördern. Ferner aber sollten wir
beizeiten unsre überseeische Zufuhr und Ausfuhr zu schützen suchen durch
Mehrung der Flotte.

So viele Differenzpunkte wir mit unsern festländischen Nachbarn, besonders
in Ost und West, haben mögen, in einem Punkte decken sich unsre Interessen:
in der gemeinsamen Bedrohung durch die englische Übermacht zur See. Hier
das Gleichgewicht wenigstens einigermaßen wieder herzustellen, das längst als
ausschlaggebend in der kontinentalen Politik zur Geltung gelangt wäre, wenn
man sich nicht mit der Blindheit von Kampfhähnen in Fragen von weit
geringerer Bedeutung verbissen hätte -- wo gäbe es eine Aufgabe, eine
Frage von größerer Tragweite für die Staaten unsers Kontinents? Selbst
das Wachsen des slawische" Kolosses hat nicht die allgemeine Bedeutung für
Westeuropa, denn im Notfall ist der Koloß sür uns erreichbar. England ist
unangreifbar, so scheint es fast, und allein zur See gebietend. Während wir
uns um Kreta, um die türkische Zukunft, um die Herrschaft dieser oder jener
Sprache in Böhmen, Ungarn, Polen, den Ostseeprovinzen, Serbien usw. balgen,


Aornpreise und Industrie

sieben Prozent der englischen im Werte ausmacht. Aber der seit etwa zwanzig
Jahren bemerkbare Aufschwung unsrer Industrie und des Absatzes ihrer Er¬
zeugnisse nach andern Weltteilen hat schon die Eifersucht unsrer Vettern so
weit erregt, daß ihr Zorn bei passender und auch bei unpassender Gelegenheit
durchzubrechen begonnen hat. Wenn wir wünschen und hoffen, auf dem ein¬
geschlagnen Wege der industriellen und merkantilen Entwicklung weiter zu
gehen, so müssen wir uns darauf gefaßt machen, diese Eifersucht sich parallel
steigern zu sehen, und wir können ziemlich gewiß sein, bei einem Kriege
mit einer europäischen Großmacht England nicht mehr grollend und unthätig
wie 1870, sondern uns feindselig gegenüber zu sehen. So weit entfernt wir heute
vielleicht von einem solchen Kriege sein mögen, so verhängnisvoll wäre es,
wenn wir einmal unvorbereitet von ihm überrascht würden.

Schon die wachsende Mißstimmung Englands gegen uns treibt uns all-
mühlich in die Arme Rußlands, wie es die Feindschaft Frankreichs gethan hat.
Offner Bruch würde uus vollends zur Unterwerfung unter russischen Willen
nötigen, und zwar umso mehr, je abhängiger wir von der russischen Kornein¬
fuhr wären. Das mangelnde eigne Brot macht uns von Nußland, die
mangelnde Flottenmacht von England abhängig. Wie beugen wir dieser
doppelten Gefahr vor?

Nicht indem wir unsern Ackerbauern raten, Gemüse zu bauen, sondern
indem wir die Erhaltung, die Mehrung des Korubaues selbst mit großen
Opfern fördern, emanzipiren wir uns von Nußland. Sonst müßten wir in
unserm Osten politisch und wirtschaftlich abhängige Gebiete zu erwerben
streben, das heißt wir müßten uus mit den Waffen in der Hand gegen
Nußland Luft schaffen. Wollen wir das nicht, nun so sollten wir unsern
heimischen Kornbau sorgfältigst pflegen und fördern. Ferner aber sollten wir
beizeiten unsre überseeische Zufuhr und Ausfuhr zu schützen suchen durch
Mehrung der Flotte.

So viele Differenzpunkte wir mit unsern festländischen Nachbarn, besonders
in Ost und West, haben mögen, in einem Punkte decken sich unsre Interessen:
in der gemeinsamen Bedrohung durch die englische Übermacht zur See. Hier
das Gleichgewicht wenigstens einigermaßen wieder herzustellen, das längst als
ausschlaggebend in der kontinentalen Politik zur Geltung gelangt wäre, wenn
man sich nicht mit der Blindheit von Kampfhähnen in Fragen von weit
geringerer Bedeutung verbissen hätte — wo gäbe es eine Aufgabe, eine
Frage von größerer Tragweite für die Staaten unsers Kontinents? Selbst
das Wachsen des slawische» Kolosses hat nicht die allgemeine Bedeutung für
Westeuropa, denn im Notfall ist der Koloß sür uns erreichbar. England ist
unangreifbar, so scheint es fast, und allein zur See gebietend. Während wir
uns um Kreta, um die türkische Zukunft, um die Herrschaft dieser oder jener
Sprache in Böhmen, Ungarn, Polen, den Ostseeprovinzen, Serbien usw. balgen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/20>, abgerufen am 26.05.2024.