Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das britische Parlament

und von Aftermietern die, deren Wohngelaß einen Mitwert von mindestens
10 Pfund jährlich hat. Das Wahlrecht ist, wie hieraus erhellt, ziemlich aus¬
gedehnt, aber bei weitem noch nicht allgemein. Ans einer Bevölkerung von
mehr als 40 Millionen, von denen mindestens 20 Prozent, d. h. 8 Millionen
als volljährige Männer gerechnet werden müssen, waren bei den Wahlen des
Jahres 1900 nur "732613 stimmberechtigt. Der Wunsch, die Hefe des Volks
auszuschließen, ist verständlich; daß die Absicht unter dem bestehenden Wahl¬
recht erreicht wird, läßt sich nicht behaupten, eher das Gegenteil. Manch
einer, der eine Stimme verdiente, hat keine, und mancher, der kaum mehr
als ein tierisches Leben führt, ist berechtigt. Ein Lehrer, der in der Schule
in demselben Saale wie seine Zöglinge schläft, oder ein Handlungsgehilfe, der
im Hause seines Brodherrn mit einem Kameraden das Zimmer teilt, kann nicht
in die Wählerliste eingetragen werden.*) Dasselbe gilt von den unverheirateten
Schutzleuten, die in den Polizeikasernen wohnen. Ein irischer Bauer dagegen,
der weder lesen noch schreiben kann und in einer Lehmhütte haust, der man
Ehre anthut, wenn man sie als ein Loch bezeichnet, darf über die Regierung
zu Gericht sitzen. Wer gehört da zur Hefe des Volks, der Handlungsgehilfe
oder der Analphabet? Gewiß gehören viele von den 1^ Millionen Stimm¬
rechtloser der untersten Schicht an, sie alle dazu zu rechnen, hieße diese Schicht
auf mehr als 6 Millionen veranschlagen, ohne die zahlreichen gänzlich un¬
wissenden Wühler vom Schlage des irischen Bauern zu zählen. Gerade in
Irland ist die Zahl der Analphabeten noch sehr beträchtlich, doch auch in Eng¬
land ist sie nicht gering. Im Jahre 1892 konnten im ganzen Vereinigten
Königreiche von 4587036 Wählern, die ihre Stimme abgaben, 135605 weder
lesen noch schreiben; 1895 waren es uur 72940 aus 3858923; aber bei
größerer Beteiligung würde ihre Zahl gewiß stärker gewesen sein.

Mit der Erfüllung der oben genannten Bedingungen ist übrigens ein
Mann noch kein Wähler. Erst muß er in die Wählerliste eingetragen sein.
Die Eintragung geschieht nur einmal im Jahre, im Juli und August, und die
Wählerliste tritt erst im nächsten Jahre in Kraft. Um Anspruch auf Ein¬
tragung zu haben, muß man ferner mindestens ein Jahr an Ort und Stelle
gewohnt haben. Gesetzt nun, daß ein Mann Ende August in einen andern
Wahlkreis zieht, so hat er zunächst ein Jahr zu warten. Im August des
folgenden Jahres ist jedoch die Zeit der Eintragung schon vorbei, und er hat
weitere zehn Monate zu warten, bis er als Wähler eingeschrieben wird. Dann
dauert es noch sechs Monate, bevor die neue Liste Geltung erlangt. Sein
Umzug beraubt ihn also auf zwei Jahre vier Mouate seines Wahlrechts. Hat
er aber anderswo Eigentum, das ihn zur Wahl berechtigt, so kann er dort
wählen, und in der That giebt es kein gesetzliches Hindernis, warum er nicht
in Dutzenden von Wahlkreisen eine Stimme abgeben soll. Reiche Leute haben



^ Behausung und Beköstigung der Gehilfen bei dem Brodherrn ist in London sehr all¬
gemein. Große Geschäfte bringen sie in Schlafsälen zu 20 und 25 unter.
Das britische Parlament

und von Aftermietern die, deren Wohngelaß einen Mitwert von mindestens
10 Pfund jährlich hat. Das Wahlrecht ist, wie hieraus erhellt, ziemlich aus¬
gedehnt, aber bei weitem noch nicht allgemein. Ans einer Bevölkerung von
mehr als 40 Millionen, von denen mindestens 20 Prozent, d. h. 8 Millionen
als volljährige Männer gerechnet werden müssen, waren bei den Wahlen des
Jahres 1900 nur «732613 stimmberechtigt. Der Wunsch, die Hefe des Volks
auszuschließen, ist verständlich; daß die Absicht unter dem bestehenden Wahl¬
recht erreicht wird, läßt sich nicht behaupten, eher das Gegenteil. Manch
einer, der eine Stimme verdiente, hat keine, und mancher, der kaum mehr
als ein tierisches Leben führt, ist berechtigt. Ein Lehrer, der in der Schule
in demselben Saale wie seine Zöglinge schläft, oder ein Handlungsgehilfe, der
im Hause seines Brodherrn mit einem Kameraden das Zimmer teilt, kann nicht
in die Wählerliste eingetragen werden.*) Dasselbe gilt von den unverheirateten
Schutzleuten, die in den Polizeikasernen wohnen. Ein irischer Bauer dagegen,
der weder lesen noch schreiben kann und in einer Lehmhütte haust, der man
Ehre anthut, wenn man sie als ein Loch bezeichnet, darf über die Regierung
zu Gericht sitzen. Wer gehört da zur Hefe des Volks, der Handlungsgehilfe
oder der Analphabet? Gewiß gehören viele von den 1^ Millionen Stimm¬
rechtloser der untersten Schicht an, sie alle dazu zu rechnen, hieße diese Schicht
auf mehr als 6 Millionen veranschlagen, ohne die zahlreichen gänzlich un¬
wissenden Wühler vom Schlage des irischen Bauern zu zählen. Gerade in
Irland ist die Zahl der Analphabeten noch sehr beträchtlich, doch auch in Eng¬
land ist sie nicht gering. Im Jahre 1892 konnten im ganzen Vereinigten
Königreiche von 4587036 Wählern, die ihre Stimme abgaben, 135605 weder
lesen noch schreiben; 1895 waren es uur 72940 aus 3858923; aber bei
größerer Beteiligung würde ihre Zahl gewiß stärker gewesen sein.

Mit der Erfüllung der oben genannten Bedingungen ist übrigens ein
Mann noch kein Wähler. Erst muß er in die Wählerliste eingetragen sein.
Die Eintragung geschieht nur einmal im Jahre, im Juli und August, und die
Wählerliste tritt erst im nächsten Jahre in Kraft. Um Anspruch auf Ein¬
tragung zu haben, muß man ferner mindestens ein Jahr an Ort und Stelle
gewohnt haben. Gesetzt nun, daß ein Mann Ende August in einen andern
Wahlkreis zieht, so hat er zunächst ein Jahr zu warten. Im August des
folgenden Jahres ist jedoch die Zeit der Eintragung schon vorbei, und er hat
weitere zehn Monate zu warten, bis er als Wähler eingeschrieben wird. Dann
dauert es noch sechs Monate, bevor die neue Liste Geltung erlangt. Sein
Umzug beraubt ihn also auf zwei Jahre vier Mouate seines Wahlrechts. Hat
er aber anderswo Eigentum, das ihn zur Wahl berechtigt, so kann er dort
wählen, und in der That giebt es kein gesetzliches Hindernis, warum er nicht
in Dutzenden von Wahlkreisen eine Stimme abgeben soll. Reiche Leute haben



^ Behausung und Beköstigung der Gehilfen bei dem Brodherrn ist in London sehr all¬
gemein. Große Geschäfte bringen sie in Schlafsälen zu 20 und 25 unter.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235241"/>
          <fw type="header" place="top"> Das britische Parlament</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_253" prev="#ID_252"> und von Aftermietern die, deren Wohngelaß einen Mitwert von mindestens<lb/>
10 Pfund jährlich hat. Das Wahlrecht ist, wie hieraus erhellt, ziemlich aus¬<lb/>
gedehnt, aber bei weitem noch nicht allgemein. Ans einer Bevölkerung von<lb/>
mehr als 40 Millionen, von denen mindestens 20 Prozent, d. h. 8 Millionen<lb/>
als volljährige Männer gerechnet werden müssen, waren bei den Wahlen des<lb/>
Jahres 1900 nur «732613 stimmberechtigt. Der Wunsch, die Hefe des Volks<lb/>
auszuschließen, ist verständlich; daß die Absicht unter dem bestehenden Wahl¬<lb/>
recht erreicht wird, läßt sich nicht behaupten, eher das Gegenteil. Manch<lb/>
einer, der eine Stimme verdiente, hat keine, und mancher, der kaum mehr<lb/>
als ein tierisches Leben führt, ist berechtigt. Ein Lehrer, der in der Schule<lb/>
in demselben Saale wie seine Zöglinge schläft, oder ein Handlungsgehilfe, der<lb/>
im Hause seines Brodherrn mit einem Kameraden das Zimmer teilt, kann nicht<lb/>
in die Wählerliste eingetragen werden.*) Dasselbe gilt von den unverheirateten<lb/>
Schutzleuten, die in den Polizeikasernen wohnen. Ein irischer Bauer dagegen,<lb/>
der weder lesen noch schreiben kann und in einer Lehmhütte haust, der man<lb/>
Ehre anthut, wenn man sie als ein Loch bezeichnet, darf über die Regierung<lb/>
zu Gericht sitzen. Wer gehört da zur Hefe des Volks, der Handlungsgehilfe<lb/>
oder der Analphabet? Gewiß gehören viele von den 1^ Millionen Stimm¬<lb/>
rechtloser der untersten Schicht an, sie alle dazu zu rechnen, hieße diese Schicht<lb/>
auf mehr als 6 Millionen veranschlagen, ohne die zahlreichen gänzlich un¬<lb/>
wissenden Wühler vom Schlage des irischen Bauern zu zählen. Gerade in<lb/>
Irland ist die Zahl der Analphabeten noch sehr beträchtlich, doch auch in Eng¬<lb/>
land ist sie nicht gering. Im Jahre 1892 konnten im ganzen Vereinigten<lb/>
Königreiche von 4587036 Wählern, die ihre Stimme abgaben, 135605 weder<lb/>
lesen noch schreiben; 1895 waren es uur 72940 aus 3858923; aber bei<lb/>
größerer Beteiligung würde ihre Zahl gewiß stärker gewesen sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_254" next="#ID_255"> Mit der Erfüllung der oben genannten Bedingungen ist übrigens ein<lb/>
Mann noch kein Wähler. Erst muß er in die Wählerliste eingetragen sein.<lb/>
Die Eintragung geschieht nur einmal im Jahre, im Juli und August, und die<lb/>
Wählerliste tritt erst im nächsten Jahre in Kraft. Um Anspruch auf Ein¬<lb/>
tragung zu haben, muß man ferner mindestens ein Jahr an Ort und Stelle<lb/>
gewohnt haben. Gesetzt nun, daß ein Mann Ende August in einen andern<lb/>
Wahlkreis zieht, so hat er zunächst ein Jahr zu warten. Im August des<lb/>
folgenden Jahres ist jedoch die Zeit der Eintragung schon vorbei, und er hat<lb/>
weitere zehn Monate zu warten, bis er als Wähler eingeschrieben wird. Dann<lb/>
dauert es noch sechs Monate, bevor die neue Liste Geltung erlangt. Sein<lb/>
Umzug beraubt ihn also auf zwei Jahre vier Mouate seines Wahlrechts. Hat<lb/>
er aber anderswo Eigentum, das ihn zur Wahl berechtigt, so kann er dort<lb/>
wählen, und in der That giebt es kein gesetzliches Hindernis, warum er nicht<lb/>
in Dutzenden von Wahlkreisen eine Stimme abgeben soll. Reiche Leute haben</p><lb/>
          <note xml:id="FID_8" place="foot"> ^ Behausung und Beköstigung der Gehilfen bei dem Brodherrn ist in London sehr all¬<lb/>
gemein. Große Geschäfte bringen sie in Schlafsälen zu 20 und 25 unter.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Das britische Parlament und von Aftermietern die, deren Wohngelaß einen Mitwert von mindestens 10 Pfund jährlich hat. Das Wahlrecht ist, wie hieraus erhellt, ziemlich aus¬ gedehnt, aber bei weitem noch nicht allgemein. Ans einer Bevölkerung von mehr als 40 Millionen, von denen mindestens 20 Prozent, d. h. 8 Millionen als volljährige Männer gerechnet werden müssen, waren bei den Wahlen des Jahres 1900 nur «732613 stimmberechtigt. Der Wunsch, die Hefe des Volks auszuschließen, ist verständlich; daß die Absicht unter dem bestehenden Wahl¬ recht erreicht wird, läßt sich nicht behaupten, eher das Gegenteil. Manch einer, der eine Stimme verdiente, hat keine, und mancher, der kaum mehr als ein tierisches Leben führt, ist berechtigt. Ein Lehrer, der in der Schule in demselben Saale wie seine Zöglinge schläft, oder ein Handlungsgehilfe, der im Hause seines Brodherrn mit einem Kameraden das Zimmer teilt, kann nicht in die Wählerliste eingetragen werden.*) Dasselbe gilt von den unverheirateten Schutzleuten, die in den Polizeikasernen wohnen. Ein irischer Bauer dagegen, der weder lesen noch schreiben kann und in einer Lehmhütte haust, der man Ehre anthut, wenn man sie als ein Loch bezeichnet, darf über die Regierung zu Gericht sitzen. Wer gehört da zur Hefe des Volks, der Handlungsgehilfe oder der Analphabet? Gewiß gehören viele von den 1^ Millionen Stimm¬ rechtloser der untersten Schicht an, sie alle dazu zu rechnen, hieße diese Schicht auf mehr als 6 Millionen veranschlagen, ohne die zahlreichen gänzlich un¬ wissenden Wühler vom Schlage des irischen Bauern zu zählen. Gerade in Irland ist die Zahl der Analphabeten noch sehr beträchtlich, doch auch in Eng¬ land ist sie nicht gering. Im Jahre 1892 konnten im ganzen Vereinigten Königreiche von 4587036 Wählern, die ihre Stimme abgaben, 135605 weder lesen noch schreiben; 1895 waren es uur 72940 aus 3858923; aber bei größerer Beteiligung würde ihre Zahl gewiß stärker gewesen sein. Mit der Erfüllung der oben genannten Bedingungen ist übrigens ein Mann noch kein Wähler. Erst muß er in die Wählerliste eingetragen sein. Die Eintragung geschieht nur einmal im Jahre, im Juli und August, und die Wählerliste tritt erst im nächsten Jahre in Kraft. Um Anspruch auf Ein¬ tragung zu haben, muß man ferner mindestens ein Jahr an Ort und Stelle gewohnt haben. Gesetzt nun, daß ein Mann Ende August in einen andern Wahlkreis zieht, so hat er zunächst ein Jahr zu warten. Im August des folgenden Jahres ist jedoch die Zeit der Eintragung schon vorbei, und er hat weitere zehn Monate zu warten, bis er als Wähler eingeschrieben wird. Dann dauert es noch sechs Monate, bevor die neue Liste Geltung erlangt. Sein Umzug beraubt ihn also auf zwei Jahre vier Mouate seines Wahlrechts. Hat er aber anderswo Eigentum, das ihn zur Wahl berechtigt, so kann er dort wählen, und in der That giebt es kein gesetzliches Hindernis, warum er nicht in Dutzenden von Wahlkreisen eine Stimme abgeben soll. Reiche Leute haben ^ Behausung und Beköstigung der Gehilfen bei dem Brodherrn ist in London sehr all¬ gemein. Große Geschäfte bringen sie in Schlafsälen zu 20 und 25 unter.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/69>, abgerufen am 07.06.2024.