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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Das schwarze Zeitalter

abstechen als von der der bemittelten Klassen. Mit der Bezahlung des Fahr¬
scheins erlangt der ärmste Fahrgast einen Anteil an Einrichtungen, die durch
die Größe ihres Umfangs, durch die Kunst ihrer Zusammensetzung, durch den
Reichtum ihrer Ausstattung und durch die Gewalt ihrer Wirkungen einer ihm
sonst unzugänglichen Höhenlage des menschlichen Daseins angehören. Und
für die Benutzung dieser Einrichtungen schuldet er niemand Dank. Er ver¬
weilt in ihnen nicht als ein Geduldeter, sondern aus eignem Recht, mit ebenso
viel Recht wie die Fahrgäste der ersten Klasse. Daß sie auf Plüsch sitzen und
er auf Holz, verschlägt nicht viel; schneller als er fahren sie darum nicht,
mehr als er sehen sie nicht, und auch die Möglichkeit, den Hals zu brechen,
ist für sie und ihn gleich groß. Die palastartigen Hallen der großen Bahnhöfe
stehen jedem Reisenden offen. Auch der Mann aus dem Volke darf sich frei
von jeder Etikette in ihnen bewegen. Nicht freier als die andern; dennoch
bedeuten diese breiten Freitreppen und lichterfüllteu Gänge mit den ragenden
Säulen und kühnen Bogenspannungen etwas andres für den, der zeitlebens
in engen Gelassen oder in schönheitsfeindlichen Fabriksälen weilt, als für alle
übrigen Menschen. Es kann nicht fehlen, daß ihr Anblick seinen räumlichen
Maßstab unmerklich erweitert. Zwar vergönnten ihm schon früher Kirche und
Theater den Aufenthalt in großen und edeln Räumen, beide aber legten ihm
el" bestimmtes Verhalten auf. Den lästigen Druck, der ihn durch sein Werk¬
tagsleben geleitet, den Zwang, sich einer vorgeschriebnen Ordnung einzufügen,
ersparen auch sie ihm nicht. Auf den Bahnhöfen dagegen weht Straßenlnft.
Sie verlangen von ihren Besuchern kein besondres Kleid und kein Stillsitzen;
sie wehren ihnen nicht, zu reden und zu schweigen, zu kommen und zu gehen,
wie es ihnen beliebt. Das geräuschvolle Gewühl und die Unsauberkeit, die
jedem gebildeten Menschen den Aufenthalt ans Bahnhöfen verleiden, sind dem
Ungebildeten vertraute Dinge, die ihn nicht stören. Häusliche Behaglichkeit,
die jener in den prunkvollsten Wartesälcn vermißt, entbehrt dieser nicht, weil
er sie nicht kennt. Von alters her gehörte die Landstraße in besondern, Sinne
dem fahrenden Volk; kein Wunder, wenn auch bei ihrer Verwandlung in die
moderne Landstraße der Eisenbahn die Leute mit geringer Habe und leichtem
Gepäck noch in ganz anderen Maße die Gewinner sind als der begüterte Mann.

Es ist also sehr erklärlich, wenn das allgemeine Reisefieber unsrer Zeit
uicht vor den ürmern Bevölkernngsklasscn Halt gemacht hat. Die Mobilisiruug
der Massen vollzieht sich daneben aber noch auf andern Wegen. Auch die
großen Industriestädte der Gegenwart tragen das ihrige dazu bei. Eine Fülle
von Anregung, ja von Wissensstoff bringt der Großstädter von jedem Gang
durch belebte Straßen mit nach Hause. Die innere Einrichtung einer Fabrik,
die Thätigkeit der Maschinen, die Betrachtung ihrer sinnreichen Zusammen¬
setzung: alles das erweckt und schärft in dem bedienenden Personal die Fähig¬
keit der Kombination. Das Verhältnis zum Unternehmer giebt dem industriellen


Grenzboten IV 1897 6
Das schwarze Zeitalter

abstechen als von der der bemittelten Klassen. Mit der Bezahlung des Fahr¬
scheins erlangt der ärmste Fahrgast einen Anteil an Einrichtungen, die durch
die Größe ihres Umfangs, durch die Kunst ihrer Zusammensetzung, durch den
Reichtum ihrer Ausstattung und durch die Gewalt ihrer Wirkungen einer ihm
sonst unzugänglichen Höhenlage des menschlichen Daseins angehören. Und
für die Benutzung dieser Einrichtungen schuldet er niemand Dank. Er ver¬
weilt in ihnen nicht als ein Geduldeter, sondern aus eignem Recht, mit ebenso
viel Recht wie die Fahrgäste der ersten Klasse. Daß sie auf Plüsch sitzen und
er auf Holz, verschlägt nicht viel; schneller als er fahren sie darum nicht,
mehr als er sehen sie nicht, und auch die Möglichkeit, den Hals zu brechen,
ist für sie und ihn gleich groß. Die palastartigen Hallen der großen Bahnhöfe
stehen jedem Reisenden offen. Auch der Mann aus dem Volke darf sich frei
von jeder Etikette in ihnen bewegen. Nicht freier als die andern; dennoch
bedeuten diese breiten Freitreppen und lichterfüllteu Gänge mit den ragenden
Säulen und kühnen Bogenspannungen etwas andres für den, der zeitlebens
in engen Gelassen oder in schönheitsfeindlichen Fabriksälen weilt, als für alle
übrigen Menschen. Es kann nicht fehlen, daß ihr Anblick seinen räumlichen
Maßstab unmerklich erweitert. Zwar vergönnten ihm schon früher Kirche und
Theater den Aufenthalt in großen und edeln Räumen, beide aber legten ihm
el» bestimmtes Verhalten auf. Den lästigen Druck, der ihn durch sein Werk¬
tagsleben geleitet, den Zwang, sich einer vorgeschriebnen Ordnung einzufügen,
ersparen auch sie ihm nicht. Auf den Bahnhöfen dagegen weht Straßenlnft.
Sie verlangen von ihren Besuchern kein besondres Kleid und kein Stillsitzen;
sie wehren ihnen nicht, zu reden und zu schweigen, zu kommen und zu gehen,
wie es ihnen beliebt. Das geräuschvolle Gewühl und die Unsauberkeit, die
jedem gebildeten Menschen den Aufenthalt ans Bahnhöfen verleiden, sind dem
Ungebildeten vertraute Dinge, die ihn nicht stören. Häusliche Behaglichkeit,
die jener in den prunkvollsten Wartesälcn vermißt, entbehrt dieser nicht, weil
er sie nicht kennt. Von alters her gehörte die Landstraße in besondern, Sinne
dem fahrenden Volk; kein Wunder, wenn auch bei ihrer Verwandlung in die
moderne Landstraße der Eisenbahn die Leute mit geringer Habe und leichtem
Gepäck noch in ganz anderen Maße die Gewinner sind als der begüterte Mann.

Es ist also sehr erklärlich, wenn das allgemeine Reisefieber unsrer Zeit
uicht vor den ürmern Bevölkernngsklasscn Halt gemacht hat. Die Mobilisiruug
der Massen vollzieht sich daneben aber noch auf andern Wegen. Auch die
großen Industriestädte der Gegenwart tragen das ihrige dazu bei. Eine Fülle
von Anregung, ja von Wissensstoff bringt der Großstädter von jedem Gang
durch belebte Straßen mit nach Hause. Die innere Einrichtung einer Fabrik,
die Thätigkeit der Maschinen, die Betrachtung ihrer sinnreichen Zusammen¬
setzung: alles das erweckt und schärft in dem bedienenden Personal die Fähig¬
keit der Kombination. Das Verhältnis zum Unternehmer giebt dem industriellen


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[0049] Das schwarze Zeitalter abstechen als von der der bemittelten Klassen. Mit der Bezahlung des Fahr¬ scheins erlangt der ärmste Fahrgast einen Anteil an Einrichtungen, die durch die Größe ihres Umfangs, durch die Kunst ihrer Zusammensetzung, durch den Reichtum ihrer Ausstattung und durch die Gewalt ihrer Wirkungen einer ihm sonst unzugänglichen Höhenlage des menschlichen Daseins angehören. Und für die Benutzung dieser Einrichtungen schuldet er niemand Dank. Er ver¬ weilt in ihnen nicht als ein Geduldeter, sondern aus eignem Recht, mit ebenso viel Recht wie die Fahrgäste der ersten Klasse. Daß sie auf Plüsch sitzen und er auf Holz, verschlägt nicht viel; schneller als er fahren sie darum nicht, mehr als er sehen sie nicht, und auch die Möglichkeit, den Hals zu brechen, ist für sie und ihn gleich groß. Die palastartigen Hallen der großen Bahnhöfe stehen jedem Reisenden offen. Auch der Mann aus dem Volke darf sich frei von jeder Etikette in ihnen bewegen. Nicht freier als die andern; dennoch bedeuten diese breiten Freitreppen und lichterfüllteu Gänge mit den ragenden Säulen und kühnen Bogenspannungen etwas andres für den, der zeitlebens in engen Gelassen oder in schönheitsfeindlichen Fabriksälen weilt, als für alle übrigen Menschen. Es kann nicht fehlen, daß ihr Anblick seinen räumlichen Maßstab unmerklich erweitert. Zwar vergönnten ihm schon früher Kirche und Theater den Aufenthalt in großen und edeln Räumen, beide aber legten ihm el» bestimmtes Verhalten auf. Den lästigen Druck, der ihn durch sein Werk¬ tagsleben geleitet, den Zwang, sich einer vorgeschriebnen Ordnung einzufügen, ersparen auch sie ihm nicht. Auf den Bahnhöfen dagegen weht Straßenlnft. Sie verlangen von ihren Besuchern kein besondres Kleid und kein Stillsitzen; sie wehren ihnen nicht, zu reden und zu schweigen, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen beliebt. Das geräuschvolle Gewühl und die Unsauberkeit, die jedem gebildeten Menschen den Aufenthalt ans Bahnhöfen verleiden, sind dem Ungebildeten vertraute Dinge, die ihn nicht stören. Häusliche Behaglichkeit, die jener in den prunkvollsten Wartesälcn vermißt, entbehrt dieser nicht, weil er sie nicht kennt. Von alters her gehörte die Landstraße in besondern, Sinne dem fahrenden Volk; kein Wunder, wenn auch bei ihrer Verwandlung in die moderne Landstraße der Eisenbahn die Leute mit geringer Habe und leichtem Gepäck noch in ganz anderen Maße die Gewinner sind als der begüterte Mann. Es ist also sehr erklärlich, wenn das allgemeine Reisefieber unsrer Zeit uicht vor den ürmern Bevölkernngsklasscn Halt gemacht hat. Die Mobilisiruug der Massen vollzieht sich daneben aber noch auf andern Wegen. Auch die großen Industriestädte der Gegenwart tragen das ihrige dazu bei. Eine Fülle von Anregung, ja von Wissensstoff bringt der Großstädter von jedem Gang durch belebte Straßen mit nach Hause. Die innere Einrichtung einer Fabrik, die Thätigkeit der Maschinen, die Betrachtung ihrer sinnreichen Zusammen¬ setzung: alles das erweckt und schärft in dem bedienenden Personal die Fähig¬ keit der Kombination. Das Verhältnis zum Unternehmer giebt dem industriellen Grenzboten IV 1897 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/49>, abgerufen am 26.05.2024.