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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und der Goethelmnd

ist mir nun aufgefallen, daß in keiner der Protestvcrsammluugen, wenigstens
soweit ich die Berichte gelesen habe, das Vorhandensein einer derartigen Gefahr
anerkannt worden ist. Ist das Unehrlichkeit? Parteileidenschaft? Unkenntnis
der Verhältnisse? Unmöglich kann doch jemand, der mit offnem Blick durchs
Leben geht, das Vorhandensein solcher Mißstände übersehen haben. Oder
glauben die Herren, daß die Aktstndien, die so massenhaft in Witzblättern an¬
gezeigt werden, für künstlerische Zwecke angeboten werden, daß die Kaufleute,
die Nuditäten ausstellen, dies thun, nur die vorübergehende Jugend und
das vorübergehende Alter zum Verständnis der Schönheit im Sinne Goethes
zu erziehn? Die Schaufenster haben ja in der Sache eine große Rolle ge¬
spielt. Man war tief entrüstet, daß einem Münchner Kunsthändler das Aus-
stellen eines Böcklinschen Bildes verwehrt werden sollte; warum gehn die Leute,
die sich vor deu Schaufenstern drängen, nicht ein paar Schritt weiter und
sehen sich in der Schackgalerie -- gratis -- die Böcklinschen Originale an?
Und wieviel Münchner gehn in die Alte Pinakothek, in der doch auch ganz
nette Sachen hängen? Der Kampf für die Schaufenster ist einfach lächerlich.
Wenn sämtliche Schaufenster geschlossen würden, so würde das für Kunst und
Kunstverständnis vollkommen belanglos sein; man braucht sich nur die Leute
vor den Schaufenstern zu betrachten, und man wird dies einsehen. Also es
sind Mißstände vorhanden; ob das geplante Gesetz dazu beigetragen hätte, sie
zu beseitige", ob es nicht gelegentlich gegen echte Kunst Hütte verwandt
werden können -- diese zu erkennen, sind Polizeibeamte so wenig befähigt wie
manche Ästhetiker --, das ist eine andre Frage, die ich nicht zu beantworten
vermag.

Mit Goethe allerdings war in solchen Dingen nicht zu spaßen. Er hielt
darauf, daß in Gegenwart von Kindern und Frauen nichts Unschickliches ver¬
handelt werde, und so frei er sich in seinen Werken und gegenüber Freunden
äußerte, im Weimarer Staat hielt er darauf, daß das Volk nichts Unan¬
ständiges zu hören und zu sehen bekam; denn er wußte, daß ein hoher Stand-
Punkt, ein geläutertes Kunstverständnis dazu gehört, zum Beispiel in sexuellen
Verhältnissen das wissenschaftlich oder ästhetisch Bedeutsame zu erkennen.
Bücher, wie einige der Protestleute sie veröffentlicht haben, hätten zur Zeit
Goethes, der über ein Gedicht wie Bürgers "Frnn Schnips" entrüstet war,
in einer Weimarer oder Jenenser Offizin nicht gedruckt werden dürfen, Ver¬
sammlungen wie die Protestversammlungen nicht stattfinden dürfen. Sozial-
demokraten, an denen der Goethebnnd vermutlich keinen Mangel hat, wären
Goethe nicht über die Schwelle gekommen; Stücke, wie einige der Protestleute
sie geschrieben haben, hätten unter seiner Direktion auf dem Weimarer Theater
nicht aufgeführt werden dürfen, wo "alles Schreckliche, Greuelhafte und die
gute Sitte Verletzende ein- für allemal ausgeschlossen" war, um nicht "Schau¬
spieler und Publikum zu verderben." Kurz, Sittlichkeit, Staat und Kirche
galten ihm als unantastbar, und von dieser Forderung ist er sogar einem
Genie wie Lord Byron gegenüber nicht abgegangen. Seine Ansichten über


Goethe und der Goethelmnd

ist mir nun aufgefallen, daß in keiner der Protestvcrsammluugen, wenigstens
soweit ich die Berichte gelesen habe, das Vorhandensein einer derartigen Gefahr
anerkannt worden ist. Ist das Unehrlichkeit? Parteileidenschaft? Unkenntnis
der Verhältnisse? Unmöglich kann doch jemand, der mit offnem Blick durchs
Leben geht, das Vorhandensein solcher Mißstände übersehen haben. Oder
glauben die Herren, daß die Aktstndien, die so massenhaft in Witzblättern an¬
gezeigt werden, für künstlerische Zwecke angeboten werden, daß die Kaufleute,
die Nuditäten ausstellen, dies thun, nur die vorübergehende Jugend und
das vorübergehende Alter zum Verständnis der Schönheit im Sinne Goethes
zu erziehn? Die Schaufenster haben ja in der Sache eine große Rolle ge¬
spielt. Man war tief entrüstet, daß einem Münchner Kunsthändler das Aus-
stellen eines Böcklinschen Bildes verwehrt werden sollte; warum gehn die Leute,
die sich vor deu Schaufenstern drängen, nicht ein paar Schritt weiter und
sehen sich in der Schackgalerie — gratis — die Böcklinschen Originale an?
Und wieviel Münchner gehn in die Alte Pinakothek, in der doch auch ganz
nette Sachen hängen? Der Kampf für die Schaufenster ist einfach lächerlich.
Wenn sämtliche Schaufenster geschlossen würden, so würde das für Kunst und
Kunstverständnis vollkommen belanglos sein; man braucht sich nur die Leute
vor den Schaufenstern zu betrachten, und man wird dies einsehen. Also es
sind Mißstände vorhanden; ob das geplante Gesetz dazu beigetragen hätte, sie
zu beseitige«, ob es nicht gelegentlich gegen echte Kunst Hütte verwandt
werden können — diese zu erkennen, sind Polizeibeamte so wenig befähigt wie
manche Ästhetiker —, das ist eine andre Frage, die ich nicht zu beantworten
vermag.

Mit Goethe allerdings war in solchen Dingen nicht zu spaßen. Er hielt
darauf, daß in Gegenwart von Kindern und Frauen nichts Unschickliches ver¬
handelt werde, und so frei er sich in seinen Werken und gegenüber Freunden
äußerte, im Weimarer Staat hielt er darauf, daß das Volk nichts Unan¬
ständiges zu hören und zu sehen bekam; denn er wußte, daß ein hoher Stand-
Punkt, ein geläutertes Kunstverständnis dazu gehört, zum Beispiel in sexuellen
Verhältnissen das wissenschaftlich oder ästhetisch Bedeutsame zu erkennen.
Bücher, wie einige der Protestleute sie veröffentlicht haben, hätten zur Zeit
Goethes, der über ein Gedicht wie Bürgers „Frnn Schnips" entrüstet war,
in einer Weimarer oder Jenenser Offizin nicht gedruckt werden dürfen, Ver¬
sammlungen wie die Protestversammlungen nicht stattfinden dürfen. Sozial-
demokraten, an denen der Goethebnnd vermutlich keinen Mangel hat, wären
Goethe nicht über die Schwelle gekommen; Stücke, wie einige der Protestleute
sie geschrieben haben, hätten unter seiner Direktion auf dem Weimarer Theater
nicht aufgeführt werden dürfen, wo „alles Schreckliche, Greuelhafte und die
gute Sitte Verletzende ein- für allemal ausgeschlossen" war, um nicht „Schau¬
spieler und Publikum zu verderben." Kurz, Sittlichkeit, Staat und Kirche
galten ihm als unantastbar, und von dieser Forderung ist er sogar einem
Genie wie Lord Byron gegenüber nicht abgegangen. Seine Ansichten über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/29>, abgerufen am 16.06.2024.