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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das britische Parlament

im wesentlichen derselbe" Schicht an und besteht mit wenigen Ausnahmen aus
Männern, die mir im Frack zu Tisch gehn, und die man in den Sitzungen
wie ans den Straßen Londons nie anders als in einem Seidenhut von tadel¬
losem Glanze sieht. Der Arbeitcrvertreter Keir Hardie wurde wie ein seltnes
Tier angestaunt, als er sich mit einer Tuchmütze begnügte. Keir Hardie macht
aber auch keine" Anspruch darauf, zu den obern Zehntausend gerechnet zu
werden, ebensowenig wie die beiden andern Arbeitervertretcr, die sich mit ihm
zusammengruppieren,

Ihnen zunächst in gesellschaftlicher Stellung stehn die 80 Mannen der
irischen Partei, dann kommt der radikale Flügel der Liberalen. Findet man
bei diesen schon einen Henry Labouchere, den Neffen des verstorbnen Lord
Taunton und Eigentümer des bekannten Blattes Irutli, so wimmelt es bei
den gemäßigten Liberalen, den Uniomsten und Konservativen von reichen Leuten
und Trägern geschichtlicher Namen. Das neue im Jahre 1900 gewählte
Unterhaus enthält nicht weniger als 47 Sohne von Peers, 57 Baronets und
39 Ritter. Dazu kommt eine große Zahl von Mitgliedern des unbetitelten
Landadels, der vielfach einen bessern und länger" Stnmmbnum ausweisen
kann, als der mit der Peerwürde oder dem Bnrvnettitel ausgestattete. Über
60 Mitglieder des Unterhauses gehören zum Offizierstaude, und die Rechts-
anwälte treten als eine starke Kompagnie von 142 Köpfen auf. Daneben
darf mau freilich nicht die zahlreichen Vertreter des Handels und der Industrie
vergessen, bei denen an", nach deutschen Verhältnisse" gemessen, einen Gegensatz
zum Grundbesitz vermuten kounte. Doch zu Klage" würde uur der Grund¬
besitz berechtigt sein, nicht die Handelswelt. Wenn kein scharfer Gegensatz
hervortritt, so ist es, weil der Adel, besonders der neuern Ursprungs, schon
lauge nicht mehr auf die Einkünfte ans dem Boden allein angewiesen ist,
sondern eng mit Handel und Industrie verknüpft ist, sei es auch nur in der
einträglichen Rolle der Meerschweinchen (ß'umöa-pig's).

So steht also der Adel, teils durch unmittelbare Beziehungen, teils durch
seine mit dem magischen Zeichen N. ?. versehenen Verwandten und Freunde
in enger fortdauernder Fühlung mit dem Unterhause und verstärkt durch den
Einfluß, den er dort ausübt, seine Stellung auf der ganzen Linie. Wer den
Einfluß bezweifelt, betrachte die Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung.
Von deu zwanzig Mitgliedern des Kabinetts sind nicht weniger als die
Hälfte dem Oberhause entnommen. Vier andre sind mit dem Oberhause dnrch
Blutsverwandtschaft eng verknüpft, sind also selbst Aristokraten vom reinste"
Wasser; drei stehn sogar in den engsten Beziehungen zu Salisbury. Nur
sechs entstammen Familien, die keinen erblichen Titel aufweisen; dagegen kann
Preußen, dem man so gern eine besondre Bevorzugung des Adels nachsagt,
nicht aufkommen. Diese britische Regierung demokratisch nennen kann nur ein
Blinder.

Die nackte Wahrheit ist: parlamentarische Regierung hat bis jetzt für
England und für das Vereinigte Königreich nichts als Adelsherrschaft bedeutet.


Das britische Parlament

im wesentlichen derselbe» Schicht an und besteht mit wenigen Ausnahmen aus
Männern, die mir im Frack zu Tisch gehn, und die man in den Sitzungen
wie ans den Straßen Londons nie anders als in einem Seidenhut von tadel¬
losem Glanze sieht. Der Arbeitcrvertreter Keir Hardie wurde wie ein seltnes
Tier angestaunt, als er sich mit einer Tuchmütze begnügte. Keir Hardie macht
aber auch keine« Anspruch darauf, zu den obern Zehntausend gerechnet zu
werden, ebensowenig wie die beiden andern Arbeitervertretcr, die sich mit ihm
zusammengruppieren,

Ihnen zunächst in gesellschaftlicher Stellung stehn die 80 Mannen der
irischen Partei, dann kommt der radikale Flügel der Liberalen. Findet man
bei diesen schon einen Henry Labouchere, den Neffen des verstorbnen Lord
Taunton und Eigentümer des bekannten Blattes Irutli, so wimmelt es bei
den gemäßigten Liberalen, den Uniomsten und Konservativen von reichen Leuten
und Trägern geschichtlicher Namen. Das neue im Jahre 1900 gewählte
Unterhaus enthält nicht weniger als 47 Sohne von Peers, 57 Baronets und
39 Ritter. Dazu kommt eine große Zahl von Mitgliedern des unbetitelten
Landadels, der vielfach einen bessern und länger» Stnmmbnum ausweisen
kann, als der mit der Peerwürde oder dem Bnrvnettitel ausgestattete. Über
60 Mitglieder des Unterhauses gehören zum Offizierstaude, und die Rechts-
anwälte treten als eine starke Kompagnie von 142 Köpfen auf. Daneben
darf mau freilich nicht die zahlreichen Vertreter des Handels und der Industrie
vergessen, bei denen an», nach deutschen Verhältnisse» gemessen, einen Gegensatz
zum Grundbesitz vermuten kounte. Doch zu Klage» würde uur der Grund¬
besitz berechtigt sein, nicht die Handelswelt. Wenn kein scharfer Gegensatz
hervortritt, so ist es, weil der Adel, besonders der neuern Ursprungs, schon
lauge nicht mehr auf die Einkünfte ans dem Boden allein angewiesen ist,
sondern eng mit Handel und Industrie verknüpft ist, sei es auch nur in der
einträglichen Rolle der Meerschweinchen (ß'umöa-pig's).

So steht also der Adel, teils durch unmittelbare Beziehungen, teils durch
seine mit dem magischen Zeichen N. ?. versehenen Verwandten und Freunde
in enger fortdauernder Fühlung mit dem Unterhause und verstärkt durch den
Einfluß, den er dort ausübt, seine Stellung auf der ganzen Linie. Wer den
Einfluß bezweifelt, betrachte die Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung.
Von deu zwanzig Mitgliedern des Kabinetts sind nicht weniger als die
Hälfte dem Oberhause entnommen. Vier andre sind mit dem Oberhause dnrch
Blutsverwandtschaft eng verknüpft, sind also selbst Aristokraten vom reinste»
Wasser; drei stehn sogar in den engsten Beziehungen zu Salisbury. Nur
sechs entstammen Familien, die keinen erblichen Titel aufweisen; dagegen kann
Preußen, dem man so gern eine besondre Bevorzugung des Adels nachsagt,
nicht aufkommen. Diese britische Regierung demokratisch nennen kann nur ein
Blinder.

Die nackte Wahrheit ist: parlamentarische Regierung hat bis jetzt für
England und für das Vereinigte Königreich nichts als Adelsherrschaft bedeutet.


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[0175] Das britische Parlament im wesentlichen derselbe» Schicht an und besteht mit wenigen Ausnahmen aus Männern, die mir im Frack zu Tisch gehn, und die man in den Sitzungen wie ans den Straßen Londons nie anders als in einem Seidenhut von tadel¬ losem Glanze sieht. Der Arbeitcrvertreter Keir Hardie wurde wie ein seltnes Tier angestaunt, als er sich mit einer Tuchmütze begnügte. Keir Hardie macht aber auch keine« Anspruch darauf, zu den obern Zehntausend gerechnet zu werden, ebensowenig wie die beiden andern Arbeitervertretcr, die sich mit ihm zusammengruppieren, Ihnen zunächst in gesellschaftlicher Stellung stehn die 80 Mannen der irischen Partei, dann kommt der radikale Flügel der Liberalen. Findet man bei diesen schon einen Henry Labouchere, den Neffen des verstorbnen Lord Taunton und Eigentümer des bekannten Blattes Irutli, so wimmelt es bei den gemäßigten Liberalen, den Uniomsten und Konservativen von reichen Leuten und Trägern geschichtlicher Namen. Das neue im Jahre 1900 gewählte Unterhaus enthält nicht weniger als 47 Sohne von Peers, 57 Baronets und 39 Ritter. Dazu kommt eine große Zahl von Mitgliedern des unbetitelten Landadels, der vielfach einen bessern und länger» Stnmmbnum ausweisen kann, als der mit der Peerwürde oder dem Bnrvnettitel ausgestattete. Über 60 Mitglieder des Unterhauses gehören zum Offizierstaude, und die Rechts- anwälte treten als eine starke Kompagnie von 142 Köpfen auf. Daneben darf mau freilich nicht die zahlreichen Vertreter des Handels und der Industrie vergessen, bei denen an», nach deutschen Verhältnisse» gemessen, einen Gegensatz zum Grundbesitz vermuten kounte. Doch zu Klage» würde uur der Grund¬ besitz berechtigt sein, nicht die Handelswelt. Wenn kein scharfer Gegensatz hervortritt, so ist es, weil der Adel, besonders der neuern Ursprungs, schon lauge nicht mehr auf die Einkünfte ans dem Boden allein angewiesen ist, sondern eng mit Handel und Industrie verknüpft ist, sei es auch nur in der einträglichen Rolle der Meerschweinchen (ß'umöa-pig's). So steht also der Adel, teils durch unmittelbare Beziehungen, teils durch seine mit dem magischen Zeichen N. ?. versehenen Verwandten und Freunde in enger fortdauernder Fühlung mit dem Unterhause und verstärkt durch den Einfluß, den er dort ausübt, seine Stellung auf der ganzen Linie. Wer den Einfluß bezweifelt, betrachte die Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung. Von deu zwanzig Mitgliedern des Kabinetts sind nicht weniger als die Hälfte dem Oberhause entnommen. Vier andre sind mit dem Oberhause dnrch Blutsverwandtschaft eng verknüpft, sind also selbst Aristokraten vom reinste» Wasser; drei stehn sogar in den engsten Beziehungen zu Salisbury. Nur sechs entstammen Familien, die keinen erblichen Titel aufweisen; dagegen kann Preußen, dem man so gern eine besondre Bevorzugung des Adels nachsagt, nicht aufkommen. Diese britische Regierung demokratisch nennen kann nur ein Blinder. Die nackte Wahrheit ist: parlamentarische Regierung hat bis jetzt für England und für das Vereinigte Königreich nichts als Adelsherrschaft bedeutet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/175>, abgerufen am 23.05.2024.