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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Verminderung und verlnlligung der Prozesse

rechteste Sache zu verlieren und dein offenbares Eigentum fremden Händen
preiszugeben. Und wäre beides nicht der Fall, wären Richter und Sach¬
walter geschickte und redliche Männer, so ist der Gang der Justiz in manchen
Ländern von der Art, daß man MethnsalemS Alter erreichen muß, um das
Ende eines Prozesses zu erleben. Da schmachten dann ganze Familien im
Elende und Jammer, indes sich Schelme und hungrige Skribler in ihr Ver¬
mögen teilen. Da wird die gegründetste Forderung wegen eines kleinen
Mangels an elenden Formalitäten für nichtig erklärt. Da muß der Ärmere
sichs gefallen lassen, daß sein reicherer Nachbar ihn: sein väterliches Erbe
entreißt, wenn die Chikane Mittel findet, den Sinu irgend eines alten Doku¬
ments zu verdrehen, oder wenn der Unterdrückte nicht Vermögen genug hat,
die ungeheuern Kosten zur Führung des Prozesses aufzubringen. Einen bessern
Rat weiß ich nicht zu geben als dein Man hüte sich, mit seinein Vermögen
oder seiner Person in die Hände der Justiz zu fallen. Mail weiche ans alle
mögliche Weise jedem Prozesse ans und vergleiche sich lieber, anch bei der
sichersten Überzeugung von Recht, gebe lieber die Hälfte dessen hin, was uns
ein andrer streitig macht, bevor man es zum Schriftwechsel kommen lasse.
Mau halte seine Geschäfte in solcher Ordnung, mache eitles darin bei Lebzeiten
so klar, daß man auch seinen Erben nicht die Wahrscheinlichkeit eines gericht¬
lichen Zwistes hinterlasse. Hat uns aber der böse Feind zu einem Prozesse
verholfen, so suche man sich einen redlichen, uneigennützigen, geschickten Ad¬
vokaten -- man wird oft ein wenig lange suchen müssen -- und bemühe sich
mit ihm also einig zu werden, daß man ihm außer seinen Gebühren noch reichere
Bezahlung verspreche -- nach Verhältnis der Kürze der Zeit, binnen welcher
er die Sache zu Ende bringen wird."

Eine in preußischen Juristenkreiscu verbreitete scherzhafte Erzählung, die
mindestens gut erfunden ist, geht dahin: Ein Strolch wirft dem. ihn verneh¬
menden Richter das Tintenfaß an den Kopf; der Referendar, der das Protokoll
führt, findet es als selbstverständlich, daß der Richter einen Strafantrag wegen
Beleidigung, Körperverletzung und Sachbeschädigung stellt. Aber der erfahrne
Richter lehnt die Stellung des Strafantrags ab mit dem Bemerken: "Man
kann immer nicht wissen, wie das Gericht die Sache auffaßt." In dieser Er¬
zählung liegt unendlich viel Wahres: der "iiwralische Schmerz," den nach
Jhering der in seinem Recht Verletzte empfindet, muß immer gepaart sein mit
der nüchternen Erwägung, daß "Recht" eben das ist, was das Gericht nach
seiner Auffassung als Recht ansieht. Das Gericht hat zwar im Gesetz eine
Richtschnur für das, was es als Recht ansehen soll, aber das Gesetz unterliegt
der "Auslegung"; das Gesetz muß sich ebeu ans die Aufstellung allgemeiner
grundsätzlicher Regeln beschränken, und es bleibt dann der Rechtswissenschaft
und der Rechtsülmng überlassen, aus diesen allgemeinen Regeln die Sonder-
regcln zu entwickeln, die für den einzelnen Fall angewandt werden. "Es wird
nie eine Zeit kommen, wo selbst der großartigste Ball von Gesetzesrecht nicht
umrankt wäre von Rechtssützen in weicherer Form. Ein vollständiges Gesetz


Verminderung und verlnlligung der Prozesse

rechteste Sache zu verlieren und dein offenbares Eigentum fremden Händen
preiszugeben. Und wäre beides nicht der Fall, wären Richter und Sach¬
walter geschickte und redliche Männer, so ist der Gang der Justiz in manchen
Ländern von der Art, daß man MethnsalemS Alter erreichen muß, um das
Ende eines Prozesses zu erleben. Da schmachten dann ganze Familien im
Elende und Jammer, indes sich Schelme und hungrige Skribler in ihr Ver¬
mögen teilen. Da wird die gegründetste Forderung wegen eines kleinen
Mangels an elenden Formalitäten für nichtig erklärt. Da muß der Ärmere
sichs gefallen lassen, daß sein reicherer Nachbar ihn: sein väterliches Erbe
entreißt, wenn die Chikane Mittel findet, den Sinu irgend eines alten Doku¬
ments zu verdrehen, oder wenn der Unterdrückte nicht Vermögen genug hat,
die ungeheuern Kosten zur Führung des Prozesses aufzubringen. Einen bessern
Rat weiß ich nicht zu geben als dein Man hüte sich, mit seinein Vermögen
oder seiner Person in die Hände der Justiz zu fallen. Mail weiche ans alle
mögliche Weise jedem Prozesse ans und vergleiche sich lieber, anch bei der
sichersten Überzeugung von Recht, gebe lieber die Hälfte dessen hin, was uns
ein andrer streitig macht, bevor man es zum Schriftwechsel kommen lasse.
Mau halte seine Geschäfte in solcher Ordnung, mache eitles darin bei Lebzeiten
so klar, daß man auch seinen Erben nicht die Wahrscheinlichkeit eines gericht¬
lichen Zwistes hinterlasse. Hat uns aber der böse Feind zu einem Prozesse
verholfen, so suche man sich einen redlichen, uneigennützigen, geschickten Ad¬
vokaten — man wird oft ein wenig lange suchen müssen — und bemühe sich
mit ihm also einig zu werden, daß man ihm außer seinen Gebühren noch reichere
Bezahlung verspreche — nach Verhältnis der Kürze der Zeit, binnen welcher
er die Sache zu Ende bringen wird."

Eine in preußischen Juristenkreiscu verbreitete scherzhafte Erzählung, die
mindestens gut erfunden ist, geht dahin: Ein Strolch wirft dem. ihn verneh¬
menden Richter das Tintenfaß an den Kopf; der Referendar, der das Protokoll
führt, findet es als selbstverständlich, daß der Richter einen Strafantrag wegen
Beleidigung, Körperverletzung und Sachbeschädigung stellt. Aber der erfahrne
Richter lehnt die Stellung des Strafantrags ab mit dem Bemerken: „Man
kann immer nicht wissen, wie das Gericht die Sache auffaßt." In dieser Er¬
zählung liegt unendlich viel Wahres: der „iiwralische Schmerz," den nach
Jhering der in seinem Recht Verletzte empfindet, muß immer gepaart sein mit
der nüchternen Erwägung, daß „Recht" eben das ist, was das Gericht nach
seiner Auffassung als Recht ansieht. Das Gericht hat zwar im Gesetz eine
Richtschnur für das, was es als Recht ansehen soll, aber das Gesetz unterliegt
der „Auslegung"; das Gesetz muß sich ebeu ans die Aufstellung allgemeiner
grundsätzlicher Regeln beschränken, und es bleibt dann der Rechtswissenschaft
und der Rechtsülmng überlassen, aus diesen allgemeinen Regeln die Sonder-
regcln zu entwickeln, die für den einzelnen Fall angewandt werden. „Es wird
nie eine Zeit kommen, wo selbst der großartigste Ball von Gesetzesrecht nicht
umrankt wäre von Rechtssützen in weicherer Form. Ein vollständiges Gesetz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/76>, abgerufen am 06.06.2024.