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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

zu schwingen und die Vorstellung L ins Bewußtsein zu schieben veranlaßt, so
haben wir eine Vorstellung davon, wie die Assoziativ" vor sich geht; aber
wie es die schwingende Hirnzelle anstellt, eine Vorstellung auftauchen zu lassen,
oder wie es die Vorstellung anfängt, die Molekeln einer Hirnzelle umzulagern
und in der neuen Lage trotz allen Stoffwechsels jahrelang festzuhalten, davon
haben wir keine Ahnung und werden wohl auch nie eine bekommen. Hart¬
mann fährt fort: "Jeder Versuch, die Abhängigkeit des Seelischen vom Orga¬
nismus in allen diesen Beziehungen zu umgehn oder durch andre Hypothesen
zu ersetzen, muß künftig für aussichtslos gelten. Die Physiologie liefert somit
auch die Erklärung für die Grundlagen der Assoziation; sie macht es ver¬
ständlich, inwiefern die psychischen Thatsachen eine gewisse und doch unvoll-
kommne Regelmäßigkeit zeigen, macht die Einschiebung unwahrgenommner
psychischer Zwischenglieder der Assoziation ebenso überflüssig wie die Fortdauer
nicht wahrgenommner Vorstellungsinhalte in einem hypothetischen psychischen
Gedächtnisvermögen lind erklärt das für die reine Bewnßtseinspsychologie un¬
begreifliche Auftauchen freisteigender Vorstellungen ungezwungen aus innern
organischen Reizen. Dagegen ist sie völlig unfähig, die logischen, ästhetischen
und ethischen Vorstellungsverknüpfungen aus mechanischen Hirnvorgängen zu
erklären, überhaupt irgend welches Hinausgehu über den schon erreichten Stand
des Seelenlebens, irgeud welche schöpferische Synthesen zu machen. Sie zieht
es deshalb vor, schöpferische Synthesen zu leugne", und läßt das Reich des
höhern Geisteslebens, das sie nicht leugnen kann, als ein Wunder stehn."

Will man die Welt nicht als ein Wunder im groben Sinne des Worts
stehn lassen, so muß man den Parallelismus des Geistigen und des Körperlichen
auf die Identität beider zurückführen, wie ja auch Hartenau thut. Er nennt
Nikolaus Eusanus als deu ersten Begründer der Identitätsphilosophie; wie sie
dann Leibniz, Schelling und Lotze ausgebaut haben, ist bekannt. Ebenso be¬
kannt ist, daß Hartmann mit Lotze an der Unvergleichbarkeit der physischen
und der psychischen Vorgänge festhält. Die Einwirkung beider aufeinander ist
deshalb auch nicht als Umformung der Energie zu denken wie die der Bewegung
in Wärme beim Anprall des bewegten Körpers an ein Hindernis; die von
einer anschlagenden Kugel erzeugte Empfindung ist nicht das Äquivalent der
lebendigen Kraft der den Leib treffenden Kugel; das Äquivalent besteht in den
mechanischen Ncrändrnngen, die die getwffne Stelle des Leibes erleidet:
Quetschung, Anschwellung, Erhitzung oder Zerreißung. Nur zwischen der
Stärke des mechanischen Stoßes und der Stärke des Schmerzgefühls, das in
diesem Falle die Wahrnehmung begleitet, besteht eine gewisse Äquivalenz.
Höchst interessant ist Hartmanns Untersuchung, ob und wie weit das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft vom Geistigen durchbrochen oder modifiziert wird.
Er ist der Ansicht, daß die geschlossene Naturkausalität nur im rein physika¬
lischen Gebiet, aber schon im Gebiet des Organischen nicht mehr gelte. Es
sei ein bloßes Vorurteil der heutigen Naturwissenschaft, daß alle im Weltall
vorkommenden Bewegungen aus Gleichungen, die lediglich auf Grund der


Zur Psychologie und Anthropologie

zu schwingen und die Vorstellung L ins Bewußtsein zu schieben veranlaßt, so
haben wir eine Vorstellung davon, wie die Assoziativ» vor sich geht; aber
wie es die schwingende Hirnzelle anstellt, eine Vorstellung auftauchen zu lassen,
oder wie es die Vorstellung anfängt, die Molekeln einer Hirnzelle umzulagern
und in der neuen Lage trotz allen Stoffwechsels jahrelang festzuhalten, davon
haben wir keine Ahnung und werden wohl auch nie eine bekommen. Hart¬
mann fährt fort: „Jeder Versuch, die Abhängigkeit des Seelischen vom Orga¬
nismus in allen diesen Beziehungen zu umgehn oder durch andre Hypothesen
zu ersetzen, muß künftig für aussichtslos gelten. Die Physiologie liefert somit
auch die Erklärung für die Grundlagen der Assoziation; sie macht es ver¬
ständlich, inwiefern die psychischen Thatsachen eine gewisse und doch unvoll-
kommne Regelmäßigkeit zeigen, macht die Einschiebung unwahrgenommner
psychischer Zwischenglieder der Assoziation ebenso überflüssig wie die Fortdauer
nicht wahrgenommner Vorstellungsinhalte in einem hypothetischen psychischen
Gedächtnisvermögen lind erklärt das für die reine Bewnßtseinspsychologie un¬
begreifliche Auftauchen freisteigender Vorstellungen ungezwungen aus innern
organischen Reizen. Dagegen ist sie völlig unfähig, die logischen, ästhetischen
und ethischen Vorstellungsverknüpfungen aus mechanischen Hirnvorgängen zu
erklären, überhaupt irgend welches Hinausgehu über den schon erreichten Stand
des Seelenlebens, irgeud welche schöpferische Synthesen zu machen. Sie zieht
es deshalb vor, schöpferische Synthesen zu leugne», und läßt das Reich des
höhern Geisteslebens, das sie nicht leugnen kann, als ein Wunder stehn."

Will man die Welt nicht als ein Wunder im groben Sinne des Worts
stehn lassen, so muß man den Parallelismus des Geistigen und des Körperlichen
auf die Identität beider zurückführen, wie ja auch Hartenau thut. Er nennt
Nikolaus Eusanus als deu ersten Begründer der Identitätsphilosophie; wie sie
dann Leibniz, Schelling und Lotze ausgebaut haben, ist bekannt. Ebenso be¬
kannt ist, daß Hartmann mit Lotze an der Unvergleichbarkeit der physischen
und der psychischen Vorgänge festhält. Die Einwirkung beider aufeinander ist
deshalb auch nicht als Umformung der Energie zu denken wie die der Bewegung
in Wärme beim Anprall des bewegten Körpers an ein Hindernis; die von
einer anschlagenden Kugel erzeugte Empfindung ist nicht das Äquivalent der
lebendigen Kraft der den Leib treffenden Kugel; das Äquivalent besteht in den
mechanischen Ncrändrnngen, die die getwffne Stelle des Leibes erleidet:
Quetschung, Anschwellung, Erhitzung oder Zerreißung. Nur zwischen der
Stärke des mechanischen Stoßes und der Stärke des Schmerzgefühls, das in
diesem Falle die Wahrnehmung begleitet, besteht eine gewisse Äquivalenz.
Höchst interessant ist Hartmanns Untersuchung, ob und wie weit das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft vom Geistigen durchbrochen oder modifiziert wird.
Er ist der Ansicht, daß die geschlossene Naturkausalität nur im rein physika¬
lischen Gebiet, aber schon im Gebiet des Organischen nicht mehr gelte. Es
sei ein bloßes Vorurteil der heutigen Naturwissenschaft, daß alle im Weltall
vorkommenden Bewegungen aus Gleichungen, die lediglich auf Grund der


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[0032] Zur Psychologie und Anthropologie zu schwingen und die Vorstellung L ins Bewußtsein zu schieben veranlaßt, so haben wir eine Vorstellung davon, wie die Assoziativ» vor sich geht; aber wie es die schwingende Hirnzelle anstellt, eine Vorstellung auftauchen zu lassen, oder wie es die Vorstellung anfängt, die Molekeln einer Hirnzelle umzulagern und in der neuen Lage trotz allen Stoffwechsels jahrelang festzuhalten, davon haben wir keine Ahnung und werden wohl auch nie eine bekommen. Hart¬ mann fährt fort: „Jeder Versuch, die Abhängigkeit des Seelischen vom Orga¬ nismus in allen diesen Beziehungen zu umgehn oder durch andre Hypothesen zu ersetzen, muß künftig für aussichtslos gelten. Die Physiologie liefert somit auch die Erklärung für die Grundlagen der Assoziation; sie macht es ver¬ ständlich, inwiefern die psychischen Thatsachen eine gewisse und doch unvoll- kommne Regelmäßigkeit zeigen, macht die Einschiebung unwahrgenommner psychischer Zwischenglieder der Assoziation ebenso überflüssig wie die Fortdauer nicht wahrgenommner Vorstellungsinhalte in einem hypothetischen psychischen Gedächtnisvermögen lind erklärt das für die reine Bewnßtseinspsychologie un¬ begreifliche Auftauchen freisteigender Vorstellungen ungezwungen aus innern organischen Reizen. Dagegen ist sie völlig unfähig, die logischen, ästhetischen und ethischen Vorstellungsverknüpfungen aus mechanischen Hirnvorgängen zu erklären, überhaupt irgend welches Hinausgehu über den schon erreichten Stand des Seelenlebens, irgeud welche schöpferische Synthesen zu machen. Sie zieht es deshalb vor, schöpferische Synthesen zu leugne», und läßt das Reich des höhern Geisteslebens, das sie nicht leugnen kann, als ein Wunder stehn." Will man die Welt nicht als ein Wunder im groben Sinne des Worts stehn lassen, so muß man den Parallelismus des Geistigen und des Körperlichen auf die Identität beider zurückführen, wie ja auch Hartenau thut. Er nennt Nikolaus Eusanus als deu ersten Begründer der Identitätsphilosophie; wie sie dann Leibniz, Schelling und Lotze ausgebaut haben, ist bekannt. Ebenso be¬ kannt ist, daß Hartmann mit Lotze an der Unvergleichbarkeit der physischen und der psychischen Vorgänge festhält. Die Einwirkung beider aufeinander ist deshalb auch nicht als Umformung der Energie zu denken wie die der Bewegung in Wärme beim Anprall des bewegten Körpers an ein Hindernis; die von einer anschlagenden Kugel erzeugte Empfindung ist nicht das Äquivalent der lebendigen Kraft der den Leib treffenden Kugel; das Äquivalent besteht in den mechanischen Ncrändrnngen, die die getwffne Stelle des Leibes erleidet: Quetschung, Anschwellung, Erhitzung oder Zerreißung. Nur zwischen der Stärke des mechanischen Stoßes und der Stärke des Schmerzgefühls, das in diesem Falle die Wahrnehmung begleitet, besteht eine gewisse Äquivalenz. Höchst interessant ist Hartmanns Untersuchung, ob und wie weit das Gesetz von der Erhaltung der Kraft vom Geistigen durchbrochen oder modifiziert wird. Er ist der Ansicht, daß die geschlossene Naturkausalität nur im rein physika¬ lischen Gebiet, aber schon im Gebiet des Organischen nicht mehr gelte. Es sei ein bloßes Vorurteil der heutigen Naturwissenschaft, daß alle im Weltall vorkommenden Bewegungen aus Gleichungen, die lediglich auf Grund der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/32>, abgerufen am 13.05.2024.