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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und Japan

nur tausend Mann in Mulden abliefert, alle Proviant- usw. Züge mit ein¬
gerechnet, so würden, da zwei Armeekorps als eingetroffen gelten können,
ein drittes (das erste) unterwegs ist, wohl noch sieben Monate vergehn,
bis Rußland, ein Jahr nach Ausbruch des Krieges, im Besitz der nötigen
Übermacht wäre. Voraussetzung dabei ist, daß der Bahnkörper und das
rollende Material nicht versagen, daß keine europäischen Verwicklungen ent-
stehn, und daß die "neutralen" Mächte, d. h. England und Amerika, so lange
zusehen. Jedenfalls verändert sich das Gesamtbild der europäischen Lage da¬
mit ganz bedeutend. Die Franzosen haben das vorausgesehen und haben
rechtzeitig die Deckung, die ihnen Rußland nicht mehr gewähren konnte, bei
England gesucht und gefunden. Damit ist aber auch für Ostasien der englisch-
französische Gegensatz auf lange Zeit hinaus beseitigt, und auch in dieser
Richtung das Gesamtbild, gleichviel wie der Krieg auch enden möge, wesentlich
verändert. Zweifellos ist Japans Streben nicht nur darauf gerichtet, auf dem
asiatischen Kontinent Raum für seinen Handel und für sein überflüssiges
Menschenmaterial zu gewinnen, sondern es strebt die Vorherrschaft, die Ru߬
land bisher hatte, für sich selbst an. Ein Volk von achtundvierzig Millionen
(bei dem übrigens bezeichnenderweise der männliche Teil um eine halbe Million
stärker ist als der weibliche, nach der Volkszählung von 1890: 22608150
männliche und 22197806 weibliche Einwohner, dagegen Deutschland in dem¬
selben Jahre: 27737247 männliche, 28629931 weibliche Einwohner), das
seine Ziele mit so zäher Energie verfolgt, wird den Erfolg auch um den
Preis immer wieder erneuter Kämpfe anstreben. Andrerseits beruht Rußlands
Stellung in Asien nicht auf einem ungemessenen Vergrößerungstrieb, sondern
auf dem Bedürfnis, das für Nußland zur Existenzfrage geworden ist, den Aus¬
gang zum Weltmeer aus eisfreien Häfen zu suchen. Die Lebensfragen zweier
starker Völker stoßen hier unvermittelt aufeinander. Die Japaner sitzen jetzt
schon im eigentlichen Japan, ohne Formosa und den Bulkaninseln, mit
117 Menschen auf dem Quadratkilometer wir in Deutschland mit 104, ein
sprechender Beweis von der Dichtigkeit der Bevölkerung Japans, deren Zu¬
nahme im Jahr etwa eine halbe Million beträgt, gegenüber einer Million in
Deutschland. Wir werden bei der Volkszählung von 1905 auf reichlich sechzig
Millionen Menschen kommen, in zwanzig Jahren werden es achtzig Millionen
sein, die in Deutschland selbst nicht unterzubringen und nicht zu beschäftigen
sein werden. Wir werden also nach dem Jahre 1920 in dieselbe Lage kommen
wie Japan, für den Überschuß unsrer Bevölkerung Platz unter der Sonne
suchen zu müssen. Es wird das freilich etwas spät, und das Ziel nur schwer
zu erreichen sein.

Unbestritten liegt es in der Richtung der englischen Politik, dem höchst
unbequemen russischen Gegner in Asien durch Japan Schranken ziehn zu lassen,
während England die Verlegenheit Rußlands in aller Muße ausnutzt, um in
Tibet und an andern Orten die englischen Interessen sicher unter Dach und
Fach zu bringen. Japans Krieg ist insofern auch ein englischer; vielleicht
hat er einen russisch-englischen Zusammenstoß in Mittelasien für lange Zeit
hinausgerückt. Auch für den Fall, daß Nußland schließlich siegreich aus


Deutschland und Japan

nur tausend Mann in Mulden abliefert, alle Proviant- usw. Züge mit ein¬
gerechnet, so würden, da zwei Armeekorps als eingetroffen gelten können,
ein drittes (das erste) unterwegs ist, wohl noch sieben Monate vergehn,
bis Rußland, ein Jahr nach Ausbruch des Krieges, im Besitz der nötigen
Übermacht wäre. Voraussetzung dabei ist, daß der Bahnkörper und das
rollende Material nicht versagen, daß keine europäischen Verwicklungen ent-
stehn, und daß die „neutralen" Mächte, d. h. England und Amerika, so lange
zusehen. Jedenfalls verändert sich das Gesamtbild der europäischen Lage da¬
mit ganz bedeutend. Die Franzosen haben das vorausgesehen und haben
rechtzeitig die Deckung, die ihnen Rußland nicht mehr gewähren konnte, bei
England gesucht und gefunden. Damit ist aber auch für Ostasien der englisch-
französische Gegensatz auf lange Zeit hinaus beseitigt, und auch in dieser
Richtung das Gesamtbild, gleichviel wie der Krieg auch enden möge, wesentlich
verändert. Zweifellos ist Japans Streben nicht nur darauf gerichtet, auf dem
asiatischen Kontinent Raum für seinen Handel und für sein überflüssiges
Menschenmaterial zu gewinnen, sondern es strebt die Vorherrschaft, die Ru߬
land bisher hatte, für sich selbst an. Ein Volk von achtundvierzig Millionen
(bei dem übrigens bezeichnenderweise der männliche Teil um eine halbe Million
stärker ist als der weibliche, nach der Volkszählung von 1890: 22608150
männliche und 22197806 weibliche Einwohner, dagegen Deutschland in dem¬
selben Jahre: 27737247 männliche, 28629931 weibliche Einwohner), das
seine Ziele mit so zäher Energie verfolgt, wird den Erfolg auch um den
Preis immer wieder erneuter Kämpfe anstreben. Andrerseits beruht Rußlands
Stellung in Asien nicht auf einem ungemessenen Vergrößerungstrieb, sondern
auf dem Bedürfnis, das für Nußland zur Existenzfrage geworden ist, den Aus¬
gang zum Weltmeer aus eisfreien Häfen zu suchen. Die Lebensfragen zweier
starker Völker stoßen hier unvermittelt aufeinander. Die Japaner sitzen jetzt
schon im eigentlichen Japan, ohne Formosa und den Bulkaninseln, mit
117 Menschen auf dem Quadratkilometer wir in Deutschland mit 104, ein
sprechender Beweis von der Dichtigkeit der Bevölkerung Japans, deren Zu¬
nahme im Jahr etwa eine halbe Million beträgt, gegenüber einer Million in
Deutschland. Wir werden bei der Volkszählung von 1905 auf reichlich sechzig
Millionen Menschen kommen, in zwanzig Jahren werden es achtzig Millionen
sein, die in Deutschland selbst nicht unterzubringen und nicht zu beschäftigen
sein werden. Wir werden also nach dem Jahre 1920 in dieselbe Lage kommen
wie Japan, für den Überschuß unsrer Bevölkerung Platz unter der Sonne
suchen zu müssen. Es wird das freilich etwas spät, und das Ziel nur schwer
zu erreichen sein.

Unbestritten liegt es in der Richtung der englischen Politik, dem höchst
unbequemen russischen Gegner in Asien durch Japan Schranken ziehn zu lassen,
während England die Verlegenheit Rußlands in aller Muße ausnutzt, um in
Tibet und an andern Orten die englischen Interessen sicher unter Dach und
Fach zu bringen. Japans Krieg ist insofern auch ein englischer; vielleicht
hat er einen russisch-englischen Zusammenstoß in Mittelasien für lange Zeit
hinausgerückt. Auch für den Fall, daß Nußland schließlich siegreich aus


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[0502] Deutschland und Japan nur tausend Mann in Mulden abliefert, alle Proviant- usw. Züge mit ein¬ gerechnet, so würden, da zwei Armeekorps als eingetroffen gelten können, ein drittes (das erste) unterwegs ist, wohl noch sieben Monate vergehn, bis Rußland, ein Jahr nach Ausbruch des Krieges, im Besitz der nötigen Übermacht wäre. Voraussetzung dabei ist, daß der Bahnkörper und das rollende Material nicht versagen, daß keine europäischen Verwicklungen ent- stehn, und daß die „neutralen" Mächte, d. h. England und Amerika, so lange zusehen. Jedenfalls verändert sich das Gesamtbild der europäischen Lage da¬ mit ganz bedeutend. Die Franzosen haben das vorausgesehen und haben rechtzeitig die Deckung, die ihnen Rußland nicht mehr gewähren konnte, bei England gesucht und gefunden. Damit ist aber auch für Ostasien der englisch- französische Gegensatz auf lange Zeit hinaus beseitigt, und auch in dieser Richtung das Gesamtbild, gleichviel wie der Krieg auch enden möge, wesentlich verändert. Zweifellos ist Japans Streben nicht nur darauf gerichtet, auf dem asiatischen Kontinent Raum für seinen Handel und für sein überflüssiges Menschenmaterial zu gewinnen, sondern es strebt die Vorherrschaft, die Ru߬ land bisher hatte, für sich selbst an. Ein Volk von achtundvierzig Millionen (bei dem übrigens bezeichnenderweise der männliche Teil um eine halbe Million stärker ist als der weibliche, nach der Volkszählung von 1890: 22608150 männliche und 22197806 weibliche Einwohner, dagegen Deutschland in dem¬ selben Jahre: 27737247 männliche, 28629931 weibliche Einwohner), das seine Ziele mit so zäher Energie verfolgt, wird den Erfolg auch um den Preis immer wieder erneuter Kämpfe anstreben. Andrerseits beruht Rußlands Stellung in Asien nicht auf einem ungemessenen Vergrößerungstrieb, sondern auf dem Bedürfnis, das für Nußland zur Existenzfrage geworden ist, den Aus¬ gang zum Weltmeer aus eisfreien Häfen zu suchen. Die Lebensfragen zweier starker Völker stoßen hier unvermittelt aufeinander. Die Japaner sitzen jetzt schon im eigentlichen Japan, ohne Formosa und den Bulkaninseln, mit 117 Menschen auf dem Quadratkilometer wir in Deutschland mit 104, ein sprechender Beweis von der Dichtigkeit der Bevölkerung Japans, deren Zu¬ nahme im Jahr etwa eine halbe Million beträgt, gegenüber einer Million in Deutschland. Wir werden bei der Volkszählung von 1905 auf reichlich sechzig Millionen Menschen kommen, in zwanzig Jahren werden es achtzig Millionen sein, die in Deutschland selbst nicht unterzubringen und nicht zu beschäftigen sein werden. Wir werden also nach dem Jahre 1920 in dieselbe Lage kommen wie Japan, für den Überschuß unsrer Bevölkerung Platz unter der Sonne suchen zu müssen. Es wird das freilich etwas spät, und das Ziel nur schwer zu erreichen sein. Unbestritten liegt es in der Richtung der englischen Politik, dem höchst unbequemen russischen Gegner in Asien durch Japan Schranken ziehn zu lassen, während England die Verlegenheit Rußlands in aller Muße ausnutzt, um in Tibet und an andern Orten die englischen Interessen sicher unter Dach und Fach zu bringen. Japans Krieg ist insofern auch ein englischer; vielleicht hat er einen russisch-englischen Zusammenstoß in Mittelasien für lange Zeit hinausgerückt. Auch für den Fall, daß Nußland schließlich siegreich aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/502>, abgerufen am 23.05.2024.