Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe eines Jurückgcklchrteil

Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht
innen schon zerrissen oder unterwühlt war. So fürchte ich auch nicht für die
Nordamerikaner, daß äußere Angriffe ihnen schaden werden. Ihre größten Ge¬
fahren lauern in ihnen selbst. Ich glaube sie zu kennen, und sie sind überhaupt
nicht schwer zu finden. Es ist die alte Völkerkrantheit der Selbstbelügung, an der
sie leiden. Den Keim dazu in el"er Stärke, die sonst selten borkommt, haben die
Engländer ans sie übertragen. Sie täuschen sich mit einer solchen Hartnäckig¬
keit und mit so viel Scharfsinn über ihre Fehler hinweg, daß diese auf Selbst-
belügung beruhende Selbstgerechtigkeit ihnen längst in Fleisch und Blut über¬
gegangen ist. lind dn sie in demselben Maße andre Völker tiefer stellen, wie sie
sich selbst erheben, laden sie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf sich.
Ich finde die Amerikaner in dieser Beziehung einstweilen noch etwas erträglicher
als die Engländer; denn sie sind doch mit vielen fremden Elementen durchsetzt,
die sich gelegentlich noch zur Wahrheit aufschwingen, und das an sich widerliche
Parteigezünk läßt kein Idol zu hoch kommen. Was aber die Engländer betrifft,
so gestehe ich, kein Volk zu kennen, dem als politischem Körper die Wahrheits¬
liebe in solchem Maße abhanden gekommen ist, während man im Privatleben
zahlreichen ungemein wahren und offnen Naturen begegnet, und die Erziehung
der Jugend zur Wahrheit sogar sorgfältiger geübt wird als bei vielen andern
Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner so tief sänken, aber in den
letzten Jahren konnte man sich der Befürchtung schwer erwehren, daß es auch
dazu kommen werde. Was haben die beiden Vettern gemeinsam in der Samoa-
angelcgenheit über die Deutschen zusammengelogen! Es hat uns ja zum Glück
nichts geschadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die Wahrheit,
die unsre Stärke ist, nnr um so besser zu pflegen, wird das Laster unsrer Vettern
uns zum Vorteil gereichen. Ich habe schon früh, wenn ich das herablassende
Lob g, Min Körinim hörte, aus diesem Worte einen tiefern Unterschied zwischen
deutsch und augloleltisch herauszufühlen geglaubt. Und ist es nicht so, daß
bei einem richtigen Deutschen die Wahrheit in der Form von Einfachheit, Ab-
sichtslosigkeit, Hura- und Arglosigkeit in allen seinen Bewegungen, in der Art,
wie er sich trägt und giebt, zum Ausdruck kommt? So soll es sein. Darin
liegen die unscheinbaren Keime der Größe unsrer Denker und Staatsmänner,
die mit derselben Gelassenheit, die der unscheinbare Min Oernnm im täglichen
Leben zeigt, das Wahre und Wesentliche in den größten Verwicklungen fanden
und festhielten. Daß die Wahrheit immer obsiegt, ist eins von den wenigen
sogenannten Gesetzen der Geschichte, an die ich noch glaube.




G""jbvw" l 19N1,77
Briefe eines Jurückgcklchrteil

Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht
innen schon zerrissen oder unterwühlt war. So fürchte ich auch nicht für die
Nordamerikaner, daß äußere Angriffe ihnen schaden werden. Ihre größten Ge¬
fahren lauern in ihnen selbst. Ich glaube sie zu kennen, und sie sind überhaupt
nicht schwer zu finden. Es ist die alte Völkerkrantheit der Selbstbelügung, an der
sie leiden. Den Keim dazu in el»er Stärke, die sonst selten borkommt, haben die
Engländer ans sie übertragen. Sie täuschen sich mit einer solchen Hartnäckig¬
keit und mit so viel Scharfsinn über ihre Fehler hinweg, daß diese auf Selbst-
belügung beruhende Selbstgerechtigkeit ihnen längst in Fleisch und Blut über¬
gegangen ist. lind dn sie in demselben Maße andre Völker tiefer stellen, wie sie
sich selbst erheben, laden sie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf sich.
Ich finde die Amerikaner in dieser Beziehung einstweilen noch etwas erträglicher
als die Engländer; denn sie sind doch mit vielen fremden Elementen durchsetzt,
die sich gelegentlich noch zur Wahrheit aufschwingen, und das an sich widerliche
Parteigezünk läßt kein Idol zu hoch kommen. Was aber die Engländer betrifft,
so gestehe ich, kein Volk zu kennen, dem als politischem Körper die Wahrheits¬
liebe in solchem Maße abhanden gekommen ist, während man im Privatleben
zahlreichen ungemein wahren und offnen Naturen begegnet, und die Erziehung
der Jugend zur Wahrheit sogar sorgfältiger geübt wird als bei vielen andern
Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner so tief sänken, aber in den
letzten Jahren konnte man sich der Befürchtung schwer erwehren, daß es auch
dazu kommen werde. Was haben die beiden Vettern gemeinsam in der Samoa-
angelcgenheit über die Deutschen zusammengelogen! Es hat uns ja zum Glück
nichts geschadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die Wahrheit,
die unsre Stärke ist, nnr um so besser zu pflegen, wird das Laster unsrer Vettern
uns zum Vorteil gereichen. Ich habe schon früh, wenn ich das herablassende
Lob g, Min Körinim hörte, aus diesem Worte einen tiefern Unterschied zwischen
deutsch und augloleltisch herauszufühlen geglaubt. Und ist es nicht so, daß
bei einem richtigen Deutschen die Wahrheit in der Form von Einfachheit, Ab-
sichtslosigkeit, Hura- und Arglosigkeit in allen seinen Bewegungen, in der Art,
wie er sich trägt und giebt, zum Ausdruck kommt? So soll es sein. Darin
liegen die unscheinbaren Keime der Größe unsrer Denker und Staatsmänner,
die mit derselben Gelassenheit, die der unscheinbare Min Oernnm im täglichen
Leben zeigt, das Wahre und Wesentliche in den größten Verwicklungen fanden
und festhielten. Daß die Wahrheit immer obsiegt, ist eins von den wenigen
sogenannten Gesetzen der Geschichte, an die ich noch glaube.




G«»jbvw» l 19N1,77
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0617" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234497"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe eines Jurückgcklchrteil</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1969"> Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht<lb/>
innen schon zerrissen oder unterwühlt war. So fürchte ich auch nicht für die<lb/>
Nordamerikaner, daß äußere Angriffe ihnen schaden werden. Ihre größten Ge¬<lb/>
fahren lauern in ihnen selbst. Ich glaube sie zu kennen, und sie sind überhaupt<lb/>
nicht schwer zu finden. Es ist die alte Völkerkrantheit der Selbstbelügung, an der<lb/>
sie leiden. Den Keim dazu in el»er Stärke, die sonst selten borkommt, haben die<lb/>
Engländer ans sie übertragen. Sie täuschen sich mit einer solchen Hartnäckig¬<lb/>
keit und mit so viel Scharfsinn über ihre Fehler hinweg, daß diese auf Selbst-<lb/>
belügung beruhende Selbstgerechtigkeit ihnen längst in Fleisch und Blut über¬<lb/>
gegangen ist. lind dn sie in demselben Maße andre Völker tiefer stellen, wie sie<lb/>
sich selbst erheben, laden sie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf sich.<lb/>
Ich finde die Amerikaner in dieser Beziehung einstweilen noch etwas erträglicher<lb/>
als die Engländer; denn sie sind doch mit vielen fremden Elementen durchsetzt,<lb/>
die sich gelegentlich noch zur Wahrheit aufschwingen, und das an sich widerliche<lb/>
Parteigezünk läßt kein Idol zu hoch kommen. Was aber die Engländer betrifft,<lb/>
so gestehe ich, kein Volk zu kennen, dem als politischem Körper die Wahrheits¬<lb/>
liebe in solchem Maße abhanden gekommen ist, während man im Privatleben<lb/>
zahlreichen ungemein wahren und offnen Naturen begegnet, und die Erziehung<lb/>
der Jugend zur Wahrheit sogar sorgfältiger geübt wird als bei vielen andern<lb/>
Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner so tief sänken, aber in den<lb/>
letzten Jahren konnte man sich der Befürchtung schwer erwehren, daß es auch<lb/>
dazu kommen werde. Was haben die beiden Vettern gemeinsam in der Samoa-<lb/>
angelcgenheit über die Deutschen zusammengelogen! Es hat uns ja zum Glück<lb/>
nichts geschadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die Wahrheit,<lb/>
die unsre Stärke ist, nnr um so besser zu pflegen, wird das Laster unsrer Vettern<lb/>
uns zum Vorteil gereichen. Ich habe schon früh, wenn ich das herablassende<lb/>
Lob g, Min Körinim hörte, aus diesem Worte einen tiefern Unterschied zwischen<lb/>
deutsch und augloleltisch herauszufühlen geglaubt. Und ist es nicht so, daß<lb/>
bei einem richtigen Deutschen die Wahrheit in der Form von Einfachheit, Ab-<lb/>
sichtslosigkeit, Hura- und Arglosigkeit in allen seinen Bewegungen, in der Art,<lb/>
wie er sich trägt und giebt, zum Ausdruck kommt? So soll es sein. Darin<lb/>
liegen die unscheinbaren Keime der Größe unsrer Denker und Staatsmänner,<lb/>
die mit derselben Gelassenheit, die der unscheinbare Min Oernnm im täglichen<lb/>
Leben zeigt, das Wahre und Wesentliche in den größten Verwicklungen fanden<lb/>
und festhielten. Daß die Wahrheit immer obsiegt, ist eins von den wenigen<lb/>
sogenannten Gesetzen der Geschichte, an die ich noch glaube.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> G«»jbvw» l 19N1,77</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0617] Briefe eines Jurückgcklchrteil Kein Volk ist durch Schläge von außen zertrümmert worden, wenn es nicht innen schon zerrissen oder unterwühlt war. So fürchte ich auch nicht für die Nordamerikaner, daß äußere Angriffe ihnen schaden werden. Ihre größten Ge¬ fahren lauern in ihnen selbst. Ich glaube sie zu kennen, und sie sind überhaupt nicht schwer zu finden. Es ist die alte Völkerkrantheit der Selbstbelügung, an der sie leiden. Den Keim dazu in el»er Stärke, die sonst selten borkommt, haben die Engländer ans sie übertragen. Sie täuschen sich mit einer solchen Hartnäckig¬ keit und mit so viel Scharfsinn über ihre Fehler hinweg, daß diese auf Selbst- belügung beruhende Selbstgerechtigkeit ihnen längst in Fleisch und Blut über¬ gegangen ist. lind dn sie in demselben Maße andre Völker tiefer stellen, wie sie sich selbst erheben, laden sie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf sich. Ich finde die Amerikaner in dieser Beziehung einstweilen noch etwas erträglicher als die Engländer; denn sie sind doch mit vielen fremden Elementen durchsetzt, die sich gelegentlich noch zur Wahrheit aufschwingen, und das an sich widerliche Parteigezünk läßt kein Idol zu hoch kommen. Was aber die Engländer betrifft, so gestehe ich, kein Volk zu kennen, dem als politischem Körper die Wahrheits¬ liebe in solchem Maße abhanden gekommen ist, während man im Privatleben zahlreichen ungemein wahren und offnen Naturen begegnet, und die Erziehung der Jugend zur Wahrheit sogar sorgfältiger geübt wird als bei vielen andern Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner so tief sänken, aber in den letzten Jahren konnte man sich der Befürchtung schwer erwehren, daß es auch dazu kommen werde. Was haben die beiden Vettern gemeinsam in der Samoa- angelcgenheit über die Deutschen zusammengelogen! Es hat uns ja zum Glück nichts geschadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die Wahrheit, die unsre Stärke ist, nnr um so besser zu pflegen, wird das Laster unsrer Vettern uns zum Vorteil gereichen. Ich habe schon früh, wenn ich das herablassende Lob g, Min Körinim hörte, aus diesem Worte einen tiefern Unterschied zwischen deutsch und augloleltisch herauszufühlen geglaubt. Und ist es nicht so, daß bei einem richtigen Deutschen die Wahrheit in der Form von Einfachheit, Ab- sichtslosigkeit, Hura- und Arglosigkeit in allen seinen Bewegungen, in der Art, wie er sich trägt und giebt, zum Ausdruck kommt? So soll es sein. Darin liegen die unscheinbaren Keime der Größe unsrer Denker und Staatsmänner, die mit derselben Gelassenheit, die der unscheinbare Min Oernnm im täglichen Leben zeigt, das Wahre und Wesentliche in den größten Verwicklungen fanden und festhielten. Daß die Wahrheit immer obsiegt, ist eins von den wenigen sogenannten Gesetzen der Geschichte, an die ich noch glaube. G«»jbvw» l 19N1,77

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/617
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/617>, abgerufen am 16.06.2024.