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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokcilverwciltung

die Bekanntmachung der englischen Geschichte und englischer Verhältnisse in
Deutschland erworben, zugleich aber das Verständnis dieser Geschichte und
dieser Verhältnisse außerordentlich erschwert, indem er gerade den Zustand heil¬
loser Verwirrung und Korruption, wo die englische Verwaltung Bankrott
machte, idealisiert und kanonisiert, die Wiederherstellung aus tiefstem Verfall
als Abfall verurteilt und die heutige Gesetzgebung für unorganisch erklärt
habe, während sie doch durch die Beseitigung der Sqirearchie die den heutigen
wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene organische und normale Entfaltung
des ursprünglichen Wesens des englischen Volkskörpers möglich gemacht habe.
Durch seinen Grundirrtum habe er in Deutschland das Verständnis dafür ver¬
hindert, wie die Demokratisierung des Wahlrechts zum Parlament auch die
Verwaltung demokratisiert, d, h, wahrhaft volkstümlich und fruchtbar gemacht
hat; wie sich die alte Friedcnsrichterverivaltnug, die nichts war als Polizei:
ein System vou Verboten und Bevormundungen, umgewandelt hat in eine
großartige schöpferische Thätigkeit, Gneist habe, wie sich selbst, so auch andern
das Verständnis dafür verschlossen, einen wie großen Fortschritt es bedeutet,
daß trotz aller historischen und nationalen Abneigung für den Dienst der Lokal¬
verwaltung ein Apparat von technisch geschulten Beamten geschaffen und der
Aufsicht einer Zentralbehörde unterworfen worden ist, daß sich die Organe der
Selbstverwaltung in ständige und gelegentliche Fachkommissionen gliedern, und
daß diese Kommissionen mit den bezahlten Beamten ohne Reibung zusammen
arbeiten.

So blieb durch Greises Schuld den? gebildeten Deutschen der ganze merk¬
würdige Prozeß, der aus dein alten verrotteten England ein neues, gesünderes,
kräftigeres und mächtigeres geschaffen hat, lange Zeit verborgen, insbesondre
das Aufsteigen des Arbeiterstands, das heilsame Wirken der Gewerkschaften
und 'Genossenschaften, das Fehlen revolutionärer Parteien und die ebenso er¬
staunliche wie erfreuliche Thatsache, die ein glänzendes Zeugnis für den ge¬
sunden Sinn sowohl der Aristokratie wie des Demos bedeutet, daß trotz des
demokratischen Wahlrechts, dessen völlig freie Ausübung durch keinerlei Polizei¬
künste und Polizeichikancn erschwert wird, die Vertreter von Bildung und Besitz
im Parlament wie in der Lokalverwältung die Leitung der Geschäfte in der
Hand behalten haben. Die unablässige Thätigkeit der Besitzenden und Ge¬
bildeten in der Lokalverwaltung, schreibt Redlich Seite 824, "ist eine der un-
versieglichen Quellen der politischen Kraft des Landes und eine der stärksten
Stützen einer friedlichen und dabei doch unablässig vorwärts schreitenden Ent¬
wicklung sowohl in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht, Mag auch, wie
es die Menschennatur mit sich bringt, bei dieser Thätigkeit der obern und
mittlern Klassen das altruistische Moment nicht selten deutlich zurücktreten
hinter der kluge" Berechnung des Klasseninteresses, so steht doch unleugbar
fest, daß die Verwaltung der englischen Städte und Grafschaften, der Armen-
und Sanitätsbehörden andauernd als eine musterhaft ehrliche und pflichtgetreue
erscheint, und daß sie dies bei allem Fortschritt der Demokratie geblieben ist:


Die englische Lokcilverwciltung

die Bekanntmachung der englischen Geschichte und englischer Verhältnisse in
Deutschland erworben, zugleich aber das Verständnis dieser Geschichte und
dieser Verhältnisse außerordentlich erschwert, indem er gerade den Zustand heil¬
loser Verwirrung und Korruption, wo die englische Verwaltung Bankrott
machte, idealisiert und kanonisiert, die Wiederherstellung aus tiefstem Verfall
als Abfall verurteilt und die heutige Gesetzgebung für unorganisch erklärt
habe, während sie doch durch die Beseitigung der Sqirearchie die den heutigen
wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene organische und normale Entfaltung
des ursprünglichen Wesens des englischen Volkskörpers möglich gemacht habe.
Durch seinen Grundirrtum habe er in Deutschland das Verständnis dafür ver¬
hindert, wie die Demokratisierung des Wahlrechts zum Parlament auch die
Verwaltung demokratisiert, d, h, wahrhaft volkstümlich und fruchtbar gemacht
hat; wie sich die alte Friedcnsrichterverivaltnug, die nichts war als Polizei:
ein System vou Verboten und Bevormundungen, umgewandelt hat in eine
großartige schöpferische Thätigkeit, Gneist habe, wie sich selbst, so auch andern
das Verständnis dafür verschlossen, einen wie großen Fortschritt es bedeutet,
daß trotz aller historischen und nationalen Abneigung für den Dienst der Lokal¬
verwaltung ein Apparat von technisch geschulten Beamten geschaffen und der
Aufsicht einer Zentralbehörde unterworfen worden ist, daß sich die Organe der
Selbstverwaltung in ständige und gelegentliche Fachkommissionen gliedern, und
daß diese Kommissionen mit den bezahlten Beamten ohne Reibung zusammen
arbeiten.

So blieb durch Greises Schuld den? gebildeten Deutschen der ganze merk¬
würdige Prozeß, der aus dein alten verrotteten England ein neues, gesünderes,
kräftigeres und mächtigeres geschaffen hat, lange Zeit verborgen, insbesondre
das Aufsteigen des Arbeiterstands, das heilsame Wirken der Gewerkschaften
und 'Genossenschaften, das Fehlen revolutionärer Parteien und die ebenso er¬
staunliche wie erfreuliche Thatsache, die ein glänzendes Zeugnis für den ge¬
sunden Sinn sowohl der Aristokratie wie des Demos bedeutet, daß trotz des
demokratischen Wahlrechts, dessen völlig freie Ausübung durch keinerlei Polizei¬
künste und Polizeichikancn erschwert wird, die Vertreter von Bildung und Besitz
im Parlament wie in der Lokalverwältung die Leitung der Geschäfte in der
Hand behalten haben. Die unablässige Thätigkeit der Besitzenden und Ge¬
bildeten in der Lokalverwaltung, schreibt Redlich Seite 824, „ist eine der un-
versieglichen Quellen der politischen Kraft des Landes und eine der stärksten
Stützen einer friedlichen und dabei doch unablässig vorwärts schreitenden Ent¬
wicklung sowohl in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht, Mag auch, wie
es die Menschennatur mit sich bringt, bei dieser Thätigkeit der obern und
mittlern Klassen das altruistische Moment nicht selten deutlich zurücktreten
hinter der kluge» Berechnung des Klasseninteresses, so steht doch unleugbar
fest, daß die Verwaltung der englischen Städte und Grafschaften, der Armen-
und Sanitätsbehörden andauernd als eine musterhaft ehrliche und pflichtgetreue
erscheint, und daß sie dies bei allem Fortschritt der Demokratie geblieben ist:


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[0621] Die englische Lokcilverwciltung die Bekanntmachung der englischen Geschichte und englischer Verhältnisse in Deutschland erworben, zugleich aber das Verständnis dieser Geschichte und dieser Verhältnisse außerordentlich erschwert, indem er gerade den Zustand heil¬ loser Verwirrung und Korruption, wo die englische Verwaltung Bankrott machte, idealisiert und kanonisiert, die Wiederherstellung aus tiefstem Verfall als Abfall verurteilt und die heutige Gesetzgebung für unorganisch erklärt habe, während sie doch durch die Beseitigung der Sqirearchie die den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene organische und normale Entfaltung des ursprünglichen Wesens des englischen Volkskörpers möglich gemacht habe. Durch seinen Grundirrtum habe er in Deutschland das Verständnis dafür ver¬ hindert, wie die Demokratisierung des Wahlrechts zum Parlament auch die Verwaltung demokratisiert, d, h, wahrhaft volkstümlich und fruchtbar gemacht hat; wie sich die alte Friedcnsrichterverivaltnug, die nichts war als Polizei: ein System vou Verboten und Bevormundungen, umgewandelt hat in eine großartige schöpferische Thätigkeit, Gneist habe, wie sich selbst, so auch andern das Verständnis dafür verschlossen, einen wie großen Fortschritt es bedeutet, daß trotz aller historischen und nationalen Abneigung für den Dienst der Lokal¬ verwaltung ein Apparat von technisch geschulten Beamten geschaffen und der Aufsicht einer Zentralbehörde unterworfen worden ist, daß sich die Organe der Selbstverwaltung in ständige und gelegentliche Fachkommissionen gliedern, und daß diese Kommissionen mit den bezahlten Beamten ohne Reibung zusammen arbeiten. So blieb durch Greises Schuld den? gebildeten Deutschen der ganze merk¬ würdige Prozeß, der aus dein alten verrotteten England ein neues, gesünderes, kräftigeres und mächtigeres geschaffen hat, lange Zeit verborgen, insbesondre das Aufsteigen des Arbeiterstands, das heilsame Wirken der Gewerkschaften und 'Genossenschaften, das Fehlen revolutionärer Parteien und die ebenso er¬ staunliche wie erfreuliche Thatsache, die ein glänzendes Zeugnis für den ge¬ sunden Sinn sowohl der Aristokratie wie des Demos bedeutet, daß trotz des demokratischen Wahlrechts, dessen völlig freie Ausübung durch keinerlei Polizei¬ künste und Polizeichikancn erschwert wird, die Vertreter von Bildung und Besitz im Parlament wie in der Lokalverwältung die Leitung der Geschäfte in der Hand behalten haben. Die unablässige Thätigkeit der Besitzenden und Ge¬ bildeten in der Lokalverwaltung, schreibt Redlich Seite 824, „ist eine der un- versieglichen Quellen der politischen Kraft des Landes und eine der stärksten Stützen einer friedlichen und dabei doch unablässig vorwärts schreitenden Ent¬ wicklung sowohl in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht, Mag auch, wie es die Menschennatur mit sich bringt, bei dieser Thätigkeit der obern und mittlern Klassen das altruistische Moment nicht selten deutlich zurücktreten hinter der kluge» Berechnung des Klasseninteresses, so steht doch unleugbar fest, daß die Verwaltung der englischen Städte und Grafschaften, der Armen- und Sanitätsbehörden andauernd als eine musterhaft ehrliche und pflichtgetreue erscheint, und daß sie dies bei allem Fortschritt der Demokratie geblieben ist:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/621>, abgerufen am 06.06.2024.