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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

trügen) herstammt, das seit dem fünfzehnten Jahrhundert in den "angedeutschten"
Formen "joncu" oder "jnnen" auftritt und dann die Quelle des Hauptworts
"Joner" ("Juner") geworden ist. Dieses bezeichnete ursprünglich nur den gewerbs¬
mäßigen Betrüger im Karten- oder Würfelspiele, hat dann aber in den Formen
"Jauner" (so noch bei Schiller und überhaupt schwäbisch) und "Gauner" (so zuerst
vbersächsisch) allmählich die bekannte Begriffserweiterung durchgemacht. Im Zu¬
sammenhange hiermit steht dann ohne Zweifel auch der Ausdruck "jenische" oder
gar "jenaische Sprache" (gleichsam als käme sie von Jena), die uns später neben
andern Bezeichnungen (wie: Spitzbubensprache oder Spitzbubenlatein, Diebes- oder
Schurersprache, Plattensprache, Kochemer Löschen, Kaloschensprache usw.) namentlich
in Süd- und in Mitteldeutschland öfter für das "Rotwelsch" begegnet. Auch dieses
letzte Wort, das zuerst im "Passional" vom Jahre 1250 nachweisbar ist -- wo
es sogar schon in einem übertragnen Sinne (geheime, arglistige Rede) vor¬
kommt --> hat unsern Vorfahren nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet. Man dachte
zum Beispiel an die geheime Sprache der Rotten (Räuberbanden), an das italienische
rotto, gebrochen (also gebrochne, d. h. fremd klingende Sprechweise), ja sogar an
das ehrbare schwäbische Städtchen Rottweil, weil die Juristen am dortigen kaiser¬
lichen Hofgericht einst ein so entsetzlich schlechtes, mit Fremdwörtern gespieltes
Deutsch geschrieben hätten, daß es kein Mensch mehr recht habe versteh" können.
Diese sonderbare, mit Unrecht öfter dem alten Gottsched als Erfinder aufgebürdete
Ableitung konnte zwar schon Ave-Lallemand mit Recht als einen "schlechten Witz"
bezeichnen, dagegen hat er selber über den -- allerdings verlockend genug er¬
scheinenden -- Zusammenhang des Ausdrucks Rotwelsch mit der roten Farbe noch
Ansichten verteidigt, die heute als haltlose Hypothesen erwiesen sind. Während
uns der zweite Bestandteil der Zusammensetzung ("welsch") namentlich aus dem
Worte "Kauderwelsch" (d. h. eigentlich die Sprache der italienischen, in' Tirol und
Südwestdeutschland herumziehenden Hausierer), dann auch aus "Welschland," "welsche
Nuß" (Walruß), "welscher Hahn" usw. zur Genüge bekannt ist, wissen wir über
den ersten ("Rot") nur so viel, daß er in der Gaunersprache schon im Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts für Bettler vorkommt, insbesondre auch in Verbin¬
dungen wie zum Beispiel Rotboß, die Bettlerherberge ("Boß" wohl vom hebräischen
bnM, des, Haus). Hat danach aber "Rotwelsch" zunächst die Bettlersprache be¬
deutet (weshalb es auch bei ältern Schriftstellern zuweilen als "Bettlerlatein" be¬
zeichnet wird), so muß in den frühern Zeiten zwischen Bettlern und Gaunern ein
sehr naher Zusammenhang bestanden haben. Und dem ist auch in der Tat so
gewesen.

Das gewerbsmäßige Bettlertum, das den Völkern des klassischen Altertums
mit ihrer Sklaverei noch unbekannt war, ist in Deutschland durch die Lehren der
christlichen Kirche von der Gleichheit aller Menschen und dem Almosengeben als
Heil- und Gnadenmittel, wenngleich unbeabsichtigterweise, stark befördert, schnell zu
einem sozialen Übel herangewachsen. Wie es dann aber auch das Gaunertum ver¬
standen hat, unter der Maske der Hilfsbcdürftigkeit die -- leider nur zu oft mit
Beschränktheit gepaarte -- Gutmütigkeit seiner Nebenmenschen auszubeuten, davon
gibt uns zum Beispiel der berühmte leider VsAatorum aus dem Anfange des
sechzehnten Jahrhunderts, der "erste Versuch einer systematischen Darstellung des
deutschen Gcmnertums" (Aos-Lallemand), eine sehr anschauliche Schilderung. Er
zählt nicht weniger als achtundzwanzig verschiedne Arten betrügerischer Betteleien
auf, die zum Teil schou ein recht großes Raffinement bekunden. Vergeblich sehen
wir in der Folge die Staatsbehörden sich in dem Kampfe gegen diese -- einst
dnrch zu große Milde heraufbeschwor"" -- Landplage erschöpfen. Dieser Kampf
konnte keinen Erfolg haben, weil er mit verkehrten Mitteln geführt wurde. Durch
Galgen, Staupenschlag und Brandmarkung erzeugte man statt der gewünschten
Abschreckung meist nur Haß und Rache, und durch die Landesverweisung verschob
man das Übel nur von einem Gebiet auf ein andres. Dazu kamen die vielen


Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

trügen) herstammt, das seit dem fünfzehnten Jahrhundert in den „angedeutschten"
Formen „joncu" oder „jnnen" auftritt und dann die Quelle des Hauptworts
„Joner" („Juner") geworden ist. Dieses bezeichnete ursprünglich nur den gewerbs¬
mäßigen Betrüger im Karten- oder Würfelspiele, hat dann aber in den Formen
„Jauner" (so noch bei Schiller und überhaupt schwäbisch) und „Gauner" (so zuerst
vbersächsisch) allmählich die bekannte Begriffserweiterung durchgemacht. Im Zu¬
sammenhange hiermit steht dann ohne Zweifel auch der Ausdruck „jenische" oder
gar „jenaische Sprache" (gleichsam als käme sie von Jena), die uns später neben
andern Bezeichnungen (wie: Spitzbubensprache oder Spitzbubenlatein, Diebes- oder
Schurersprache, Plattensprache, Kochemer Löschen, Kaloschensprache usw.) namentlich
in Süd- und in Mitteldeutschland öfter für das „Rotwelsch" begegnet. Auch dieses
letzte Wort, das zuerst im „Passional" vom Jahre 1250 nachweisbar ist — wo
es sogar schon in einem übertragnen Sinne (geheime, arglistige Rede) vor¬
kommt —> hat unsern Vorfahren nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet. Man dachte
zum Beispiel an die geheime Sprache der Rotten (Räuberbanden), an das italienische
rotto, gebrochen (also gebrochne, d. h. fremd klingende Sprechweise), ja sogar an
das ehrbare schwäbische Städtchen Rottweil, weil die Juristen am dortigen kaiser¬
lichen Hofgericht einst ein so entsetzlich schlechtes, mit Fremdwörtern gespieltes
Deutsch geschrieben hätten, daß es kein Mensch mehr recht habe versteh» können.
Diese sonderbare, mit Unrecht öfter dem alten Gottsched als Erfinder aufgebürdete
Ableitung konnte zwar schon Ave-Lallemand mit Recht als einen „schlechten Witz"
bezeichnen, dagegen hat er selber über den — allerdings verlockend genug er¬
scheinenden — Zusammenhang des Ausdrucks Rotwelsch mit der roten Farbe noch
Ansichten verteidigt, die heute als haltlose Hypothesen erwiesen sind. Während
uns der zweite Bestandteil der Zusammensetzung („welsch") namentlich aus dem
Worte „Kauderwelsch" (d. h. eigentlich die Sprache der italienischen, in' Tirol und
Südwestdeutschland herumziehenden Hausierer), dann auch aus „Welschland," „welsche
Nuß" (Walruß), „welscher Hahn" usw. zur Genüge bekannt ist, wissen wir über
den ersten („Rot") nur so viel, daß er in der Gaunersprache schon im Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts für Bettler vorkommt, insbesondre auch in Verbin¬
dungen wie zum Beispiel Rotboß, die Bettlerherberge („Boß" wohl vom hebräischen
bnM, des, Haus). Hat danach aber „Rotwelsch" zunächst die Bettlersprache be¬
deutet (weshalb es auch bei ältern Schriftstellern zuweilen als „Bettlerlatein" be¬
zeichnet wird), so muß in den frühern Zeiten zwischen Bettlern und Gaunern ein
sehr naher Zusammenhang bestanden haben. Und dem ist auch in der Tat so
gewesen.

Das gewerbsmäßige Bettlertum, das den Völkern des klassischen Altertums
mit ihrer Sklaverei noch unbekannt war, ist in Deutschland durch die Lehren der
christlichen Kirche von der Gleichheit aller Menschen und dem Almosengeben als
Heil- und Gnadenmittel, wenngleich unbeabsichtigterweise, stark befördert, schnell zu
einem sozialen Übel herangewachsen. Wie es dann aber auch das Gaunertum ver¬
standen hat, unter der Maske der Hilfsbcdürftigkeit die — leider nur zu oft mit
Beschränktheit gepaarte — Gutmütigkeit seiner Nebenmenschen auszubeuten, davon
gibt uns zum Beispiel der berühmte leider VsAatorum aus dem Anfange des
sechzehnten Jahrhunderts, der „erste Versuch einer systematischen Darstellung des
deutschen Gcmnertums" (Aos-Lallemand), eine sehr anschauliche Schilderung. Er
zählt nicht weniger als achtundzwanzig verschiedne Arten betrügerischer Betteleien
auf, die zum Teil schou ein recht großes Raffinement bekunden. Vergeblich sehen
wir in der Folge die Staatsbehörden sich in dem Kampfe gegen diese — einst
dnrch zu große Milde heraufbeschwor»« — Landplage erschöpfen. Dieser Kampf
konnte keinen Erfolg haben, weil er mit verkehrten Mitteln geführt wurde. Durch
Galgen, Staupenschlag und Brandmarkung erzeugte man statt der gewünschten
Abschreckung meist nur Haß und Rache, und durch die Landesverweisung verschob
man das Übel nur von einem Gebiet auf ein andres. Dazu kamen die vielen


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[0044] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners trügen) herstammt, das seit dem fünfzehnten Jahrhundert in den „angedeutschten" Formen „joncu" oder „jnnen" auftritt und dann die Quelle des Hauptworts „Joner" („Juner") geworden ist. Dieses bezeichnete ursprünglich nur den gewerbs¬ mäßigen Betrüger im Karten- oder Würfelspiele, hat dann aber in den Formen „Jauner" (so noch bei Schiller und überhaupt schwäbisch) und „Gauner" (so zuerst vbersächsisch) allmählich die bekannte Begriffserweiterung durchgemacht. Im Zu¬ sammenhange hiermit steht dann ohne Zweifel auch der Ausdruck „jenische" oder gar „jenaische Sprache" (gleichsam als käme sie von Jena), die uns später neben andern Bezeichnungen (wie: Spitzbubensprache oder Spitzbubenlatein, Diebes- oder Schurersprache, Plattensprache, Kochemer Löschen, Kaloschensprache usw.) namentlich in Süd- und in Mitteldeutschland öfter für das „Rotwelsch" begegnet. Auch dieses letzte Wort, das zuerst im „Passional" vom Jahre 1250 nachweisbar ist — wo es sogar schon in einem übertragnen Sinne (geheime, arglistige Rede) vor¬ kommt —> hat unsern Vorfahren nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet. Man dachte zum Beispiel an die geheime Sprache der Rotten (Räuberbanden), an das italienische rotto, gebrochen (also gebrochne, d. h. fremd klingende Sprechweise), ja sogar an das ehrbare schwäbische Städtchen Rottweil, weil die Juristen am dortigen kaiser¬ lichen Hofgericht einst ein so entsetzlich schlechtes, mit Fremdwörtern gespieltes Deutsch geschrieben hätten, daß es kein Mensch mehr recht habe versteh» können. Diese sonderbare, mit Unrecht öfter dem alten Gottsched als Erfinder aufgebürdete Ableitung konnte zwar schon Ave-Lallemand mit Recht als einen „schlechten Witz" bezeichnen, dagegen hat er selber über den — allerdings verlockend genug er¬ scheinenden — Zusammenhang des Ausdrucks Rotwelsch mit der roten Farbe noch Ansichten verteidigt, die heute als haltlose Hypothesen erwiesen sind. Während uns der zweite Bestandteil der Zusammensetzung („welsch") namentlich aus dem Worte „Kauderwelsch" (d. h. eigentlich die Sprache der italienischen, in' Tirol und Südwestdeutschland herumziehenden Hausierer), dann auch aus „Welschland," „welsche Nuß" (Walruß), „welscher Hahn" usw. zur Genüge bekannt ist, wissen wir über den ersten („Rot") nur so viel, daß er in der Gaunersprache schon im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts für Bettler vorkommt, insbesondre auch in Verbin¬ dungen wie zum Beispiel Rotboß, die Bettlerherberge („Boß" wohl vom hebräischen bnM, des, Haus). Hat danach aber „Rotwelsch" zunächst die Bettlersprache be¬ deutet (weshalb es auch bei ältern Schriftstellern zuweilen als „Bettlerlatein" be¬ zeichnet wird), so muß in den frühern Zeiten zwischen Bettlern und Gaunern ein sehr naher Zusammenhang bestanden haben. Und dem ist auch in der Tat so gewesen. Das gewerbsmäßige Bettlertum, das den Völkern des klassischen Altertums mit ihrer Sklaverei noch unbekannt war, ist in Deutschland durch die Lehren der christlichen Kirche von der Gleichheit aller Menschen und dem Almosengeben als Heil- und Gnadenmittel, wenngleich unbeabsichtigterweise, stark befördert, schnell zu einem sozialen Übel herangewachsen. Wie es dann aber auch das Gaunertum ver¬ standen hat, unter der Maske der Hilfsbcdürftigkeit die — leider nur zu oft mit Beschränktheit gepaarte — Gutmütigkeit seiner Nebenmenschen auszubeuten, davon gibt uns zum Beispiel der berühmte leider VsAatorum aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts, der „erste Versuch einer systematischen Darstellung des deutschen Gcmnertums" (Aos-Lallemand), eine sehr anschauliche Schilderung. Er zählt nicht weniger als achtundzwanzig verschiedne Arten betrügerischer Betteleien auf, die zum Teil schou ein recht großes Raffinement bekunden. Vergeblich sehen wir in der Folge die Staatsbehörden sich in dem Kampfe gegen diese — einst dnrch zu große Milde heraufbeschwor»« — Landplage erschöpfen. Dieser Kampf konnte keinen Erfolg haben, weil er mit verkehrten Mitteln geführt wurde. Durch Galgen, Staupenschlag und Brandmarkung erzeugte man statt der gewünschten Abschreckung meist nur Haß und Rache, und durch die Landesverweisung verschob man das Übel nur von einem Gebiet auf ein andres. Dazu kamen die vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/44>, abgerufen am 13.05.2024.