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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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höre. Ob die Orden auf diesem Wege noch entscheidende Bedeutung gewinnen
würden, das hing hauptsächlich davon ab, ob sie in die geistliche Tätigkeit
in den überall aufblühenden Städten eintreten würden. Und gerade das
bahnte sich nun an: in den südlichen Ländern entstanden die Orden von
Dominikus und von Franz von Assise; die Bettelorden waren es, die in den
deutschen Städten bald die Hauptträger des kirchlichen Lebens wurden: 1219
kamen die ersten Minoriten über die Alpen nach Deutschland.

Auch die Pflege der Wissenschaft und der Kunst, die ganze geistige Kultur
war bisher Sache der Kirche, insbesondre der Mönche gewesen. Hierin trat
nun besonders am Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ein bedeutungsvoller
Umschwung ein. Sogar in der eigentlich kirchlichen Wissenschaft, der Theologie,
regten sich neue Gedanken, ging man neue Wege. Wieder ging der Anstoß
von Frankreich ans. Hier hatte Abälard die neue Methode der scholastischen
Theologie geschaffen, Petrus Lombardus ihr in seinen Sentenzen, der grund¬
legenden Darstellung der mittelalterlichen Kirchenlehre, den klassischen Aus¬
druck gegeben. Bis über die Mitte des zwölften Jahrhunderts hinaus hatte
sich Deutschland dem neuen Geiste verschlossen, in den Bibliotheken fanden
sich uoch fast nur die Werke der alten Kirchenlehrer. Von der geringen Vor¬
stellung, die man in den deutschen Klosterschulen dieser Zeit von theologischer
Wissenschaft hatte, geben uns die Anekdoten des unterhaltsamer Novizen¬
meisters Cäsarius von Heisterbach -- er trat 1199 in den Zisterzienserorden
ein -- ein bezeichnendes Bild. Aber nun begannen doch deutsche Studenten
in immer größerer Zahl die Schulen von Frankreich und von Italien auf¬
zusuchen. Sie lernten dort die neue Wissenschaft kennen und verstehn, brachten
ihre Werke mit in die Heimat, und deutsche Pfarrer und Mönche begannen
den Lombarden zu studieren. Als Philipp und Otto um die Krone rangen,
übte sich ein junges Grüflein in ritterlichen Künsten und lernte Lesen und
Schreiben; aus ihm wurde später ein Dominikanermönch und ein Gelehrter,
der in Deutschland durch sein unvergleichliches Ansehen den Sieg der neuen
theologischen Wissenschaft entschied: Albertus Magnus.

Während aber so eine neue einheitliche Theologie aufblühte und der
Stärkung der kirchlichen Einheit diente, lockerte sich doch zugleich die bisher
gewahrte Einheit des geistigen Lebens: die weltlichen Wissenschaften lösten
sich von der Theologie ab, und an Stelle der einen Kultur des Abendlandes
bildeten sich nationale Kulturen.

Jahrhundertelang war literarische Arbeit in Deutschland nur von der
Kirche ausgegangen. Jetzt aber waren neue Stände, Rittertum und Bürger¬
tum entstanden, die die Stellung der Kirche in der Kulturwelt ändern konnten-
Freilich blieb sie zunächst im zwölften Jahrhundert noch der gebende Teil.
Aber in Ottos von Freising Chronik regt sich schon ein neuer Geist: unbe¬
fangneres und doch wärmeres Urteil und künstlerische Gestaltung führen in
seinem Werk über die chronistische Überlieferung hinaus zu künstlerisch ge¬
staltender Geschichtschreibung. Zugleich wird zum erstenmal deutsche Geschichte
in deutscher Sprache geschrieben: im Annolied und im Rolandslied in ge-
bundner Rede, und Nepgaus sächsische Weltchronik erzählt zuerst Geschichte in


vor sieben Jahrhunderten

höre. Ob die Orden auf diesem Wege noch entscheidende Bedeutung gewinnen
würden, das hing hauptsächlich davon ab, ob sie in die geistliche Tätigkeit
in den überall aufblühenden Städten eintreten würden. Und gerade das
bahnte sich nun an: in den südlichen Ländern entstanden die Orden von
Dominikus und von Franz von Assise; die Bettelorden waren es, die in den
deutschen Städten bald die Hauptträger des kirchlichen Lebens wurden: 1219
kamen die ersten Minoriten über die Alpen nach Deutschland.

Auch die Pflege der Wissenschaft und der Kunst, die ganze geistige Kultur
war bisher Sache der Kirche, insbesondre der Mönche gewesen. Hierin trat
nun besonders am Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ein bedeutungsvoller
Umschwung ein. Sogar in der eigentlich kirchlichen Wissenschaft, der Theologie,
regten sich neue Gedanken, ging man neue Wege. Wieder ging der Anstoß
von Frankreich ans. Hier hatte Abälard die neue Methode der scholastischen
Theologie geschaffen, Petrus Lombardus ihr in seinen Sentenzen, der grund¬
legenden Darstellung der mittelalterlichen Kirchenlehre, den klassischen Aus¬
druck gegeben. Bis über die Mitte des zwölften Jahrhunderts hinaus hatte
sich Deutschland dem neuen Geiste verschlossen, in den Bibliotheken fanden
sich uoch fast nur die Werke der alten Kirchenlehrer. Von der geringen Vor¬
stellung, die man in den deutschen Klosterschulen dieser Zeit von theologischer
Wissenschaft hatte, geben uns die Anekdoten des unterhaltsamer Novizen¬
meisters Cäsarius von Heisterbach — er trat 1199 in den Zisterzienserorden
ein — ein bezeichnendes Bild. Aber nun begannen doch deutsche Studenten
in immer größerer Zahl die Schulen von Frankreich und von Italien auf¬
zusuchen. Sie lernten dort die neue Wissenschaft kennen und verstehn, brachten
ihre Werke mit in die Heimat, und deutsche Pfarrer und Mönche begannen
den Lombarden zu studieren. Als Philipp und Otto um die Krone rangen,
übte sich ein junges Grüflein in ritterlichen Künsten und lernte Lesen und
Schreiben; aus ihm wurde später ein Dominikanermönch und ein Gelehrter,
der in Deutschland durch sein unvergleichliches Ansehen den Sieg der neuen
theologischen Wissenschaft entschied: Albertus Magnus.

Während aber so eine neue einheitliche Theologie aufblühte und der
Stärkung der kirchlichen Einheit diente, lockerte sich doch zugleich die bisher
gewahrte Einheit des geistigen Lebens: die weltlichen Wissenschaften lösten
sich von der Theologie ab, und an Stelle der einen Kultur des Abendlandes
bildeten sich nationale Kulturen.

Jahrhundertelang war literarische Arbeit in Deutschland nur von der
Kirche ausgegangen. Jetzt aber waren neue Stände, Rittertum und Bürger¬
tum entstanden, die die Stellung der Kirche in der Kulturwelt ändern konnten-
Freilich blieb sie zunächst im zwölften Jahrhundert noch der gebende Teil.
Aber in Ottos von Freising Chronik regt sich schon ein neuer Geist: unbe¬
fangneres und doch wärmeres Urteil und künstlerische Gestaltung führen in
seinem Werk über die chronistische Überlieferung hinaus zu künstlerisch ge¬
staltender Geschichtschreibung. Zugleich wird zum erstenmal deutsche Geschichte
in deutscher Sprache geschrieben: im Annolied und im Rolandslied in ge-
bundner Rede, und Nepgaus sächsische Weltchronik erzählt zuerst Geschichte in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/708>, abgerufen am 16.06.2024.