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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Das schwarze Zeitalter

Arbeiter ein viel deutlicheres Gefühl seiner Selbständigkeit als dem ländlichen
Tagelöhner; es fehlt der patriarchalische Beigeschmack, der mit der ländlichen
Dienstmiete ihrer Natur nach verbunden ist und immer verbunden sein wird.

Keine Eigentümlichkeit der Großstädte wirkt aber so anziehend und auf¬
regend auf die Massen wie das abendliche Leben und Treiben. Die taghell
erleuchteten Straßen, die reich besetzten Schaufenster, die vorüberrollenden
Wagen, das Gewühl der Fußgänger, die dichte Reihe der verschiedenartigsten
Lustbarkeiten, das alles wirkt zusammen, den bestimmten Nervenreiz hervor¬
zubringen, den allein der abgetriebne Sohn unsrer Zeit noch empfindet und
empfinden will. Erst nach Sonnenuntergang erlangt die Verschiedenheit der
Großstadt von allen kleinern Gemeinwesen die volle Schärfe des Gegensatzes.
Keinen Zug in ihrer Physiognomie hat sie zu solcher Ausschließlichkeit aus¬
gebildet wie diesen. Provinzialstädte, auch wenn sie elektrische Straßenbahnen
und das neueste Abfuhrwesen haben, liegen doch nach elf Uhr abends in fried¬
lichem Schlummer da. Einzelne Nachtschwärmer kehren noch aus dem Wirts¬
haus oder aus einer Privatgesellschaft heim; aber ihre Schritte sind wegen
der Totenstille weithin hörbar. Die Straßen sind wie ausgestorben. Zu
derselben Stunde füllen sich in der Großstadt erst die Wein- und Bierstuben
mit Gästen, die aus dem Theater oder von der Arbeit kommen, und die
Stunde der Kaffeehäuser schlägt noch beträchtlich später.

Wechselnde Eindrücke zu empfangen und zu verarbeiten wird zuletzt die
unentbehrliche Gewohnheit des Menschen, der längere Zeit in dieser gro߬
städtischen Atmosphäre lebt. Unfehlbar wird er auch die zahlreich in ihr ver¬
streuten Bildungsstoffe in sich aufnehmen; einige davon absichtlich, die meisten
unmerklich. Er kann vielleicht kaum seinen Namen schreiben; aber er kann
bald geläufig lesen. Wenn er es nicht in der Schule gelernt hat, so lernt er
es an den Litfaßsäulen, an den Namensschildern der Luder und Wirtshäuser,
an den Geschäftsanzeigen in den Straßenbahnwagen.

Daß sich eine solche Erweiterung des Kreises der lesekundigen Personen
in einer entsprechenden Vermehrung des Lesestoffs wiederspiegelt, ist also am
Ende nur natürlich. Zuerst entsteht das Bedürfnis, dann erzeugt es die
Mittel zu seiner Befriedigung. Wäre daher nichts andres im Spiel als das
erweiterte und gesteigerte Lesebedürfnis, so hätten wir kaum das Recht, die
massenhafte und schon fast fabrikmäßige Herstellung von Lesestoff, wie sie heute
in Blüte steht, übertrieben und ungesund zu nennen. Thatsächlich trägt aber
diese Massenerzeugung das untrügliche Kennzeichen der Überproduktion breit
an ihrer Stirn: nicht mehr das Bedürfnis der Konsumenten, sondern das
Bedürfnis der Produzenten beherrscht den Markt. Wie auf dem Gebiete der
Bekleidungsindustrie -- um ein Beispiel herauszugreifen -- längst nicht mehr
die Anfertigung eines ausreichenden Vorrath von möglichst gediegnen und
geschmackvollen Kleidungsstücken angestrebt wird, sondern Anstachlung der


Das schwarze Zeitalter

Arbeiter ein viel deutlicheres Gefühl seiner Selbständigkeit als dem ländlichen
Tagelöhner; es fehlt der patriarchalische Beigeschmack, der mit der ländlichen
Dienstmiete ihrer Natur nach verbunden ist und immer verbunden sein wird.

Keine Eigentümlichkeit der Großstädte wirkt aber so anziehend und auf¬
regend auf die Massen wie das abendliche Leben und Treiben. Die taghell
erleuchteten Straßen, die reich besetzten Schaufenster, die vorüberrollenden
Wagen, das Gewühl der Fußgänger, die dichte Reihe der verschiedenartigsten
Lustbarkeiten, das alles wirkt zusammen, den bestimmten Nervenreiz hervor¬
zubringen, den allein der abgetriebne Sohn unsrer Zeit noch empfindet und
empfinden will. Erst nach Sonnenuntergang erlangt die Verschiedenheit der
Großstadt von allen kleinern Gemeinwesen die volle Schärfe des Gegensatzes.
Keinen Zug in ihrer Physiognomie hat sie zu solcher Ausschließlichkeit aus¬
gebildet wie diesen. Provinzialstädte, auch wenn sie elektrische Straßenbahnen
und das neueste Abfuhrwesen haben, liegen doch nach elf Uhr abends in fried¬
lichem Schlummer da. Einzelne Nachtschwärmer kehren noch aus dem Wirts¬
haus oder aus einer Privatgesellschaft heim; aber ihre Schritte sind wegen
der Totenstille weithin hörbar. Die Straßen sind wie ausgestorben. Zu
derselben Stunde füllen sich in der Großstadt erst die Wein- und Bierstuben
mit Gästen, die aus dem Theater oder von der Arbeit kommen, und die
Stunde der Kaffeehäuser schlägt noch beträchtlich später.

Wechselnde Eindrücke zu empfangen und zu verarbeiten wird zuletzt die
unentbehrliche Gewohnheit des Menschen, der längere Zeit in dieser gro߬
städtischen Atmosphäre lebt. Unfehlbar wird er auch die zahlreich in ihr ver¬
streuten Bildungsstoffe in sich aufnehmen; einige davon absichtlich, die meisten
unmerklich. Er kann vielleicht kaum seinen Namen schreiben; aber er kann
bald geläufig lesen. Wenn er es nicht in der Schule gelernt hat, so lernt er
es an den Litfaßsäulen, an den Namensschildern der Luder und Wirtshäuser,
an den Geschäftsanzeigen in den Straßenbahnwagen.

Daß sich eine solche Erweiterung des Kreises der lesekundigen Personen
in einer entsprechenden Vermehrung des Lesestoffs wiederspiegelt, ist also am
Ende nur natürlich. Zuerst entsteht das Bedürfnis, dann erzeugt es die
Mittel zu seiner Befriedigung. Wäre daher nichts andres im Spiel als das
erweiterte und gesteigerte Lesebedürfnis, so hätten wir kaum das Recht, die
massenhafte und schon fast fabrikmäßige Herstellung von Lesestoff, wie sie heute
in Blüte steht, übertrieben und ungesund zu nennen. Thatsächlich trägt aber
diese Massenerzeugung das untrügliche Kennzeichen der Überproduktion breit
an ihrer Stirn: nicht mehr das Bedürfnis der Konsumenten, sondern das
Bedürfnis der Produzenten beherrscht den Markt. Wie auf dem Gebiete der
Bekleidungsindustrie — um ein Beispiel herauszugreifen — längst nicht mehr
die Anfertigung eines ausreichenden Vorrath von möglichst gediegnen und
geschmackvollen Kleidungsstücken angestrebt wird, sondern Anstachlung der


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[0050] Das schwarze Zeitalter Arbeiter ein viel deutlicheres Gefühl seiner Selbständigkeit als dem ländlichen Tagelöhner; es fehlt der patriarchalische Beigeschmack, der mit der ländlichen Dienstmiete ihrer Natur nach verbunden ist und immer verbunden sein wird. Keine Eigentümlichkeit der Großstädte wirkt aber so anziehend und auf¬ regend auf die Massen wie das abendliche Leben und Treiben. Die taghell erleuchteten Straßen, die reich besetzten Schaufenster, die vorüberrollenden Wagen, das Gewühl der Fußgänger, die dichte Reihe der verschiedenartigsten Lustbarkeiten, das alles wirkt zusammen, den bestimmten Nervenreiz hervor¬ zubringen, den allein der abgetriebne Sohn unsrer Zeit noch empfindet und empfinden will. Erst nach Sonnenuntergang erlangt die Verschiedenheit der Großstadt von allen kleinern Gemeinwesen die volle Schärfe des Gegensatzes. Keinen Zug in ihrer Physiognomie hat sie zu solcher Ausschließlichkeit aus¬ gebildet wie diesen. Provinzialstädte, auch wenn sie elektrische Straßenbahnen und das neueste Abfuhrwesen haben, liegen doch nach elf Uhr abends in fried¬ lichem Schlummer da. Einzelne Nachtschwärmer kehren noch aus dem Wirts¬ haus oder aus einer Privatgesellschaft heim; aber ihre Schritte sind wegen der Totenstille weithin hörbar. Die Straßen sind wie ausgestorben. Zu derselben Stunde füllen sich in der Großstadt erst die Wein- und Bierstuben mit Gästen, die aus dem Theater oder von der Arbeit kommen, und die Stunde der Kaffeehäuser schlägt noch beträchtlich später. Wechselnde Eindrücke zu empfangen und zu verarbeiten wird zuletzt die unentbehrliche Gewohnheit des Menschen, der längere Zeit in dieser gro߬ städtischen Atmosphäre lebt. Unfehlbar wird er auch die zahlreich in ihr ver¬ streuten Bildungsstoffe in sich aufnehmen; einige davon absichtlich, die meisten unmerklich. Er kann vielleicht kaum seinen Namen schreiben; aber er kann bald geläufig lesen. Wenn er es nicht in der Schule gelernt hat, so lernt er es an den Litfaßsäulen, an den Namensschildern der Luder und Wirtshäuser, an den Geschäftsanzeigen in den Straßenbahnwagen. Daß sich eine solche Erweiterung des Kreises der lesekundigen Personen in einer entsprechenden Vermehrung des Lesestoffs wiederspiegelt, ist also am Ende nur natürlich. Zuerst entsteht das Bedürfnis, dann erzeugt es die Mittel zu seiner Befriedigung. Wäre daher nichts andres im Spiel als das erweiterte und gesteigerte Lesebedürfnis, so hätten wir kaum das Recht, die massenhafte und schon fast fabrikmäßige Herstellung von Lesestoff, wie sie heute in Blüte steht, übertrieben und ungesund zu nennen. Thatsächlich trägt aber diese Massenerzeugung das untrügliche Kennzeichen der Überproduktion breit an ihrer Stirn: nicht mehr das Bedürfnis der Konsumenten, sondern das Bedürfnis der Produzenten beherrscht den Markt. Wie auf dem Gebiete der Bekleidungsindustrie — um ein Beispiel herauszugreifen — längst nicht mehr die Anfertigung eines ausreichenden Vorrath von möglichst gediegnen und geschmackvollen Kleidungsstücken angestrebt wird, sondern Anstachlung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/50>, abgerufen am 26.05.2024.