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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Geistige Strömungen im Katholizismus

diesen Verhältnissen hatte der irische Klerus seine Pflicht durchaus nicht voll
erfüllt. Anstatt auf das nutzlose Brüten über erlittnes Unrecht hinzuweisen
und zu energischer Thätigkeit zu ernähren, teilten sie -- als Kinder ihres
Volks -- diese Meinungen, und sie beschränkten sich darauf, ihre seelsorge-
rischen Pflichten zu erfüllen, deu ungeheuer wichtigen sozialen Pflichten jedoch
fast keine Aufmerksamkeit zu schenken. Somit kann man also nicht von einer
geistigen Strömung reden, sondern viel eher von dem freiwilligen Verzicht auf
die Einleitung einer solchen.

Die Thätigkeit des Klerus hat es allerdings zuwege gebracht, daß trotz
der erschreckenden VolkSvermindrung, die eine direkte Folge der langen ökonv-
"röchelt Notlage ist,, die Gelder für kirchliche Zwecke in früher ungeahnter
Fülle flüssig geworden sind. Es muß Verwundrung hervorrufen, daß über
den zahllosen Kirchenrestanrationen und Neubauten, von denen viele gar nicht
nötig und dringend waren, die wesentlich wichtigern des moralischen Aufbaus
der Nation zu gesundem, fröhlichem Schaffen und wirtschaftlicher Erstarkung
völlig vernachlässigt worden sind.

Es mutet darum eigentümlich an, daß zahllose Anforderungen an die
Regierung gestellt werden, Dinge einzurichten und zu fördern, die eine Regie¬
rung gar nicht ausführen kann, wenn das Volk nicht willig ist lind mithilft.
Wenn dann nichts geschieht wegen der Indolenz der gebildeten Kreise, dann
ist die Regierung wiederum der Sündenbock. Die allgemeine Betrachtung der
irischen Verhältnisse sührt darum nur zu einer objektiv erwcisbaren Unterbilanz
im katholischen Leben der grünen Insel, sie führt zur Feststellung der That¬
sache, daß der Klerus seiner hohen Aufgabe nur zum Teil gewachsen war und
^i, und der Episkopat seinen großen Einfluß nicht immer in der richtigen
Weise geltend gemacht hat.

Mit diesen Bemerkungen soll selbstverständlich die Regierung nicht von
entlastet werden, was ihr mit Recht zum Vorwurf gemacht wird, daß sie
nämlich nie auch nur versucht hat, Irland in seinen gerechten Aspirationen
zufrieden zu stellen. Das Verständnis für die irische Volksseele fehlt völlig,
und darnns erklären sich die sich abwechselnden Maßnahmen größter Strenge
und relativer Milde, die Konfusionen in der Verwaltung, die Provokationen
und Ungerechtigkeiten, die eine lange Kette von unfähigen hohen Beamten auf
dem Gewissen hat. Warum die Regierung deu Wunsch nach einer eignen
Universität nicht schon lange erfüllt hat, muß einfach als unbegreiflich be¬
zeichnet werden. Irland steht wieder am Vorabend einer gewaltigen Gärung.
auch jetzt wieder Blut fließen muß, bevor man zu einem Einvernehmen
kommt, muß abgewartet werden.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika müßten heute statt elf oder
swölf Millionen Katholiken deren mindestens fünfundzwanzig haben. Der
Grund für die außerordentlichen Verluste ist erstens darin zu suchen, daß sich
große Massen von katholischen Einwandrern in der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts in Gegenden niedergelassen haben, wo weit und breit
weder Gotteshaus noch Priester waren, und sie selbst, sowie ihre gesamte
Nachkommenschaft der Kirche verloren gingen. Zweitens haben die blutigen


Geistige Strömungen im Katholizismus

diesen Verhältnissen hatte der irische Klerus seine Pflicht durchaus nicht voll
erfüllt. Anstatt auf das nutzlose Brüten über erlittnes Unrecht hinzuweisen
und zu energischer Thätigkeit zu ernähren, teilten sie — als Kinder ihres
Volks — diese Meinungen, und sie beschränkten sich darauf, ihre seelsorge-
rischen Pflichten zu erfüllen, deu ungeheuer wichtigen sozialen Pflichten jedoch
fast keine Aufmerksamkeit zu schenken. Somit kann man also nicht von einer
geistigen Strömung reden, sondern viel eher von dem freiwilligen Verzicht auf
die Einleitung einer solchen.

Die Thätigkeit des Klerus hat es allerdings zuwege gebracht, daß trotz
der erschreckenden VolkSvermindrung, die eine direkte Folge der langen ökonv-
»röchelt Notlage ist,, die Gelder für kirchliche Zwecke in früher ungeahnter
Fülle flüssig geworden sind. Es muß Verwundrung hervorrufen, daß über
den zahllosen Kirchenrestanrationen und Neubauten, von denen viele gar nicht
nötig und dringend waren, die wesentlich wichtigern des moralischen Aufbaus
der Nation zu gesundem, fröhlichem Schaffen und wirtschaftlicher Erstarkung
völlig vernachlässigt worden sind.

Es mutet darum eigentümlich an, daß zahllose Anforderungen an die
Regierung gestellt werden, Dinge einzurichten und zu fördern, die eine Regie¬
rung gar nicht ausführen kann, wenn das Volk nicht willig ist lind mithilft.
Wenn dann nichts geschieht wegen der Indolenz der gebildeten Kreise, dann
ist die Regierung wiederum der Sündenbock. Die allgemeine Betrachtung der
irischen Verhältnisse sührt darum nur zu einer objektiv erwcisbaren Unterbilanz
im katholischen Leben der grünen Insel, sie führt zur Feststellung der That¬
sache, daß der Klerus seiner hohen Aufgabe nur zum Teil gewachsen war und
^i, und der Episkopat seinen großen Einfluß nicht immer in der richtigen
Weise geltend gemacht hat.

Mit diesen Bemerkungen soll selbstverständlich die Regierung nicht von
entlastet werden, was ihr mit Recht zum Vorwurf gemacht wird, daß sie
nämlich nie auch nur versucht hat, Irland in seinen gerechten Aspirationen
zufrieden zu stellen. Das Verständnis für die irische Volksseele fehlt völlig,
und darnns erklären sich die sich abwechselnden Maßnahmen größter Strenge
und relativer Milde, die Konfusionen in der Verwaltung, die Provokationen
und Ungerechtigkeiten, die eine lange Kette von unfähigen hohen Beamten auf
dem Gewissen hat. Warum die Regierung deu Wunsch nach einer eignen
Universität nicht schon lange erfüllt hat, muß einfach als unbegreiflich be¬
zeichnet werden. Irland steht wieder am Vorabend einer gewaltigen Gärung.
auch jetzt wieder Blut fließen muß, bevor man zu einem Einvernehmen
kommt, muß abgewartet werden.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika müßten heute statt elf oder
swölf Millionen Katholiken deren mindestens fünfundzwanzig haben. Der
Grund für die außerordentlichen Verluste ist erstens darin zu suchen, daß sich
große Massen von katholischen Einwandrern in der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts in Gegenden niedergelassen haben, wo weit und breit
weder Gotteshaus noch Priester waren, und sie selbst, sowie ihre gesamte
Nachkommenschaft der Kirche verloren gingen. Zweitens haben die blutigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/199>, abgerufen am 17.06.2024.