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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das britische Parlament

Mittelstand wurde zur Staatskrippe zugelassen, die Massen, die von Gleich¬
berechtigung und einem Niederbrechen der Adelsherrschaft geträumt hatten,
sahen ihre Hoffnungen enttäuscht.

Früher hatte das Wahlrecht in den Burgflecken, auch in den nicht faulen,
nur bei wenig Patriziern gelegen. Auf dem Lande waren wahlberechtigt
gewesen bloß die, deren freier Grundbesitz eine bestimmte Größe hatte, also
"ur die Grundherren und der im Laufe der Jahrhunderte sehr znsammeu-
gcschmolzne Stand der größern Franklinge oder Yeomeu. Überall wurde nnn
zwar der Kreis der Wahlberechtigten ausgedehnt, auf dem Lande auch auf
Erbpächter (ooMnolcw'L) und Zeitpnchter MsölrMsrch. Aber überall war
das Wahlrecht an einen Vermögensstand gebunden, der die Zahl der Wähler
im ganzen Königreiche noch nicht auf 813000 Personen beschränkte und noch
immer fünf Sechstel aller volljährigen männlichen Einwohner ausschloß.
Wurden also durch die Reform von 1832 die größten Mißbrüuche abgeschafft
und der Stimmentanf erschwert, die Macht blieb in den Händen der Klasse,
die sie bisher ausgeübt hatte.

Der Arbeiterstand fühlte sich bitter gekränkt, und als die Führer der
Liberalen erklärten, daß sie nicht die Absicht hätten, in der Ausdehnung des
Wahlrechts weiterzugehn, daß also der Mittelstand allein die Früchte einer
Bewegung genießen sollte, die ihren Erfolg wesentlich der Furcht vor einer
Erhebung der Massen verdankte, da traten die Chartisten auf die Bühne. Die
Arbeiter Ware" in der That in trauriger Lage. Die Löhne waren niedrig,
das Brot war teuer, und die Zustände in den Fabriken, und Bergwerken
spotteten der Beschreibung. So groß war der Haß der Arbeiter gegen die
Liberalen, von denen sie sich im Stich gelassen sahen, daß sie sich weigerten,
ihnen bei der Abschaffung der Kornzölle zu helfen, und lediglich ihre politischen
Ziele verfolgten. Wie einst die Barone dem Könige die Magna Charta ab¬
genötigt hatten, so verlangten sie jetzt von den Baronen eine Charta für das
Volk. Sechs Forderungen stellten sie anf: Allgemeines Wahlrecht, jährliche
Parlamente, geheime Abstimmung, Abschaffung des Einkommennachweises der
Abgeordneten (300 Pfund für Burgflecken, 600 Pfund für Landbezirke), Be¬
soldung der Abgeordneten und gleiche Wahlkreise. Mit der Gewährung dieser
Charta, so urteilten sie, würden sie allein imstande sein, die Korngesetze weg-
znfcgen; wenn sie aber erst die Liberalen gegen die Kornzölle unterstützten, so
würden sie wieder betrogen werden.

Ihre Logik war nicht so unrecht. Noch nie hatte sich das Parlament
der reichen Leute um sie bekümmert. Die Leute in den Palästen hatten nie
danach gefragt, wie ihre Nachbarn in den Hütten lebten. Nur wenn Krieg
war, dann war der Mann mit der schwieligen Faust gut genug, eingefangen
und willig oder gezwungen ins Heer oder in die Flotte gesteckt zu werden.
So kam es, daß der Arbeiter mir in der Gewinnung politischer Rechte sein
Heil sah. An vielen Orten kam es zu Unruhen, zu Blutvergießen, aber die
Machthaber erwiesen sich als die stärkern, und viele der Chartistenführer machten


Das britische Parlament

Mittelstand wurde zur Staatskrippe zugelassen, die Massen, die von Gleich¬
berechtigung und einem Niederbrechen der Adelsherrschaft geträumt hatten,
sahen ihre Hoffnungen enttäuscht.

Früher hatte das Wahlrecht in den Burgflecken, auch in den nicht faulen,
nur bei wenig Patriziern gelegen. Auf dem Lande waren wahlberechtigt
gewesen bloß die, deren freier Grundbesitz eine bestimmte Größe hatte, also
»ur die Grundherren und der im Laufe der Jahrhunderte sehr znsammeu-
gcschmolzne Stand der größern Franklinge oder Yeomeu. Überall wurde nnn
zwar der Kreis der Wahlberechtigten ausgedehnt, auf dem Lande auch auf
Erbpächter (ooMnolcw'L) und Zeitpnchter MsölrMsrch. Aber überall war
das Wahlrecht an einen Vermögensstand gebunden, der die Zahl der Wähler
im ganzen Königreiche noch nicht auf 813000 Personen beschränkte und noch
immer fünf Sechstel aller volljährigen männlichen Einwohner ausschloß.
Wurden also durch die Reform von 1832 die größten Mißbrüuche abgeschafft
und der Stimmentanf erschwert, die Macht blieb in den Händen der Klasse,
die sie bisher ausgeübt hatte.

Der Arbeiterstand fühlte sich bitter gekränkt, und als die Führer der
Liberalen erklärten, daß sie nicht die Absicht hätten, in der Ausdehnung des
Wahlrechts weiterzugehn, daß also der Mittelstand allein die Früchte einer
Bewegung genießen sollte, die ihren Erfolg wesentlich der Furcht vor einer
Erhebung der Massen verdankte, da traten die Chartisten auf die Bühne. Die
Arbeiter Ware» in der That in trauriger Lage. Die Löhne waren niedrig,
das Brot war teuer, und die Zustände in den Fabriken, und Bergwerken
spotteten der Beschreibung. So groß war der Haß der Arbeiter gegen die
Liberalen, von denen sie sich im Stich gelassen sahen, daß sie sich weigerten,
ihnen bei der Abschaffung der Kornzölle zu helfen, und lediglich ihre politischen
Ziele verfolgten. Wie einst die Barone dem Könige die Magna Charta ab¬
genötigt hatten, so verlangten sie jetzt von den Baronen eine Charta für das
Volk. Sechs Forderungen stellten sie anf: Allgemeines Wahlrecht, jährliche
Parlamente, geheime Abstimmung, Abschaffung des Einkommennachweises der
Abgeordneten (300 Pfund für Burgflecken, 600 Pfund für Landbezirke), Be¬
soldung der Abgeordneten und gleiche Wahlkreise. Mit der Gewährung dieser
Charta, so urteilten sie, würden sie allein imstande sein, die Korngesetze weg-
znfcgen; wenn sie aber erst die Liberalen gegen die Kornzölle unterstützten, so
würden sie wieder betrogen werden.

Ihre Logik war nicht so unrecht. Noch nie hatte sich das Parlament
der reichen Leute um sie bekümmert. Die Leute in den Palästen hatten nie
danach gefragt, wie ihre Nachbarn in den Hütten lebten. Nur wenn Krieg
war, dann war der Mann mit der schwieligen Faust gut genug, eingefangen
und willig oder gezwungen ins Heer oder in die Flotte gesteckt zu werden.
So kam es, daß der Arbeiter mir in der Gewinnung politischer Rechte sein
Heil sah. An vielen Orten kam es zu Unruhen, zu Blutvergießen, aber die
Machthaber erwiesen sich als die stärkern, und viele der Chartistenführer machten


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[0067] Das britische Parlament Mittelstand wurde zur Staatskrippe zugelassen, die Massen, die von Gleich¬ berechtigung und einem Niederbrechen der Adelsherrschaft geträumt hatten, sahen ihre Hoffnungen enttäuscht. Früher hatte das Wahlrecht in den Burgflecken, auch in den nicht faulen, nur bei wenig Patriziern gelegen. Auf dem Lande waren wahlberechtigt gewesen bloß die, deren freier Grundbesitz eine bestimmte Größe hatte, also »ur die Grundherren und der im Laufe der Jahrhunderte sehr znsammeu- gcschmolzne Stand der größern Franklinge oder Yeomeu. Überall wurde nnn zwar der Kreis der Wahlberechtigten ausgedehnt, auf dem Lande auch auf Erbpächter (ooMnolcw'L) und Zeitpnchter MsölrMsrch. Aber überall war das Wahlrecht an einen Vermögensstand gebunden, der die Zahl der Wähler im ganzen Königreiche noch nicht auf 813000 Personen beschränkte und noch immer fünf Sechstel aller volljährigen männlichen Einwohner ausschloß. Wurden also durch die Reform von 1832 die größten Mißbrüuche abgeschafft und der Stimmentanf erschwert, die Macht blieb in den Händen der Klasse, die sie bisher ausgeübt hatte. Der Arbeiterstand fühlte sich bitter gekränkt, und als die Führer der Liberalen erklärten, daß sie nicht die Absicht hätten, in der Ausdehnung des Wahlrechts weiterzugehn, daß also der Mittelstand allein die Früchte einer Bewegung genießen sollte, die ihren Erfolg wesentlich der Furcht vor einer Erhebung der Massen verdankte, da traten die Chartisten auf die Bühne. Die Arbeiter Ware» in der That in trauriger Lage. Die Löhne waren niedrig, das Brot war teuer, und die Zustände in den Fabriken, und Bergwerken spotteten der Beschreibung. So groß war der Haß der Arbeiter gegen die Liberalen, von denen sie sich im Stich gelassen sahen, daß sie sich weigerten, ihnen bei der Abschaffung der Kornzölle zu helfen, und lediglich ihre politischen Ziele verfolgten. Wie einst die Barone dem Könige die Magna Charta ab¬ genötigt hatten, so verlangten sie jetzt von den Baronen eine Charta für das Volk. Sechs Forderungen stellten sie anf: Allgemeines Wahlrecht, jährliche Parlamente, geheime Abstimmung, Abschaffung des Einkommennachweises der Abgeordneten (300 Pfund für Burgflecken, 600 Pfund für Landbezirke), Be¬ soldung der Abgeordneten und gleiche Wahlkreise. Mit der Gewährung dieser Charta, so urteilten sie, würden sie allein imstande sein, die Korngesetze weg- znfcgen; wenn sie aber erst die Liberalen gegen die Kornzölle unterstützten, so würden sie wieder betrogen werden. Ihre Logik war nicht so unrecht. Noch nie hatte sich das Parlament der reichen Leute um sie bekümmert. Die Leute in den Palästen hatten nie danach gefragt, wie ihre Nachbarn in den Hütten lebten. Nur wenn Krieg war, dann war der Mann mit der schwieligen Faust gut genug, eingefangen und willig oder gezwungen ins Heer oder in die Flotte gesteckt zu werden. So kam es, daß der Arbeiter mir in der Gewinnung politischer Rechte sein Heil sah. An vielen Orten kam es zu Unruhen, zu Blutvergießen, aber die Machthaber erwiesen sich als die stärkern, und viele der Chartistenführer machten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/67>, abgerufen am 23.05.2024.