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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Holland und Deutschland

auch die andre, daß er nicht handeln darf, oder um es anders zu sagen, daß
er sich mit der Hinnahme der Neutralität auch der Kraft und des Rechts des
selbstherrlichen Anstoßes begeben hat.

Formell steht nun freilich Holland nicht so, aber aus den Erfahrungen,
die es mit der Abtrennung Belgiens von seinem Staatsleibe gemacht hat,
kaun es sich selber klar machen, daß es mit der Betonung seiner freiern
Stellung über den Zustand politischer Entmannung ebensowenig hinauskommt,
wie das staatsrechtlich gebnndne Land der Belgier. Auch ist es nicht anders,
als daß sich diese Verarmung an dem besten Teile seiner Kraft natürlich und
folgerichtig auch auf das Gebiet andrer freier Möglichkeiten erstreckt. Nicht
alle Gründe, die die Erscheinung bewirkt haben, möge" ans dieser Seite zu suchen
sein, aber es ist eine Thatsache, an der nicht gerüttelt werden kann, daß mit
dem Sinken des politischen Vermögens die geistige Erschlaffung gleichen Schritt
gegangen ist. Die holländischen Universitäten haben lange aufgehört, ton¬
angebend zu sein, und statt sich zeugungskräftig zu zeigen, sind sie schon lange
empfangend geworden. Nicht, als ob Wissenschaft und Kunst keine aus¬
reichende Pflege mehr fänden, aber die Holländer können es nicht leugnen,
daß, wie ihre politische Haltung auf den Standpunkt des keins von beiden
hinabgesunken ist, so ihr rein geistiges Streben den ausgeprägt nationalen
Charakter verloren hat.

Völker wollen wie die einzelnen Menschen etwas haben, woran sie ihr
Herz hängen, sie müssen eine Arbeit haben, an die sie ihre ganze Kraft setzen
können. So haben sich neuerdings die Holländer mit großem Eifer dem
Studium ihrer Sprache und der Pflege ihrer Litteratur zugewandt. Aber ab¬
gesehen davon, daß sie deu eigentlichen Anstoß dazu von müßen her durch die
belgischen Vläminger erhielten, die sich seit dem Jahre 1870 ihrer Stammes-
verwandtschaft zu erinnern ansingen, haben weder ihre Forscher noch ihre
Dichter die Erfolge gehabt, die über einer mittlern Stufe liegeu und mehr
als hohe Achtung beanspruchen können. Es ist natürlich und leicht erklärlich.
Wie Land und Volk zu schwach waren, in widrigen Zeiten die Selbständigkeit
des Staatslebens zu behaupte", so ermangelt ihre Sprache der Tiefe und des
Umfangs, die hervorragenden Geistern den genügenden Spielraum bietet.

Mit einem Worte, die Sprache der Niederländer ist ein Idiom, wie
andre Absplisse des großen teutonischen Sprachstcunms. Der Gelehrte ist mit
seiner Forschung bald an der Grenze, wo er in das weitere allgemeine Gebiet
übertreten muß, und der formengestaltende Dichter findet nicht Tiefe genug,
für seine Gedanken und seine Vorstellungskraft, für seine Empfindungen und
seine Ahnungen den Wortschatz heraufzuholen. Also mich hier wie überall
die Unzulänglichkeit, die den besten Willen lähmt, oder ihn doch nicht zu der
Genialität des Schaffens gelangen läßt, die über das Unbegrenzte gebietet.
Gelehrte von Bedeutung haben allerdings die Erscheinungen der Sprache unter
Regel und Gesetz gebracht, aber die Wirksamkeit der holländischen Grammatik
hört an der Grenze des Landes auf. So kann auch das nicht geleugnet
werden, daß in der Dichtung höchst anerkennenswerte Leistungen vorliegen,


Holland und Deutschland

auch die andre, daß er nicht handeln darf, oder um es anders zu sagen, daß
er sich mit der Hinnahme der Neutralität auch der Kraft und des Rechts des
selbstherrlichen Anstoßes begeben hat.

Formell steht nun freilich Holland nicht so, aber aus den Erfahrungen,
die es mit der Abtrennung Belgiens von seinem Staatsleibe gemacht hat,
kaun es sich selber klar machen, daß es mit der Betonung seiner freiern
Stellung über den Zustand politischer Entmannung ebensowenig hinauskommt,
wie das staatsrechtlich gebnndne Land der Belgier. Auch ist es nicht anders,
als daß sich diese Verarmung an dem besten Teile seiner Kraft natürlich und
folgerichtig auch auf das Gebiet andrer freier Möglichkeiten erstreckt. Nicht
alle Gründe, die die Erscheinung bewirkt haben, möge» ans dieser Seite zu suchen
sein, aber es ist eine Thatsache, an der nicht gerüttelt werden kann, daß mit
dem Sinken des politischen Vermögens die geistige Erschlaffung gleichen Schritt
gegangen ist. Die holländischen Universitäten haben lange aufgehört, ton¬
angebend zu sein, und statt sich zeugungskräftig zu zeigen, sind sie schon lange
empfangend geworden. Nicht, als ob Wissenschaft und Kunst keine aus¬
reichende Pflege mehr fänden, aber die Holländer können es nicht leugnen,
daß, wie ihre politische Haltung auf den Standpunkt des keins von beiden
hinabgesunken ist, so ihr rein geistiges Streben den ausgeprägt nationalen
Charakter verloren hat.

Völker wollen wie die einzelnen Menschen etwas haben, woran sie ihr
Herz hängen, sie müssen eine Arbeit haben, an die sie ihre ganze Kraft setzen
können. So haben sich neuerdings die Holländer mit großem Eifer dem
Studium ihrer Sprache und der Pflege ihrer Litteratur zugewandt. Aber ab¬
gesehen davon, daß sie deu eigentlichen Anstoß dazu von müßen her durch die
belgischen Vläminger erhielten, die sich seit dem Jahre 1870 ihrer Stammes-
verwandtschaft zu erinnern ansingen, haben weder ihre Forscher noch ihre
Dichter die Erfolge gehabt, die über einer mittlern Stufe liegeu und mehr
als hohe Achtung beanspruchen können. Es ist natürlich und leicht erklärlich.
Wie Land und Volk zu schwach waren, in widrigen Zeiten die Selbständigkeit
des Staatslebens zu behaupte», so ermangelt ihre Sprache der Tiefe und des
Umfangs, die hervorragenden Geistern den genügenden Spielraum bietet.

Mit einem Worte, die Sprache der Niederländer ist ein Idiom, wie
andre Absplisse des großen teutonischen Sprachstcunms. Der Gelehrte ist mit
seiner Forschung bald an der Grenze, wo er in das weitere allgemeine Gebiet
übertreten muß, und der formengestaltende Dichter findet nicht Tiefe genug,
für seine Gedanken und seine Vorstellungskraft, für seine Empfindungen und
seine Ahnungen den Wortschatz heraufzuholen. Also mich hier wie überall
die Unzulänglichkeit, die den besten Willen lähmt, oder ihn doch nicht zu der
Genialität des Schaffens gelangen läßt, die über das Unbegrenzte gebietet.
Gelehrte von Bedeutung haben allerdings die Erscheinungen der Sprache unter
Regel und Gesetz gebracht, aber die Wirksamkeit der holländischen Grammatik
hört an der Grenze des Landes auf. So kann auch das nicht geleugnet
werden, daß in der Dichtung höchst anerkennenswerte Leistungen vorliegen,


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[0158] Holland und Deutschland auch die andre, daß er nicht handeln darf, oder um es anders zu sagen, daß er sich mit der Hinnahme der Neutralität auch der Kraft und des Rechts des selbstherrlichen Anstoßes begeben hat. Formell steht nun freilich Holland nicht so, aber aus den Erfahrungen, die es mit der Abtrennung Belgiens von seinem Staatsleibe gemacht hat, kaun es sich selber klar machen, daß es mit der Betonung seiner freiern Stellung über den Zustand politischer Entmannung ebensowenig hinauskommt, wie das staatsrechtlich gebnndne Land der Belgier. Auch ist es nicht anders, als daß sich diese Verarmung an dem besten Teile seiner Kraft natürlich und folgerichtig auch auf das Gebiet andrer freier Möglichkeiten erstreckt. Nicht alle Gründe, die die Erscheinung bewirkt haben, möge» ans dieser Seite zu suchen sein, aber es ist eine Thatsache, an der nicht gerüttelt werden kann, daß mit dem Sinken des politischen Vermögens die geistige Erschlaffung gleichen Schritt gegangen ist. Die holländischen Universitäten haben lange aufgehört, ton¬ angebend zu sein, und statt sich zeugungskräftig zu zeigen, sind sie schon lange empfangend geworden. Nicht, als ob Wissenschaft und Kunst keine aus¬ reichende Pflege mehr fänden, aber die Holländer können es nicht leugnen, daß, wie ihre politische Haltung auf den Standpunkt des keins von beiden hinabgesunken ist, so ihr rein geistiges Streben den ausgeprägt nationalen Charakter verloren hat. Völker wollen wie die einzelnen Menschen etwas haben, woran sie ihr Herz hängen, sie müssen eine Arbeit haben, an die sie ihre ganze Kraft setzen können. So haben sich neuerdings die Holländer mit großem Eifer dem Studium ihrer Sprache und der Pflege ihrer Litteratur zugewandt. Aber ab¬ gesehen davon, daß sie deu eigentlichen Anstoß dazu von müßen her durch die belgischen Vläminger erhielten, die sich seit dem Jahre 1870 ihrer Stammes- verwandtschaft zu erinnern ansingen, haben weder ihre Forscher noch ihre Dichter die Erfolge gehabt, die über einer mittlern Stufe liegeu und mehr als hohe Achtung beanspruchen können. Es ist natürlich und leicht erklärlich. Wie Land und Volk zu schwach waren, in widrigen Zeiten die Selbständigkeit des Staatslebens zu behaupte», so ermangelt ihre Sprache der Tiefe und des Umfangs, die hervorragenden Geistern den genügenden Spielraum bietet. Mit einem Worte, die Sprache der Niederländer ist ein Idiom, wie andre Absplisse des großen teutonischen Sprachstcunms. Der Gelehrte ist mit seiner Forschung bald an der Grenze, wo er in das weitere allgemeine Gebiet übertreten muß, und der formengestaltende Dichter findet nicht Tiefe genug, für seine Gedanken und seine Vorstellungskraft, für seine Empfindungen und seine Ahnungen den Wortschatz heraufzuholen. Also mich hier wie überall die Unzulänglichkeit, die den besten Willen lähmt, oder ihn doch nicht zu der Genialität des Schaffens gelangen läßt, die über das Unbegrenzte gebietet. Gelehrte von Bedeutung haben allerdings die Erscheinungen der Sprache unter Regel und Gesetz gebracht, aber die Wirksamkeit der holländischen Grammatik hört an der Grenze des Landes auf. So kann auch das nicht geleugnet werden, daß in der Dichtung höchst anerkennenswerte Leistungen vorliegen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/158>, abgerufen am 07.06.2024.