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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Ans Maximilian Klingers Leben

aufgestellt hat, und ein solches Muster! 5) Und sprechen nicht alle seine Leute
so weise und gebildet, wie der Verfasser oder ihr Schöpfer? Wahrlich, man
weiß gar nicht, wo man sich vor der Klugheit dieser Leute hiurctteu soll; das
sind alles verkleidete Goethechens. Und so wie Herr Meister sehr gerühmt
wird, daß er sich von dem rohen gemeinbürgcrlichen Haufen loszumachen sucht,
um unter dem edelgebornen und hochcrleuchteten Häufchen Platz zu nehmen,
so rühmt man hier gar gewaltig das wohlgefülltc Haus. Was nun wir armen
Bürgerlichen in dem Meister, und das Bettelvolk in dem Gedicht für Trost
finden sollen, begreife ich gar nicht. Doch vermutlich will er eine Aristokratie
der Kultur aufführen, und da muß man ja die Linien der Trennung recht
scharf ziehen. In allem dem Ding ist wenig Herz, über allem dem Ding
brütet der kalte Egoismus des Verstandes. Ach, was ist die Dichtkunst, wenn
sie nicht ein Balsam sür die Wunden des Schicksals wird, wenn sie uns nicht
über die enge, ängstliche Lage erhebt, wenn sie den Armen nicht reich macht,
den Gedruckten nicht emporhebt! Ich lese in allem, was jetzt Goethe schreibt,
den entzauberten Dichter, und was das für ein Wesen ist, sollen Sie den
Herbst lesen" (nämlich zur Herbstmesse). 1810 (an denselben): "Aus den Wahl¬
verwandtschaften können Sie übrigens sehen, wohin man kommt, was man
endlich zusammensetzt, wenn ein gewisser Dämon von einem gewichen ist, wenn
man sich uur selbst Genüge gethan hat, kurz wenn man seine männliche Kraft
nicht durch Kampf und Thätigkeit entwickelt hat oder ungebraucht liegen ließ.
Und so gleichen die aufgestellten Charaktere dem Autor selbst, der in Müßig¬
gang schwelgend Geschöpfe schafft, die, aus Müßiggang, nicht handeln, sondern
sich kitzeln, um leben zu können. Schade für die schöne Darstellung, aber was
für Ungeheuer wird die Messe darauf liefern!" 1815 (an Morgenstern in
Dorpat, der ihm nahe gelegt hatte, sein Leben zu schreiben): "Ich kann
jetzt nichts weiter hinzufügen, als daß es gegen meinen Sinn und mein Gemüt
allzusehr geht, und dann besonders, daß ich schwerlich dem Leser ein erfreu¬
liches Lesen darbieten würde. Mein Freund Goethe konnte dies, er hat mit
dem Leben ein Spiel getrieben und stellte es uns so plastisch dar, wie es ihm
erschienen ist. Die Wirkung der Erscheinungen ans mich war andrer Art, ich
habe sie bekämpft, ich glaube sogar sie besiegt zu haben; aber warum diese
Stürme in andern erwecken?"

Zu diesen ans Goethe bezüglichen Auszügen ans dem 291 Briefe ent¬
haltenden "Briefbuche," die mit ihrem treffenden Ausdrucke eine Vorstellung
geben können von dem Werte des übrigen Inhalts, wollen wir noch einige
Stellen hinzufügen, die sich auf Klingers sehr kräftiges deutsches Vaterlands¬
gefühl beziehen, die uns aber zugleich durch eine richtige, scharfe, ja sogar
voraussehende Beurteilung der damaligen politischen Zustände heute besonders
interessant sind.



") Gemeine sind Hermann und Dorothea und Aossens Luise.
Ans Maximilian Klingers Leben

aufgestellt hat, und ein solches Muster! 5) Und sprechen nicht alle seine Leute
so weise und gebildet, wie der Verfasser oder ihr Schöpfer? Wahrlich, man
weiß gar nicht, wo man sich vor der Klugheit dieser Leute hiurctteu soll; das
sind alles verkleidete Goethechens. Und so wie Herr Meister sehr gerühmt
wird, daß er sich von dem rohen gemeinbürgcrlichen Haufen loszumachen sucht,
um unter dem edelgebornen und hochcrleuchteten Häufchen Platz zu nehmen,
so rühmt man hier gar gewaltig das wohlgefülltc Haus. Was nun wir armen
Bürgerlichen in dem Meister, und das Bettelvolk in dem Gedicht für Trost
finden sollen, begreife ich gar nicht. Doch vermutlich will er eine Aristokratie
der Kultur aufführen, und da muß man ja die Linien der Trennung recht
scharf ziehen. In allem dem Ding ist wenig Herz, über allem dem Ding
brütet der kalte Egoismus des Verstandes. Ach, was ist die Dichtkunst, wenn
sie nicht ein Balsam sür die Wunden des Schicksals wird, wenn sie uns nicht
über die enge, ängstliche Lage erhebt, wenn sie den Armen nicht reich macht,
den Gedruckten nicht emporhebt! Ich lese in allem, was jetzt Goethe schreibt,
den entzauberten Dichter, und was das für ein Wesen ist, sollen Sie den
Herbst lesen" (nämlich zur Herbstmesse). 1810 (an denselben): „Aus den Wahl¬
verwandtschaften können Sie übrigens sehen, wohin man kommt, was man
endlich zusammensetzt, wenn ein gewisser Dämon von einem gewichen ist, wenn
man sich uur selbst Genüge gethan hat, kurz wenn man seine männliche Kraft
nicht durch Kampf und Thätigkeit entwickelt hat oder ungebraucht liegen ließ.
Und so gleichen die aufgestellten Charaktere dem Autor selbst, der in Müßig¬
gang schwelgend Geschöpfe schafft, die, aus Müßiggang, nicht handeln, sondern
sich kitzeln, um leben zu können. Schade für die schöne Darstellung, aber was
für Ungeheuer wird die Messe darauf liefern!" 1815 (an Morgenstern in
Dorpat, der ihm nahe gelegt hatte, sein Leben zu schreiben): „Ich kann
jetzt nichts weiter hinzufügen, als daß es gegen meinen Sinn und mein Gemüt
allzusehr geht, und dann besonders, daß ich schwerlich dem Leser ein erfreu¬
liches Lesen darbieten würde. Mein Freund Goethe konnte dies, er hat mit
dem Leben ein Spiel getrieben und stellte es uns so plastisch dar, wie es ihm
erschienen ist. Die Wirkung der Erscheinungen ans mich war andrer Art, ich
habe sie bekämpft, ich glaube sogar sie besiegt zu haben; aber warum diese
Stürme in andern erwecken?"

Zu diesen ans Goethe bezüglichen Auszügen ans dem 291 Briefe ent¬
haltenden „Briefbuche," die mit ihrem treffenden Ausdrucke eine Vorstellung
geben können von dem Werte des übrigen Inhalts, wollen wir noch einige
Stellen hinzufügen, die sich auf Klingers sehr kräftiges deutsches Vaterlands¬
gefühl beziehen, die uns aber zugleich durch eine richtige, scharfe, ja sogar
voraussehende Beurteilung der damaligen politischen Zustände heute besonders
interessant sind.



") Gemeine sind Hermann und Dorothea und Aossens Luise.
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[0042] Ans Maximilian Klingers Leben aufgestellt hat, und ein solches Muster! 5) Und sprechen nicht alle seine Leute so weise und gebildet, wie der Verfasser oder ihr Schöpfer? Wahrlich, man weiß gar nicht, wo man sich vor der Klugheit dieser Leute hiurctteu soll; das sind alles verkleidete Goethechens. Und so wie Herr Meister sehr gerühmt wird, daß er sich von dem rohen gemeinbürgcrlichen Haufen loszumachen sucht, um unter dem edelgebornen und hochcrleuchteten Häufchen Platz zu nehmen, so rühmt man hier gar gewaltig das wohlgefülltc Haus. Was nun wir armen Bürgerlichen in dem Meister, und das Bettelvolk in dem Gedicht für Trost finden sollen, begreife ich gar nicht. Doch vermutlich will er eine Aristokratie der Kultur aufführen, und da muß man ja die Linien der Trennung recht scharf ziehen. In allem dem Ding ist wenig Herz, über allem dem Ding brütet der kalte Egoismus des Verstandes. Ach, was ist die Dichtkunst, wenn sie nicht ein Balsam sür die Wunden des Schicksals wird, wenn sie uns nicht über die enge, ängstliche Lage erhebt, wenn sie den Armen nicht reich macht, den Gedruckten nicht emporhebt! Ich lese in allem, was jetzt Goethe schreibt, den entzauberten Dichter, und was das für ein Wesen ist, sollen Sie den Herbst lesen" (nämlich zur Herbstmesse). 1810 (an denselben): „Aus den Wahl¬ verwandtschaften können Sie übrigens sehen, wohin man kommt, was man endlich zusammensetzt, wenn ein gewisser Dämon von einem gewichen ist, wenn man sich uur selbst Genüge gethan hat, kurz wenn man seine männliche Kraft nicht durch Kampf und Thätigkeit entwickelt hat oder ungebraucht liegen ließ. Und so gleichen die aufgestellten Charaktere dem Autor selbst, der in Müßig¬ gang schwelgend Geschöpfe schafft, die, aus Müßiggang, nicht handeln, sondern sich kitzeln, um leben zu können. Schade für die schöne Darstellung, aber was für Ungeheuer wird die Messe darauf liefern!" 1815 (an Morgenstern in Dorpat, der ihm nahe gelegt hatte, sein Leben zu schreiben): „Ich kann jetzt nichts weiter hinzufügen, als daß es gegen meinen Sinn und mein Gemüt allzusehr geht, und dann besonders, daß ich schwerlich dem Leser ein erfreu¬ liches Lesen darbieten würde. Mein Freund Goethe konnte dies, er hat mit dem Leben ein Spiel getrieben und stellte es uns so plastisch dar, wie es ihm erschienen ist. Die Wirkung der Erscheinungen ans mich war andrer Art, ich habe sie bekämpft, ich glaube sogar sie besiegt zu haben; aber warum diese Stürme in andern erwecken?" Zu diesen ans Goethe bezüglichen Auszügen ans dem 291 Briefe ent¬ haltenden „Briefbuche," die mit ihrem treffenden Ausdrucke eine Vorstellung geben können von dem Werte des übrigen Inhalts, wollen wir noch einige Stellen hinzufügen, die sich auf Klingers sehr kräftiges deutsches Vaterlands¬ gefühl beziehen, die uns aber zugleich durch eine richtige, scharfe, ja sogar voraussehende Beurteilung der damaligen politischen Zustände heute besonders interessant sind. ") Gemeine sind Hermann und Dorothea und Aossens Luise.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/42>, abgerufen am 26.05.2024.