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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das britische Parlament

Bekanntschaft mit dem Innern der Gefängnisse und einer harten Behandlung,
Am Eude jedoch zeigte sich, daß der ganzen Bewegung weniger eine politische
als eine Frage des Brots zu Grunde lag. Mit der Abschaffung der Korn¬
zölle und dem Freihandel wurde die Lebensführung der Arbeiter besser, und
bei dem damals noch allgemeinen Mangel an Volksbildung büßten die poli¬
tischen Ziele schnell an Teilnahme ein. Auch das Vorurteil gegen den Mittel¬
stand schwächte sich ab, als sich das reformierte Parlament ernstlich daran
machte, den schreienden Mißständen im Betriebe der Fabriken und Bergwerke
ein Ende zu setzen. Tot war die Frage einer neuen Reform, die das Wahl¬
recht auf die Arbeiter ausdehnte, darum nicht. Im Jahre 1834 hatte der
Staat angefangen, etwas für die Erziehung zu thun, und dafür die bescheidne
Summe von 20000 Pfund jährlich ausgesetzt. Wenig genug, auch als der
Betrag später erhöht wurde. Doch immerhin diente es dazu, die edeln Künste
des Lesens und Schreibens einer Anzahl von Arbeitern zugänglich zu machen,
und diesen konnte man das Wahlrecht auf die Dauer nicht vorenthalten; 1859
wurde der Ruf uach einer neuen Reform von John Bright erhoben und der
Kampf eröffnet, der 1867 einen vorläufigen Abschluß fand.

Um den Gegnern den Wind abzufangen, versuchte sich zuerst Disrncli an
einer Vorlage, die aber so gut wie keine Verbesserung enthielt und abgelehnt
wurde. Nach ihm wagte sich Russell zweimal an die Aufgabe, beidemal ver¬
geblich. Eine Wirklichkeit wurde die Erweiterung des Wahlrechts erst 1867
unter der konservativen Negierung Derbys. Disraeli hatte noch seine frühere
Ansicht, er sah nicht ein, weshalb die Liberalen ein Reformmonopol haben
sollten, und war fest entschlossen, eine Reform durchzuführen. Trotzdem war
das Gesetz, das aus den Verhandlungen hervorging, mehr ein Werk der Libe¬
ralen als der Konservativen. Die ursprüngliche Vorlage war sehr engherzig;
aber die Konservativen waren nicht stark genug, den Verbesserungen, die von
liberaler Seite gemacht wurden, Widerstand zu leisten, und das Ergebnis war
eine weit über Disraelis Absicht hinausgehende Ausdehnung des Wahlrechts,
verbunden mit einer nicht sehr starken Änderung in der Verteilung der Sitze. Ein
Jahr später wurde die Reform auch für Schottland und Irland eingeführt.

Ohne Gefahr hätte man die ganze Sache vereinfachen und für alle Teile
des Vereinigten Königreichs das allgemeine Stimmrecht einführen können.
Aber für wirklich durchgreifende Verbesserungen ist Großbritannien ein undank¬
barer Boden. So macht denn das britische Wahlrecht heute noch den Eindruck
des Gekünstelten, obwohl Gladstone 1884 auch den Unterschied zwischen Stadt
und Land beseitigt hat. Auf dem Lande durfte vor 1884 an die Wahlurne
treten, wer Land im Werte von 5 Pfund jährlich besaß oder eine Pacht von
12 Pfund bezahlte. Jetzt gelten hier dieselben Grundsätze wie in den Bnrg-
flecken, nämlich alle sind wahlberechtigt, die einen eignen Haushalt führen,*)



*) Dies stellt das bestehende Recht nur in seiner allgemeinen Wirkung dar. Die ver¬
schleimen Berechtigungen zu beschreiben, würde hier zuviel Raum beanspruchen.
Das britische Parlament

Bekanntschaft mit dem Innern der Gefängnisse und einer harten Behandlung,
Am Eude jedoch zeigte sich, daß der ganzen Bewegung weniger eine politische
als eine Frage des Brots zu Grunde lag. Mit der Abschaffung der Korn¬
zölle und dem Freihandel wurde die Lebensführung der Arbeiter besser, und
bei dem damals noch allgemeinen Mangel an Volksbildung büßten die poli¬
tischen Ziele schnell an Teilnahme ein. Auch das Vorurteil gegen den Mittel¬
stand schwächte sich ab, als sich das reformierte Parlament ernstlich daran
machte, den schreienden Mißständen im Betriebe der Fabriken und Bergwerke
ein Ende zu setzen. Tot war die Frage einer neuen Reform, die das Wahl¬
recht auf die Arbeiter ausdehnte, darum nicht. Im Jahre 1834 hatte der
Staat angefangen, etwas für die Erziehung zu thun, und dafür die bescheidne
Summe von 20000 Pfund jährlich ausgesetzt. Wenig genug, auch als der
Betrag später erhöht wurde. Doch immerhin diente es dazu, die edeln Künste
des Lesens und Schreibens einer Anzahl von Arbeitern zugänglich zu machen,
und diesen konnte man das Wahlrecht auf die Dauer nicht vorenthalten; 1859
wurde der Ruf uach einer neuen Reform von John Bright erhoben und der
Kampf eröffnet, der 1867 einen vorläufigen Abschluß fand.

Um den Gegnern den Wind abzufangen, versuchte sich zuerst Disrncli an
einer Vorlage, die aber so gut wie keine Verbesserung enthielt und abgelehnt
wurde. Nach ihm wagte sich Russell zweimal an die Aufgabe, beidemal ver¬
geblich. Eine Wirklichkeit wurde die Erweiterung des Wahlrechts erst 1867
unter der konservativen Negierung Derbys. Disraeli hatte noch seine frühere
Ansicht, er sah nicht ein, weshalb die Liberalen ein Reformmonopol haben
sollten, und war fest entschlossen, eine Reform durchzuführen. Trotzdem war
das Gesetz, das aus den Verhandlungen hervorging, mehr ein Werk der Libe¬
ralen als der Konservativen. Die ursprüngliche Vorlage war sehr engherzig;
aber die Konservativen waren nicht stark genug, den Verbesserungen, die von
liberaler Seite gemacht wurden, Widerstand zu leisten, und das Ergebnis war
eine weit über Disraelis Absicht hinausgehende Ausdehnung des Wahlrechts,
verbunden mit einer nicht sehr starken Änderung in der Verteilung der Sitze. Ein
Jahr später wurde die Reform auch für Schottland und Irland eingeführt.

Ohne Gefahr hätte man die ganze Sache vereinfachen und für alle Teile
des Vereinigten Königreichs das allgemeine Stimmrecht einführen können.
Aber für wirklich durchgreifende Verbesserungen ist Großbritannien ein undank¬
barer Boden. So macht denn das britische Wahlrecht heute noch den Eindruck
des Gekünstelten, obwohl Gladstone 1884 auch den Unterschied zwischen Stadt
und Land beseitigt hat. Auf dem Lande durfte vor 1884 an die Wahlurne
treten, wer Land im Werte von 5 Pfund jährlich besaß oder eine Pacht von
12 Pfund bezahlte. Jetzt gelten hier dieselben Grundsätze wie in den Bnrg-
flecken, nämlich alle sind wahlberechtigt, die einen eignen Haushalt führen,*)



*) Dies stellt das bestehende Recht nur in seiner allgemeinen Wirkung dar. Die ver¬
schleimen Berechtigungen zu beschreiben, würde hier zuviel Raum beanspruchen.
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[0068] Das britische Parlament Bekanntschaft mit dem Innern der Gefängnisse und einer harten Behandlung, Am Eude jedoch zeigte sich, daß der ganzen Bewegung weniger eine politische als eine Frage des Brots zu Grunde lag. Mit der Abschaffung der Korn¬ zölle und dem Freihandel wurde die Lebensführung der Arbeiter besser, und bei dem damals noch allgemeinen Mangel an Volksbildung büßten die poli¬ tischen Ziele schnell an Teilnahme ein. Auch das Vorurteil gegen den Mittel¬ stand schwächte sich ab, als sich das reformierte Parlament ernstlich daran machte, den schreienden Mißständen im Betriebe der Fabriken und Bergwerke ein Ende zu setzen. Tot war die Frage einer neuen Reform, die das Wahl¬ recht auf die Arbeiter ausdehnte, darum nicht. Im Jahre 1834 hatte der Staat angefangen, etwas für die Erziehung zu thun, und dafür die bescheidne Summe von 20000 Pfund jährlich ausgesetzt. Wenig genug, auch als der Betrag später erhöht wurde. Doch immerhin diente es dazu, die edeln Künste des Lesens und Schreibens einer Anzahl von Arbeitern zugänglich zu machen, und diesen konnte man das Wahlrecht auf die Dauer nicht vorenthalten; 1859 wurde der Ruf uach einer neuen Reform von John Bright erhoben und der Kampf eröffnet, der 1867 einen vorläufigen Abschluß fand. Um den Gegnern den Wind abzufangen, versuchte sich zuerst Disrncli an einer Vorlage, die aber so gut wie keine Verbesserung enthielt und abgelehnt wurde. Nach ihm wagte sich Russell zweimal an die Aufgabe, beidemal ver¬ geblich. Eine Wirklichkeit wurde die Erweiterung des Wahlrechts erst 1867 unter der konservativen Negierung Derbys. Disraeli hatte noch seine frühere Ansicht, er sah nicht ein, weshalb die Liberalen ein Reformmonopol haben sollten, und war fest entschlossen, eine Reform durchzuführen. Trotzdem war das Gesetz, das aus den Verhandlungen hervorging, mehr ein Werk der Libe¬ ralen als der Konservativen. Die ursprüngliche Vorlage war sehr engherzig; aber die Konservativen waren nicht stark genug, den Verbesserungen, die von liberaler Seite gemacht wurden, Widerstand zu leisten, und das Ergebnis war eine weit über Disraelis Absicht hinausgehende Ausdehnung des Wahlrechts, verbunden mit einer nicht sehr starken Änderung in der Verteilung der Sitze. Ein Jahr später wurde die Reform auch für Schottland und Irland eingeführt. Ohne Gefahr hätte man die ganze Sache vereinfachen und für alle Teile des Vereinigten Königreichs das allgemeine Stimmrecht einführen können. Aber für wirklich durchgreifende Verbesserungen ist Großbritannien ein undank¬ barer Boden. So macht denn das britische Wahlrecht heute noch den Eindruck des Gekünstelten, obwohl Gladstone 1884 auch den Unterschied zwischen Stadt und Land beseitigt hat. Auf dem Lande durfte vor 1884 an die Wahlurne treten, wer Land im Werte von 5 Pfund jährlich besaß oder eine Pacht von 12 Pfund bezahlte. Jetzt gelten hier dieselben Grundsätze wie in den Bnrg- flecken, nämlich alle sind wahlberechtigt, die einen eignen Haushalt führen,*) *) Dies stellt das bestehende Recht nur in seiner allgemeinen Wirkung dar. Die ver¬ schleimen Berechtigungen zu beschreiben, würde hier zuviel Raum beanspruchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/68>, abgerufen am 06.06.2024.