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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Äer Posener Zchulstrert

besprochne Verfügung geknüpft worden, deren Urheber an eine so weitgehende
Wirkung ihrer Anordnung sicherlich nicht im entferntesten gedacht haben. Den
Kämpfern für Religion und Muttersprache haben sich sogar die Sozialdemo¬
kraten beigesellt, indem sie, ihrer sonst zur Schau getragnen Gleichgiltigkeit
gegen Nationalität und Religion völlig uneingedenk, den angeblichen Angriff
der preußischen Unterrichtsverwaltung auf diese unveräußerlichen Menschenrechte
zum Anlaß einer stürmischen Entrüstnngskundgebung gemacht haben. Bei solcher
Lage der Dinge scheint es an der Zeit zu sein, den Gegenstand des Streites
einmal vorurteilsfrei ins Auge zu fassen und auf seine wirkliche Bedeutung
zu untersuchen. Dabei wird sich herausstellen, daß die Verfügung der Posener
Regierung in ihrer Bedeutung vou vornherein arg überschätzt worden ist, und
daß man keine Ursache hat, in ihr das Zeichen des Beginns einer neuen
schnlpolitischen Ära zu sehen, auch dann nicht, wenn sich herausstellen sollte,
daß die Regierung in Posen im Einverständnis mit dem Unterrichtsminister
gehandelt habe.

Was ist denn eigentlich geschehen? Nach den Meldungen der Blätter
hat die Negierung für die Volksschulen der Stadt Posen angeordnet, daß der
Religionsunterricht auf der Mittel- und Oberstufe fortan nur in deutscher
Sprache erteilt werden solle. Das ist keineswegs eine unerhörte, noch nie
dagewesene Maßregel. Der Gebrauch der deutscheu Unterrichtssprache in den
vou Kindern polnischer Zunge besuchten Schulen der Provinz Posen ist geregelt
durch die Bestimmungen des Oberpräsidenten vom 27. Oktober 1873, die nach
Gutheißung des Kultusministers und vielleicht sogar nach Anhörung des Stnats-
miuisteriums erlassen worden sind. Diese Bestimmungen ordnen an, daß für
alle Gegenstände mit Ausnahme der Religion und des Kirchengesanges die
Unterrichtssprache die deutsche ist. Den Kindern polnischer Zunge soll der
Unterricht in deu bezeichneten Gegenstünden in der Muttersprache erteilt werden.
Wenn diese Kinder jedoch "in der Kenntnis der deutschen Sprache soweit vor¬
geschritten sind, daß ein richtiges Verständnis auch bei der in deutscher Sprache
erfolgenden Unterweisung erreicht werdeu kaun, so ist letztere mit Genehmigung
der Regierung auch in diesen Gegenständen auf der Mittel- und Oberstufe
als Unterrichtssprache einzuführen." Die Negierung in Posen ist mithin zu
der so viel angefochtnen Verfügung formell vollkommen befugt, ja wenn die
Voraussetzung zutrifft, daß die betreffenden Kiuder in der Kenntnis der deutschen
Sprache weit genug gefördert sind, nicht bloß befugt, sondern sogar verpflichtet
gewesen. "So ist" die deutsche Unterrichtssprache einzuführen, sagen die an¬
geführten Bestimmungen. Man scheint nnn aus dem Umstände, daß -- wie
nach Zeitungsmitteilungen anzunehmen ist -- die Regierung in Posen vor
ihrer Anordnung sich der Zustimmung des Ministers versichert hat, zu folgern,
daß hinter dieser Maßregel noch weitergehende Absichten stecken, und daß der
Minister vorhabe, die polnische Sprache ganz aus der Schule zu beseitigen.
Aber zu dieser Annahme ist einstweilen noch kein Grund vorhanden. Wer
die Ncgiernngsmnßnahmen auf diesem Gebiete mit einiger Aufmerksamkeit und


Äer Posener Zchulstrert

besprochne Verfügung geknüpft worden, deren Urheber an eine so weitgehende
Wirkung ihrer Anordnung sicherlich nicht im entferntesten gedacht haben. Den
Kämpfern für Religion und Muttersprache haben sich sogar die Sozialdemo¬
kraten beigesellt, indem sie, ihrer sonst zur Schau getragnen Gleichgiltigkeit
gegen Nationalität und Religion völlig uneingedenk, den angeblichen Angriff
der preußischen Unterrichtsverwaltung auf diese unveräußerlichen Menschenrechte
zum Anlaß einer stürmischen Entrüstnngskundgebung gemacht haben. Bei solcher
Lage der Dinge scheint es an der Zeit zu sein, den Gegenstand des Streites
einmal vorurteilsfrei ins Auge zu fassen und auf seine wirkliche Bedeutung
zu untersuchen. Dabei wird sich herausstellen, daß die Verfügung der Posener
Regierung in ihrer Bedeutung vou vornherein arg überschätzt worden ist, und
daß man keine Ursache hat, in ihr das Zeichen des Beginns einer neuen
schnlpolitischen Ära zu sehen, auch dann nicht, wenn sich herausstellen sollte,
daß die Regierung in Posen im Einverständnis mit dem Unterrichtsminister
gehandelt habe.

Was ist denn eigentlich geschehen? Nach den Meldungen der Blätter
hat die Negierung für die Volksschulen der Stadt Posen angeordnet, daß der
Religionsunterricht auf der Mittel- und Oberstufe fortan nur in deutscher
Sprache erteilt werden solle. Das ist keineswegs eine unerhörte, noch nie
dagewesene Maßregel. Der Gebrauch der deutscheu Unterrichtssprache in den
vou Kindern polnischer Zunge besuchten Schulen der Provinz Posen ist geregelt
durch die Bestimmungen des Oberpräsidenten vom 27. Oktober 1873, die nach
Gutheißung des Kultusministers und vielleicht sogar nach Anhörung des Stnats-
miuisteriums erlassen worden sind. Diese Bestimmungen ordnen an, daß für
alle Gegenstände mit Ausnahme der Religion und des Kirchengesanges die
Unterrichtssprache die deutsche ist. Den Kindern polnischer Zunge soll der
Unterricht in deu bezeichneten Gegenstünden in der Muttersprache erteilt werden.
Wenn diese Kinder jedoch „in der Kenntnis der deutschen Sprache soweit vor¬
geschritten sind, daß ein richtiges Verständnis auch bei der in deutscher Sprache
erfolgenden Unterweisung erreicht werdeu kaun, so ist letztere mit Genehmigung
der Regierung auch in diesen Gegenständen auf der Mittel- und Oberstufe
als Unterrichtssprache einzuführen." Die Negierung in Posen ist mithin zu
der so viel angefochtnen Verfügung formell vollkommen befugt, ja wenn die
Voraussetzung zutrifft, daß die betreffenden Kiuder in der Kenntnis der deutschen
Sprache weit genug gefördert sind, nicht bloß befugt, sondern sogar verpflichtet
gewesen. „So ist" die deutsche Unterrichtssprache einzuführen, sagen die an¬
geführten Bestimmungen. Man scheint nnn aus dem Umstände, daß — wie
nach Zeitungsmitteilungen anzunehmen ist — die Regierung in Posen vor
ihrer Anordnung sich der Zustimmung des Ministers versichert hat, zu folgern,
daß hinter dieser Maßregel noch weitergehende Absichten stecken, und daß der
Minister vorhabe, die polnische Sprache ganz aus der Schule zu beseitigen.
Aber zu dieser Annahme ist einstweilen noch kein Grund vorhanden. Wer
die Ncgiernngsmnßnahmen auf diesem Gebiete mit einiger Aufmerksamkeit und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/20>, abgerufen am 16.06.2024.