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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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moderne Psychologie Fechners Gestirngeister beiseite gelassen. Aber ist denn
der studierende Gelehrte darum unbewußter als der Wurm, weil er manchmal
solche Reize nicht wnhruimmt, deren Wahrnehmung des Wurmes ganzes Seelen¬
leben ausmachen? Mit dem Steigen und Fallen der Schwelle ist doch der
Unterschied zwischen höhern und niedern Lebewesen nicht erschöpft; eine je
reichere Fülle höherer geistiger Reize das Leben der höhern, geistigem Seele
zuführt, desto mehr niedre Reize bleiben für sie unterhalb der Schwelle, sodaß
sie der Mensch nur bemerkt, wenn er in Hypochondrie verfällt. Deshalb wird
er nicht unbewußter, und deshalb ist der Schluß falsch, daß der höchste Geist
völlig unbewußt sei; im Gegenteil ist anzunehmen, daß für ihn nur die leib¬
lichen Wahrnehmungen seiner Emanationen unter der Schwelle bleiben, wes¬
halb er sich nach Hebräer 4, 15 inkarniertc, um mit unsern Schwachheiten
Mitleid empfinden °zu können. Die Abneigung Hartmanns gegen die Vor¬
stellung eines bewußten Weltgeistes entspringt aus seinem Pessimismus. Wem,
es wahr wäre, daß die Unlustsummc der Welt größer sei als die Summe der
Lustempfindungen, dann wäre ja in der That ein bewußter Weltschöpfer nichts
andres als der Teufel. Hartenau hat also ganz Recht, wenn er sagt, vom
Standpunkte der Bewußtseinspsychologie aus sei nur eine eudämonistische Moti¬
vation möglich; etwas andres als die eigne und seiner Geschöpfe Seligkeit
kann der Zweck eines bewußten Gottes nicht sein. Und da es Hartmann nicht
gelingen wird, die lebenden Geschöpfe unsrer kleinen Erde, geschweige denn
die des ganzen Weltalls, zum Entschlüsse der Selbstvernichtung zu überreden,
so wird wohl der Egoismus als Haupttriebkraft alles menschlichen Handelns
in seinen Würden gelassen und uur seine Verfeinerung angestrebt werden
müssen. Gesteht doch auch Mephistopheles: "Und dem verdammten Zeug, der
Tier- und Menschenbrut, dem ist nun gar nichts anzuhaben. Wie viele hab
ich schon begraben, und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut!" Wenn
Hartmann alles Bewußte für ohnmächtig hält, weil wir nicht wissen, wie unsre
Seele es anfängt, ihre bewußten Absichten durch Innervation der Muskeln
w That umzusetzen, so schießt er fehl; es ist eben ein andrer, der, indem er
das bewußte Wollen verleiht, auch das Vollbringen besorgt, und der kaun
nicht unbewußt sein, wie die Thatsache beweist, daß alle zweckmäßige Thätig¬
keit der Menschen mir aus bewußtem Denken entspringt.

Sehr genau giebt Hnrtmann auf Seite 433 an, was die Physiologie für
die Psychologie leistet, und was sie nicht zu leisten vermag. Sie "liefert durch
den Begriff der materiellen Dispositionen in den Zentralorganen die emzrg
brauchbare Erklärung der Übung, der Gewohnheit, der Fertigkeit, des Gedächt¬
nisses, der Reproduktionsfähigkeit von Vorstellungen und Bewegungen und der
chnrakterologischen Anlagen." Was man so Erklärung nennt! Das heißt also:
wenn wir annehmen, daß eine Vorstellung ^ die Molekeln einer Hirnzelle a
in eine gewisse Lage bringt, daß eine verwandte Vorstellung L dasselbe mit
einer Nachbarzclle o thut/und daß die Vorstellung ä., die die Hirnzelle a in
Schwingungen versetzt, durch den Stoß, den dabei n. auf b ausübt, auch diese


moderne Psychologie Fechners Gestirngeister beiseite gelassen. Aber ist denn
der studierende Gelehrte darum unbewußter als der Wurm, weil er manchmal
solche Reize nicht wnhruimmt, deren Wahrnehmung des Wurmes ganzes Seelen¬
leben ausmachen? Mit dem Steigen und Fallen der Schwelle ist doch der
Unterschied zwischen höhern und niedern Lebewesen nicht erschöpft; eine je
reichere Fülle höherer geistiger Reize das Leben der höhern, geistigem Seele
zuführt, desto mehr niedre Reize bleiben für sie unterhalb der Schwelle, sodaß
sie der Mensch nur bemerkt, wenn er in Hypochondrie verfällt. Deshalb wird
er nicht unbewußter, und deshalb ist der Schluß falsch, daß der höchste Geist
völlig unbewußt sei; im Gegenteil ist anzunehmen, daß für ihn nur die leib¬
lichen Wahrnehmungen seiner Emanationen unter der Schwelle bleiben, wes¬
halb er sich nach Hebräer 4, 15 inkarniertc, um mit unsern Schwachheiten
Mitleid empfinden °zu können. Die Abneigung Hartmanns gegen die Vor¬
stellung eines bewußten Weltgeistes entspringt aus seinem Pessimismus. Wem,
es wahr wäre, daß die Unlustsummc der Welt größer sei als die Summe der
Lustempfindungen, dann wäre ja in der That ein bewußter Weltschöpfer nichts
andres als der Teufel. Hartenau hat also ganz Recht, wenn er sagt, vom
Standpunkte der Bewußtseinspsychologie aus sei nur eine eudämonistische Moti¬
vation möglich; etwas andres als die eigne und seiner Geschöpfe Seligkeit
kann der Zweck eines bewußten Gottes nicht sein. Und da es Hartmann nicht
gelingen wird, die lebenden Geschöpfe unsrer kleinen Erde, geschweige denn
die des ganzen Weltalls, zum Entschlüsse der Selbstvernichtung zu überreden,
so wird wohl der Egoismus als Haupttriebkraft alles menschlichen Handelns
in seinen Würden gelassen und uur seine Verfeinerung angestrebt werden
müssen. Gesteht doch auch Mephistopheles: „Und dem verdammten Zeug, der
Tier- und Menschenbrut, dem ist nun gar nichts anzuhaben. Wie viele hab
ich schon begraben, und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut!" Wenn
Hartmann alles Bewußte für ohnmächtig hält, weil wir nicht wissen, wie unsre
Seele es anfängt, ihre bewußten Absichten durch Innervation der Muskeln
w That umzusetzen, so schießt er fehl; es ist eben ein andrer, der, indem er
das bewußte Wollen verleiht, auch das Vollbringen besorgt, und der kaun
nicht unbewußt sein, wie die Thatsache beweist, daß alle zweckmäßige Thätig¬
keit der Menschen mir aus bewußtem Denken entspringt.

Sehr genau giebt Hnrtmann auf Seite 433 an, was die Physiologie für
die Psychologie leistet, und was sie nicht zu leisten vermag. Sie „liefert durch
den Begriff der materiellen Dispositionen in den Zentralorganen die emzrg
brauchbare Erklärung der Übung, der Gewohnheit, der Fertigkeit, des Gedächt¬
nisses, der Reproduktionsfähigkeit von Vorstellungen und Bewegungen und der
chnrakterologischen Anlagen." Was man so Erklärung nennt! Das heißt also:
wenn wir annehmen, daß eine Vorstellung ^ die Molekeln einer Hirnzelle a
in eine gewisse Lage bringt, daß eine verwandte Vorstellung L dasselbe mit
einer Nachbarzclle o thut/und daß die Vorstellung ä., die die Hirnzelle a in
Schwingungen versetzt, durch den Stoß, den dabei n. auf b ausübt, auch diese


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[0031] moderne Psychologie Fechners Gestirngeister beiseite gelassen. Aber ist denn der studierende Gelehrte darum unbewußter als der Wurm, weil er manchmal solche Reize nicht wnhruimmt, deren Wahrnehmung des Wurmes ganzes Seelen¬ leben ausmachen? Mit dem Steigen und Fallen der Schwelle ist doch der Unterschied zwischen höhern und niedern Lebewesen nicht erschöpft; eine je reichere Fülle höherer geistiger Reize das Leben der höhern, geistigem Seele zuführt, desto mehr niedre Reize bleiben für sie unterhalb der Schwelle, sodaß sie der Mensch nur bemerkt, wenn er in Hypochondrie verfällt. Deshalb wird er nicht unbewußter, und deshalb ist der Schluß falsch, daß der höchste Geist völlig unbewußt sei; im Gegenteil ist anzunehmen, daß für ihn nur die leib¬ lichen Wahrnehmungen seiner Emanationen unter der Schwelle bleiben, wes¬ halb er sich nach Hebräer 4, 15 inkarniertc, um mit unsern Schwachheiten Mitleid empfinden °zu können. Die Abneigung Hartmanns gegen die Vor¬ stellung eines bewußten Weltgeistes entspringt aus seinem Pessimismus. Wem, es wahr wäre, daß die Unlustsummc der Welt größer sei als die Summe der Lustempfindungen, dann wäre ja in der That ein bewußter Weltschöpfer nichts andres als der Teufel. Hartenau hat also ganz Recht, wenn er sagt, vom Standpunkte der Bewußtseinspsychologie aus sei nur eine eudämonistische Moti¬ vation möglich; etwas andres als die eigne und seiner Geschöpfe Seligkeit kann der Zweck eines bewußten Gottes nicht sein. Und da es Hartmann nicht gelingen wird, die lebenden Geschöpfe unsrer kleinen Erde, geschweige denn die des ganzen Weltalls, zum Entschlüsse der Selbstvernichtung zu überreden, so wird wohl der Egoismus als Haupttriebkraft alles menschlichen Handelns in seinen Würden gelassen und uur seine Verfeinerung angestrebt werden müssen. Gesteht doch auch Mephistopheles: „Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut, dem ist nun gar nichts anzuhaben. Wie viele hab ich schon begraben, und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut!" Wenn Hartmann alles Bewußte für ohnmächtig hält, weil wir nicht wissen, wie unsre Seele es anfängt, ihre bewußten Absichten durch Innervation der Muskeln w That umzusetzen, so schießt er fehl; es ist eben ein andrer, der, indem er das bewußte Wollen verleiht, auch das Vollbringen besorgt, und der kaun nicht unbewußt sein, wie die Thatsache beweist, daß alle zweckmäßige Thätig¬ keit der Menschen mir aus bewußtem Denken entspringt. Sehr genau giebt Hnrtmann auf Seite 433 an, was die Physiologie für die Psychologie leistet, und was sie nicht zu leisten vermag. Sie „liefert durch den Begriff der materiellen Dispositionen in den Zentralorganen die emzrg brauchbare Erklärung der Übung, der Gewohnheit, der Fertigkeit, des Gedächt¬ nisses, der Reproduktionsfähigkeit von Vorstellungen und Bewegungen und der chnrakterologischen Anlagen." Was man so Erklärung nennt! Das heißt also: wenn wir annehmen, daß eine Vorstellung ^ die Molekeln einer Hirnzelle a in eine gewisse Lage bringt, daß eine verwandte Vorstellung L dasselbe mit einer Nachbarzclle o thut/und daß die Vorstellung ä., die die Hirnzelle a in Schwingungen versetzt, durch den Stoß, den dabei n. auf b ausübt, auch diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/31>, abgerufen am 13.05.2024.