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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das britische Parlament

den halbfaulem geschmälert wurde, mußte eine Neueinteilung der Wahlkreise
vorgenommen werden. Alt der Eigentümlichkeit der Burgflecken rüttelte man
nicht. Das Land ist in Kreise eingeteilt, die je einen Abgeordneten entsenden,
von den bestehenden Burgflccken aber sind noch vierundzwanzig durch je zwei
vertreten, d. h. in ihnen wird eine Listenwahl geübt, und jeder Wähler hat
zwei Stimmen. Bei großen Städten wie Newenstle vn Thue mit mehr als
3400V Wählern ist eine Bevorzugung nicht sichtbar. Newcastle würde auch
sonst mit Recht zwei oder gar drei Vertreter beanspruchen können. Devonvort
dagegen ist nur mit 8207 Wählern über Gebühr begünstigt, und noch mehr
ist dies der Fall bei Bath, dessen Liste nur 7218 aufweist. Nicht minder groß
als zwischen Bath und Newcastle ist die Verschiedenheit in den ländlichen Be¬
zirken. Auch die deutschen Reichswgswahlkreise weisen infolge der Verschiebung
der Bevölkerung sehr große Unterschiede auf, aber in Großbritannien und Ir¬
land scheint es, als ob die ganze Einteilung von vornherein mit Rücksicht ans
möglichst große Mannigfaltigkeit angelegt worden wäre. Von Galwah mit
2001 Wählern steigen die Kreise durch alle Stufen der Tausende bis zu Nom¬
ford, das mit 26731 über dreizehnmal so stark ist.

Das englische Unterhaus vor 1707 umfaßte 513 Mitglieder, einschließlich
der walisischen. Durch die Vereinigung mit Schottland kamen 45 neue hinzu,
und der Zutritt Irlands vermehrte es wieder um 100. Unbestreitbar war
England in jeder Beziehung bedeutender als die andern Teile des Reichs.
Aber Schottland war mit nur 45 Abgeordneten entschieden ungenügend ver¬
treten. In England selbst war der Süden vor dem Norden ungerecht bevor¬
zugt. Bei der Neuverteilung der Sitze mußte sich das politische Schwergewicht
nach Norden verschieben, wo der Gewerbcfleiß eine größere Bevölkerungsdichtig¬
keit herbeigeführt hatte. Das nördliche England erhielt demnach stärkere Ver¬
tretung, und die Zahl der schottischen Abgeordneten stieg zunächst auf 54,
1867 auf 60 und 1885 auf 72. Englands Vertretung wurde dagegen etwas
verringert. Seit 1885 enthält das Unterhalts 465 Abgeordnete für England,
30 für Wales, 72 für Schottland und 103 für Irland, zusammen 670. Jetzt
aber ist die Verteilung wieder unbillig für England. Denn Irlands Ein¬
wohner sind in den letzten fünfzig Jahren auf wenig mehr als die Hälfte ge¬
sunken, während Englands bedeutend zugenommen haben. Nach dem gegen¬
wärtigen Stande der Bevölkerung würde" bei gleichmäßiger Verteilung auf
England 498 Abgeordnete fallen, auf Wales 28, auf Schottland 70 und auf
Irland nur 74.

Ist nun schou die Einteilung der Wahlkreise verzwickt, so ist das Wahl¬
recht selbst noch verwickelter. Ein allgemeines Wahlrecht kennt das Vereinigte
Königreich noch nicht. Vor 1832 erfreute sich uur ein sehr geringer Bruch¬
teil, 5 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung, einer Stimme, und
einige große Familien verfügten allein schon über eine Mehrheit im Unter¬
hause. Darin hat das Reformgesetz etwas Wandel geschafft, aber von einem
Einflusse des Volles auf die Regierung war noch keine Rede. Nur der


Das britische Parlament

den halbfaulem geschmälert wurde, mußte eine Neueinteilung der Wahlkreise
vorgenommen werden. Alt der Eigentümlichkeit der Burgflecken rüttelte man
nicht. Das Land ist in Kreise eingeteilt, die je einen Abgeordneten entsenden,
von den bestehenden Burgflccken aber sind noch vierundzwanzig durch je zwei
vertreten, d. h. in ihnen wird eine Listenwahl geübt, und jeder Wähler hat
zwei Stimmen. Bei großen Städten wie Newenstle vn Thue mit mehr als
3400V Wählern ist eine Bevorzugung nicht sichtbar. Newcastle würde auch
sonst mit Recht zwei oder gar drei Vertreter beanspruchen können. Devonvort
dagegen ist nur mit 8207 Wählern über Gebühr begünstigt, und noch mehr
ist dies der Fall bei Bath, dessen Liste nur 7218 aufweist. Nicht minder groß
als zwischen Bath und Newcastle ist die Verschiedenheit in den ländlichen Be¬
zirken. Auch die deutschen Reichswgswahlkreise weisen infolge der Verschiebung
der Bevölkerung sehr große Unterschiede auf, aber in Großbritannien und Ir¬
land scheint es, als ob die ganze Einteilung von vornherein mit Rücksicht ans
möglichst große Mannigfaltigkeit angelegt worden wäre. Von Galwah mit
2001 Wählern steigen die Kreise durch alle Stufen der Tausende bis zu Nom¬
ford, das mit 26731 über dreizehnmal so stark ist.

Das englische Unterhaus vor 1707 umfaßte 513 Mitglieder, einschließlich
der walisischen. Durch die Vereinigung mit Schottland kamen 45 neue hinzu,
und der Zutritt Irlands vermehrte es wieder um 100. Unbestreitbar war
England in jeder Beziehung bedeutender als die andern Teile des Reichs.
Aber Schottland war mit nur 45 Abgeordneten entschieden ungenügend ver¬
treten. In England selbst war der Süden vor dem Norden ungerecht bevor¬
zugt. Bei der Neuverteilung der Sitze mußte sich das politische Schwergewicht
nach Norden verschieben, wo der Gewerbcfleiß eine größere Bevölkerungsdichtig¬
keit herbeigeführt hatte. Das nördliche England erhielt demnach stärkere Ver¬
tretung, und die Zahl der schottischen Abgeordneten stieg zunächst auf 54,
1867 auf 60 und 1885 auf 72. Englands Vertretung wurde dagegen etwas
verringert. Seit 1885 enthält das Unterhalts 465 Abgeordnete für England,
30 für Wales, 72 für Schottland und 103 für Irland, zusammen 670. Jetzt
aber ist die Verteilung wieder unbillig für England. Denn Irlands Ein¬
wohner sind in den letzten fünfzig Jahren auf wenig mehr als die Hälfte ge¬
sunken, während Englands bedeutend zugenommen haben. Nach dem gegen¬
wärtigen Stande der Bevölkerung würde» bei gleichmäßiger Verteilung auf
England 498 Abgeordnete fallen, auf Wales 28, auf Schottland 70 und auf
Irland nur 74.

Ist nun schou die Einteilung der Wahlkreise verzwickt, so ist das Wahl¬
recht selbst noch verwickelter. Ein allgemeines Wahlrecht kennt das Vereinigte
Königreich noch nicht. Vor 1832 erfreute sich uur ein sehr geringer Bruch¬
teil, 5 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung, einer Stimme, und
einige große Familien verfügten allein schon über eine Mehrheit im Unter¬
hause. Darin hat das Reformgesetz etwas Wandel geschafft, aber von einem
Einflusse des Volles auf die Regierung war noch keine Rede. Nur der


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[0066] Das britische Parlament den halbfaulem geschmälert wurde, mußte eine Neueinteilung der Wahlkreise vorgenommen werden. Alt der Eigentümlichkeit der Burgflecken rüttelte man nicht. Das Land ist in Kreise eingeteilt, die je einen Abgeordneten entsenden, von den bestehenden Burgflccken aber sind noch vierundzwanzig durch je zwei vertreten, d. h. in ihnen wird eine Listenwahl geübt, und jeder Wähler hat zwei Stimmen. Bei großen Städten wie Newenstle vn Thue mit mehr als 3400V Wählern ist eine Bevorzugung nicht sichtbar. Newcastle würde auch sonst mit Recht zwei oder gar drei Vertreter beanspruchen können. Devonvort dagegen ist nur mit 8207 Wählern über Gebühr begünstigt, und noch mehr ist dies der Fall bei Bath, dessen Liste nur 7218 aufweist. Nicht minder groß als zwischen Bath und Newcastle ist die Verschiedenheit in den ländlichen Be¬ zirken. Auch die deutschen Reichswgswahlkreise weisen infolge der Verschiebung der Bevölkerung sehr große Unterschiede auf, aber in Großbritannien und Ir¬ land scheint es, als ob die ganze Einteilung von vornherein mit Rücksicht ans möglichst große Mannigfaltigkeit angelegt worden wäre. Von Galwah mit 2001 Wählern steigen die Kreise durch alle Stufen der Tausende bis zu Nom¬ ford, das mit 26731 über dreizehnmal so stark ist. Das englische Unterhaus vor 1707 umfaßte 513 Mitglieder, einschließlich der walisischen. Durch die Vereinigung mit Schottland kamen 45 neue hinzu, und der Zutritt Irlands vermehrte es wieder um 100. Unbestreitbar war England in jeder Beziehung bedeutender als die andern Teile des Reichs. Aber Schottland war mit nur 45 Abgeordneten entschieden ungenügend ver¬ treten. In England selbst war der Süden vor dem Norden ungerecht bevor¬ zugt. Bei der Neuverteilung der Sitze mußte sich das politische Schwergewicht nach Norden verschieben, wo der Gewerbcfleiß eine größere Bevölkerungsdichtig¬ keit herbeigeführt hatte. Das nördliche England erhielt demnach stärkere Ver¬ tretung, und die Zahl der schottischen Abgeordneten stieg zunächst auf 54, 1867 auf 60 und 1885 auf 72. Englands Vertretung wurde dagegen etwas verringert. Seit 1885 enthält das Unterhalts 465 Abgeordnete für England, 30 für Wales, 72 für Schottland und 103 für Irland, zusammen 670. Jetzt aber ist die Verteilung wieder unbillig für England. Denn Irlands Ein¬ wohner sind in den letzten fünfzig Jahren auf wenig mehr als die Hälfte ge¬ sunken, während Englands bedeutend zugenommen haben. Nach dem gegen¬ wärtigen Stande der Bevölkerung würde» bei gleichmäßiger Verteilung auf England 498 Abgeordnete fallen, auf Wales 28, auf Schottland 70 und auf Irland nur 74. Ist nun schou die Einteilung der Wahlkreise verzwickt, so ist das Wahl¬ recht selbst noch verwickelter. Ein allgemeines Wahlrecht kennt das Vereinigte Königreich noch nicht. Vor 1832 erfreute sich uur ein sehr geringer Bruch¬ teil, 5 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung, einer Stimme, und einige große Familien verfügten allein schon über eine Mehrheit im Unter¬ hause. Darin hat das Reformgesetz etwas Wandel geschafft, aber von einem Einflusse des Volles auf die Regierung war noch keine Rede. Nur der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/66>, abgerufen am 06.06.2024.