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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Wilhelm Hertz

des Dichters der Gegenwart keinen Eintrag, und es ehrt ihn, daß er im
angedeuteten Sinne ein echter Sohn Schwabens ist. Eine runde, geschlossene,
völlig selbständige Erscheinung bleibt er darum doch, und je seltner Erschei¬
nungen seiner Art in der Litteratur der Gegenwart sind, um so weniger darf
der mäßige Umfang und die mäßige Zahl seiner Dichtungen") die Würdigung
des in ihnen vorhandnen Reichtums hindern oder beeinträchtigen.

Was uns zuerst aus den Dichtungen von Wilhelm Hertz entgegenspringt,
ist die Fülle weltfroher, durch und durch gesunder Sinnlichkeit, die Freude an
der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, für die die Welt, so alt sie auch ge¬
worden ist, immer jung bleibt. Das Leben, sein letztes Ziel und sein Zweck,
ist diesem Dichter nicht minder ein Rätsel als seinen dunkel grübelnden und
wehmütig sinnenden Genossen, er fühlt die Schmerzen und die seelischen Er¬
schütterungen, die den Menschen nicht erspart bleiben, so unmittelbar und tief
wie die Säuger, "deren Lerchen schwarz Gefieder tragen" (wie Anastasius Grün
von Lerain sagt), aber die Stärke seines Lebensgefühls und der frische Wellen¬
schlag, der ihm durchs Herz gegangen ist, verhindern ihn, die elegische oder
Pessimistische Stimmung Herr über sich werden zu lassen. Wer nur die lyrischen
Gedichte von Hertz kennen lernte, würde zwar mich den Eindruck davontragen,
daß sich hier eine lichte, unverwüstliche Jugendkraft und Geuußfreudigkeit immer
wieder siegreich über mancherlei Anfechtungen des Schmerzes und manche tiefe
Schatten der Erinnerung erheben. Er würde sogar meinen können, daß der
Lyriker, der Gedichte, wie "Märchentraum" und "Sternbotschaft," "Am Grabe
"-einer Mutter," "Wandrers Herbstlied," "Den Manen meines Bruders,"
"Am Grabe," "Bergeinsamkeit," "Immer stiller fließt das Leben," "Vision"
und "Lautlose Nacht" geschaffen hat, zu den Dichtern gehöre, die im Lied öfter
ihr Leid bezwingen, als Glück und Jubel ihres Lebens aufatmen. Doch
Wilhelm Hertz erinnert selbst daran, daß er sein reiches Glück gelebt habe,
und für die Charakteristik des Dichters ist die ungebrochnc Lebensfreude, die
Lust am Reichtum der Wirklichkeit, die seine kleinen erzählenden Dichtungen
erfüllt und trägt, entscheidend. Die vier kleinen Epen "Lanzelot und Ginevrci,"
"Hugdietrichs Brautfahrt," "Heinrich vou Schwaben," eine Kaisersage, und
"Bruder Rausch," die mit den "Balladen und Romanzen" zusammen den
weitaus größten Teil der "Gesammelten Dichtungen" ausmachen, spiegeln in
aller scheinbaren Objektivität die individuelle Art von Wilhelm Hertz auf das
klarste und deutlichste. In ihnen ist die Probe gegeben, wie tief Anschauung
und Gefühl des Dichters vou der "blühenden Erdenherrlichkeit" getränkt sind,
der er in einem seiner Jugeudgedichte entgegenjauchzt, wie wahr er in einem
andern jeden neuen Lenz als den "Bruder seiner Seele" begrüßt hat:



*) Gesammelte Dichtungen von Wilhelm Hertz. Stuttgart, 1901, I. G, Cottasche
Buchhandlung. (Nur ein Band. Preis 6 Mark, elegant gebunden 7 Mark.)
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Wilhelm Hertz

des Dichters der Gegenwart keinen Eintrag, und es ehrt ihn, daß er im
angedeuteten Sinne ein echter Sohn Schwabens ist. Eine runde, geschlossene,
völlig selbständige Erscheinung bleibt er darum doch, und je seltner Erschei¬
nungen seiner Art in der Litteratur der Gegenwart sind, um so weniger darf
der mäßige Umfang und die mäßige Zahl seiner Dichtungen") die Würdigung
des in ihnen vorhandnen Reichtums hindern oder beeinträchtigen.

Was uns zuerst aus den Dichtungen von Wilhelm Hertz entgegenspringt,
ist die Fülle weltfroher, durch und durch gesunder Sinnlichkeit, die Freude an
der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, für die die Welt, so alt sie auch ge¬
worden ist, immer jung bleibt. Das Leben, sein letztes Ziel und sein Zweck,
ist diesem Dichter nicht minder ein Rätsel als seinen dunkel grübelnden und
wehmütig sinnenden Genossen, er fühlt die Schmerzen und die seelischen Er¬
schütterungen, die den Menschen nicht erspart bleiben, so unmittelbar und tief
wie die Säuger, „deren Lerchen schwarz Gefieder tragen" (wie Anastasius Grün
von Lerain sagt), aber die Stärke seines Lebensgefühls und der frische Wellen¬
schlag, der ihm durchs Herz gegangen ist, verhindern ihn, die elegische oder
Pessimistische Stimmung Herr über sich werden zu lassen. Wer nur die lyrischen
Gedichte von Hertz kennen lernte, würde zwar mich den Eindruck davontragen,
daß sich hier eine lichte, unverwüstliche Jugendkraft und Geuußfreudigkeit immer
wieder siegreich über mancherlei Anfechtungen des Schmerzes und manche tiefe
Schatten der Erinnerung erheben. Er würde sogar meinen können, daß der
Lyriker, der Gedichte, wie „Märchentraum" und „Sternbotschaft," „Am Grabe
»-einer Mutter," „Wandrers Herbstlied," „Den Manen meines Bruders,"
„Am Grabe," „Bergeinsamkeit," „Immer stiller fließt das Leben," „Vision"
und „Lautlose Nacht" geschaffen hat, zu den Dichtern gehöre, die im Lied öfter
ihr Leid bezwingen, als Glück und Jubel ihres Lebens aufatmen. Doch
Wilhelm Hertz erinnert selbst daran, daß er sein reiches Glück gelebt habe,
und für die Charakteristik des Dichters ist die ungebrochnc Lebensfreude, die
Lust am Reichtum der Wirklichkeit, die seine kleinen erzählenden Dichtungen
erfüllt und trägt, entscheidend. Die vier kleinen Epen „Lanzelot und Ginevrci,"
„Hugdietrichs Brautfahrt," „Heinrich vou Schwaben," eine Kaisersage, und
„Bruder Rausch," die mit den „Balladen und Romanzen" zusammen den
weitaus größten Teil der „Gesammelten Dichtungen" ausmachen, spiegeln in
aller scheinbaren Objektivität die individuelle Art von Wilhelm Hertz auf das
klarste und deutlichste. In ihnen ist die Probe gegeben, wie tief Anschauung
und Gefühl des Dichters vou der „blühenden Erdenherrlichkeit" getränkt sind,
der er in einem seiner Jugeudgedichte entgegenjauchzt, wie wahr er in einem
andern jeden neuen Lenz als den „Bruder seiner Seele" begrüßt hat:



*) Gesammelte Dichtungen von Wilhelm Hertz. Stuttgart, 1901, I. G, Cottasche
Buchhandlung. (Nur ein Band. Preis 6 Mark, elegant gebunden 7 Mark.)
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[0209] Wilhelm Hertz des Dichters der Gegenwart keinen Eintrag, und es ehrt ihn, daß er im angedeuteten Sinne ein echter Sohn Schwabens ist. Eine runde, geschlossene, völlig selbständige Erscheinung bleibt er darum doch, und je seltner Erschei¬ nungen seiner Art in der Litteratur der Gegenwart sind, um so weniger darf der mäßige Umfang und die mäßige Zahl seiner Dichtungen") die Würdigung des in ihnen vorhandnen Reichtums hindern oder beeinträchtigen. Was uns zuerst aus den Dichtungen von Wilhelm Hertz entgegenspringt, ist die Fülle weltfroher, durch und durch gesunder Sinnlichkeit, die Freude an der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, für die die Welt, so alt sie auch ge¬ worden ist, immer jung bleibt. Das Leben, sein letztes Ziel und sein Zweck, ist diesem Dichter nicht minder ein Rätsel als seinen dunkel grübelnden und wehmütig sinnenden Genossen, er fühlt die Schmerzen und die seelischen Er¬ schütterungen, die den Menschen nicht erspart bleiben, so unmittelbar und tief wie die Säuger, „deren Lerchen schwarz Gefieder tragen" (wie Anastasius Grün von Lerain sagt), aber die Stärke seines Lebensgefühls und der frische Wellen¬ schlag, der ihm durchs Herz gegangen ist, verhindern ihn, die elegische oder Pessimistische Stimmung Herr über sich werden zu lassen. Wer nur die lyrischen Gedichte von Hertz kennen lernte, würde zwar mich den Eindruck davontragen, daß sich hier eine lichte, unverwüstliche Jugendkraft und Geuußfreudigkeit immer wieder siegreich über mancherlei Anfechtungen des Schmerzes und manche tiefe Schatten der Erinnerung erheben. Er würde sogar meinen können, daß der Lyriker, der Gedichte, wie „Märchentraum" und „Sternbotschaft," „Am Grabe »-einer Mutter," „Wandrers Herbstlied," „Den Manen meines Bruders," „Am Grabe," „Bergeinsamkeit," „Immer stiller fließt das Leben," „Vision" und „Lautlose Nacht" geschaffen hat, zu den Dichtern gehöre, die im Lied öfter ihr Leid bezwingen, als Glück und Jubel ihres Lebens aufatmen. Doch Wilhelm Hertz erinnert selbst daran, daß er sein reiches Glück gelebt habe, und für die Charakteristik des Dichters ist die ungebrochnc Lebensfreude, die Lust am Reichtum der Wirklichkeit, die seine kleinen erzählenden Dichtungen erfüllt und trägt, entscheidend. Die vier kleinen Epen „Lanzelot und Ginevrci," „Hugdietrichs Brautfahrt," „Heinrich vou Schwaben," eine Kaisersage, und „Bruder Rausch," die mit den „Balladen und Romanzen" zusammen den weitaus größten Teil der „Gesammelten Dichtungen" ausmachen, spiegeln in aller scheinbaren Objektivität die individuelle Art von Wilhelm Hertz auf das klarste und deutlichste. In ihnen ist die Probe gegeben, wie tief Anschauung und Gefühl des Dichters vou der „blühenden Erdenherrlichkeit" getränkt sind, der er in einem seiner Jugeudgedichte entgegenjauchzt, wie wahr er in einem andern jeden neuen Lenz als den „Bruder seiner Seele" begrüßt hat: *) Gesammelte Dichtungen von Wilhelm Hertz. Stuttgart, 1901, I. G, Cottasche Buchhandlung. (Nur ein Band. Preis 6 Mark, elegant gebunden 7 Mark.) Grenzboten 1 19V2 2»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/209>, abgerufen am 28.05.2024.