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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Heiligenschein und der Weltkugel, der andre als Johannes in wolligem Schaffell
mit blonder Lockenperücke, den Stab in der Hand, alle durchdrungen von dem
Ernste ihrer heiligen Rolle. Dazu läuten die Glocken weithin über den See
von nah und fern, nicht wie bei uns in Morden, sondern in kurzen, eigentüm¬
lichen weichen Melodien.

Hinter der Westseite steht die Ostseite landschaftlich in mancher Beziehung
zurück. Fast geradlinig verläuft die Küste von Torbole, auf der ersten Strecke
so steil wie auf der Westseite, bis San Vigilio, wo sie plötzlich nach Osten um¬
biegt und sich verflacht, begleitet von dem langgestreckten schimmernden Schnee-
riicken des Monte Batto, der durchschnittlich mehr als zweitausend Meter hoch
über dem Seespiegel aufsteigt und den ganzen See beherrscht. In schroffen, von
tiefen Schluchten zerrissenen Abhängen fällt er zum See hinab, doch fast überall
läßt er einen bald schmälern, bald breitern Vvrstrand frei, und weit hinauf ziehn
sich auch hier die lichten Olivenwälder, deren Ertrag neben dem Fischfang die
beste Einnahme für die Anwohner bildet. Die zahlreichen kleinen Orte der Ost¬
seite bis tief nach Süden waren im spätern Mittelalter ebenfalls in einem Bunde
vereinigt, der Gardesana mit dem Hauptorte Torri nördlich von San Vigilio,
erst unter den Scäligern von Verona (seit 1260), dann unter den Visconti von
Mailand (seit 1387), die das Gemeinwesen in seinem alten Bestände bestätigten
wie das der Riviera, endlich seit 1405 unter Venedig.

Weniger besucht als die Westseite und auch heute mit ihr wenig in regel¬
mäßiger Verbindung hat die Ostseite doch, weil sie näher an Verona und an
den Ausfluß des Mincio heranführte, offenbar den größten Teil des lebhaften
Durchgangsverkehrs beherrscht, der sich auf dieser prachtvollen, natürlichen Wasser¬
straße Jahrhunderte hindurch bewegt hat. Ersparte doch die Fahrt auf dem
52 Kilometer langen See den Warenzttgen wie den Marschkolonnen mittelalter¬
licher Heere etwa zwei Tagereisen in schwierigem Gebirgsterrain, spielte also eine
ähnliche Rolle wie der Comersee am Fuße der rätischen Passe. Bedeutend war
namentlich im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert der Getreidetransport
von Dcsenzcmo aus über den See. Auch wer besonders schnell reisen wollte,
nahm den Seeweg, wie Emilio Filonardi, Bischof von Veroli, als er im August
1521 päpstliche Wechsel nach Innsbruck an die Fugger brachte. Begünstigt wurde
das alles durch die regelmäßig auf dem See wehenden Winde, den Paescmo, den
Bergwind, der um Mitternacht von Norden aufspringt, und die Ora, die von
Mittag ab von Süden zu wehen beginnt. Mit jenem segelte Goethe am 13. Sep¬
tember früh 3 Uhr von Torbole aus, dieser trieb ihn nach Malcesine zurück,
das er dann um Mitternacht mit dem Paesano verließ. In der Tat kommt
man mit Rudern auch gegen eine müßige Windstürke nicht an, und der See ist
durch diese Winde fast immer bewegt, wenn er nicht gar, was nicht selten ist,
vom Sturme meerartig aufgewühlt wird, "anschwellend in tobenden Meeres¬
wellen" (Üuotibu8 et trsmiw a,ä sur^sus, Lsng.es, marmo), nach Vergil
(6S0IA. II. 160).


Über den Brenner

Heiligenschein und der Weltkugel, der andre als Johannes in wolligem Schaffell
mit blonder Lockenperücke, den Stab in der Hand, alle durchdrungen von dem
Ernste ihrer heiligen Rolle. Dazu läuten die Glocken weithin über den See
von nah und fern, nicht wie bei uns in Morden, sondern in kurzen, eigentüm¬
lichen weichen Melodien.

Hinter der Westseite steht die Ostseite landschaftlich in mancher Beziehung
zurück. Fast geradlinig verläuft die Küste von Torbole, auf der ersten Strecke
so steil wie auf der Westseite, bis San Vigilio, wo sie plötzlich nach Osten um¬
biegt und sich verflacht, begleitet von dem langgestreckten schimmernden Schnee-
riicken des Monte Batto, der durchschnittlich mehr als zweitausend Meter hoch
über dem Seespiegel aufsteigt und den ganzen See beherrscht. In schroffen, von
tiefen Schluchten zerrissenen Abhängen fällt er zum See hinab, doch fast überall
läßt er einen bald schmälern, bald breitern Vvrstrand frei, und weit hinauf ziehn
sich auch hier die lichten Olivenwälder, deren Ertrag neben dem Fischfang die
beste Einnahme für die Anwohner bildet. Die zahlreichen kleinen Orte der Ost¬
seite bis tief nach Süden waren im spätern Mittelalter ebenfalls in einem Bunde
vereinigt, der Gardesana mit dem Hauptorte Torri nördlich von San Vigilio,
erst unter den Scäligern von Verona (seit 1260), dann unter den Visconti von
Mailand (seit 1387), die das Gemeinwesen in seinem alten Bestände bestätigten
wie das der Riviera, endlich seit 1405 unter Venedig.

Weniger besucht als die Westseite und auch heute mit ihr wenig in regel¬
mäßiger Verbindung hat die Ostseite doch, weil sie näher an Verona und an
den Ausfluß des Mincio heranführte, offenbar den größten Teil des lebhaften
Durchgangsverkehrs beherrscht, der sich auf dieser prachtvollen, natürlichen Wasser¬
straße Jahrhunderte hindurch bewegt hat. Ersparte doch die Fahrt auf dem
52 Kilometer langen See den Warenzttgen wie den Marschkolonnen mittelalter¬
licher Heere etwa zwei Tagereisen in schwierigem Gebirgsterrain, spielte also eine
ähnliche Rolle wie der Comersee am Fuße der rätischen Passe. Bedeutend war
namentlich im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert der Getreidetransport
von Dcsenzcmo aus über den See. Auch wer besonders schnell reisen wollte,
nahm den Seeweg, wie Emilio Filonardi, Bischof von Veroli, als er im August
1521 päpstliche Wechsel nach Innsbruck an die Fugger brachte. Begünstigt wurde
das alles durch die regelmäßig auf dem See wehenden Winde, den Paescmo, den
Bergwind, der um Mitternacht von Norden aufspringt, und die Ora, die von
Mittag ab von Süden zu wehen beginnt. Mit jenem segelte Goethe am 13. Sep¬
tember früh 3 Uhr von Torbole aus, dieser trieb ihn nach Malcesine zurück,
das er dann um Mitternacht mit dem Paesano verließ. In der Tat kommt
man mit Rudern auch gegen eine müßige Windstürke nicht an, und der See ist
durch diese Winde fast immer bewegt, wenn er nicht gar, was nicht selten ist,
vom Sturme meerartig aufgewühlt wird, „anschwellend in tobenden Meeres¬
wellen" (Üuotibu8 et trsmiw a,ä sur^sus, Lsng.es, marmo), nach Vergil
(6S0IA. II. 160).


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/158>, abgerufen am 14.06.2024.