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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Ferdinand Brunetiere

ist Einhalt zu gebieten, um der Gerechtigkeit und Wahrheit treu zu bleiben.
Vieles ist zu bedenken. Denn so sicher es Farbenblinde gibt, so sicher gibt
es auch Unempfängliche, denen gewisse Seiten der Kunst vollständig entgehen,
ein Mangel, den sie selbst fühlen und begreifen lernen sollten. Man begreift,
daß der Verfasser der Evolution ass Oizuros schon früher der Autor des Romg-u
^Ätura-Jlheo (1884) geworden ist.

In der Evolution äos teures setzte gelegentlich ein Tastversuch des
Moralisten Brünettere ein. In dem hauptsächlich Tanne gewidmeten Schlu߬
kapitel tauchte schon die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Kunst und
Moral auf, die 1898 in einem Vortrag für die Looiötö clef OonM-suvss aus¬
führliche Behandlung erfuhr. Das Thema: se 1a Noralv schwindet
nicht mehr so leicht von der Tagesordnung. Es fragt sich , ob Brünettere
Originelles dazu geäußert hat. Kleinlich und prüde äußerte er sich selbstver¬
ständlich nirgends. Er brachte auch keine praktischen Mittel in Vorschlag,
wie den durch Kunstwerke hervorgerufnen sittlichen Schäden abzuhelfen sei.
Jedoch hielt er an der Ansicht fest, daß vollendete Kunstschöpfungen nnter
Umständen zu starksinnliche Regungen wachrufen können, und zwar erstens,
wenn ihre forme suclnotivs zu ausgeprägt ist, zweitens, wenn die Wiedergabe
der Natur buchstäblich treu ausfällt. Der Künstler soll nicht außer acht lassen,
daß die Ausübung seiner Kunst einer sozialen Verpflichtung gleichkommt, zu
deren strengen Erfüllung sein Gewissen mahnt. Alle wahre Kunst wirkt als
starke Macht neben der Religion und neben der Wissenschaft, und in einem
wohlgeordneten Staate hat sie diesen andern wichtigen Kräften das Gleich¬
gewicht zu halten. Es ist nicht Sache des Künstlers oder des Schriftstellers,
das Amt eines Moralpredigers auszuüben, aber auch nicht sein gutes Recht,
nach Art von Nietzsches Übermenschen Zucht und Sitte als lästige Fessel von
sich abzustreifen. Über das Künstlertum soll keine religiöse Autorität als
Aufsichtsbehörde eingesetzt werden, denn die Geschichte des Papsttums im
Mittelalter hat uns zur Genüge über die Vorzüge sowie auch über die Ge¬
fahren der Theokratie aufgeklärt. Mit andern Worten, der Künstler selbst
ist moralisch verpflichtet, dem "Ausleben" seiner Individualität bestimmte
Hemmungen aufzuerlegen. Geschieht dies nicht, so wird es dahin kommen,
daß sich in seinen Schöpfungen, auch als unbewußte Reflexe, rein tierische
Instinkte statt seelischer Regungen spiegeln, daß der Geschmack der großen
Menge nicht geläutert und nicht erzogen wird. Wird der Künstler sich seiner
hohen Mission bewußt, so wird er die Selbsterziehung folglich als eine
wichtige Aufgabe seines Lebens betrachten. Denn das künstlerische Können
allein reicht nicht aus.

Wer diese letzte Konsequenz aus Brünetteres Betrachtung zieht, folgt
ihm unmerklich auf ein angrenzendes Gebiet, zu einem Thema, das er 1895
ebenso streug logisch unter dem Titel MuoÄticm et Instruotiou in der liövue
ass, clcwx Nouäss behandelte. Mit Recht wurde der Artikel auch als Broschüre


Ferdinand Brunetiere

ist Einhalt zu gebieten, um der Gerechtigkeit und Wahrheit treu zu bleiben.
Vieles ist zu bedenken. Denn so sicher es Farbenblinde gibt, so sicher gibt
es auch Unempfängliche, denen gewisse Seiten der Kunst vollständig entgehen,
ein Mangel, den sie selbst fühlen und begreifen lernen sollten. Man begreift,
daß der Verfasser der Evolution ass Oizuros schon früher der Autor des Romg-u
^Ätura-Jlheo (1884) geworden ist.

In der Evolution äos teures setzte gelegentlich ein Tastversuch des
Moralisten Brünettere ein. In dem hauptsächlich Tanne gewidmeten Schlu߬
kapitel tauchte schon die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Kunst und
Moral auf, die 1898 in einem Vortrag für die Looiötö clef OonM-suvss aus¬
führliche Behandlung erfuhr. Das Thema: se 1a Noralv schwindet
nicht mehr so leicht von der Tagesordnung. Es fragt sich , ob Brünettere
Originelles dazu geäußert hat. Kleinlich und prüde äußerte er sich selbstver¬
ständlich nirgends. Er brachte auch keine praktischen Mittel in Vorschlag,
wie den durch Kunstwerke hervorgerufnen sittlichen Schäden abzuhelfen sei.
Jedoch hielt er an der Ansicht fest, daß vollendete Kunstschöpfungen nnter
Umständen zu starksinnliche Regungen wachrufen können, und zwar erstens,
wenn ihre forme suclnotivs zu ausgeprägt ist, zweitens, wenn die Wiedergabe
der Natur buchstäblich treu ausfällt. Der Künstler soll nicht außer acht lassen,
daß die Ausübung seiner Kunst einer sozialen Verpflichtung gleichkommt, zu
deren strengen Erfüllung sein Gewissen mahnt. Alle wahre Kunst wirkt als
starke Macht neben der Religion und neben der Wissenschaft, und in einem
wohlgeordneten Staate hat sie diesen andern wichtigen Kräften das Gleich¬
gewicht zu halten. Es ist nicht Sache des Künstlers oder des Schriftstellers,
das Amt eines Moralpredigers auszuüben, aber auch nicht sein gutes Recht,
nach Art von Nietzsches Übermenschen Zucht und Sitte als lästige Fessel von
sich abzustreifen. Über das Künstlertum soll keine religiöse Autorität als
Aufsichtsbehörde eingesetzt werden, denn die Geschichte des Papsttums im
Mittelalter hat uns zur Genüge über die Vorzüge sowie auch über die Ge¬
fahren der Theokratie aufgeklärt. Mit andern Worten, der Künstler selbst
ist moralisch verpflichtet, dem „Ausleben" seiner Individualität bestimmte
Hemmungen aufzuerlegen. Geschieht dies nicht, so wird es dahin kommen,
daß sich in seinen Schöpfungen, auch als unbewußte Reflexe, rein tierische
Instinkte statt seelischer Regungen spiegeln, daß der Geschmack der großen
Menge nicht geläutert und nicht erzogen wird. Wird der Künstler sich seiner
hohen Mission bewußt, so wird er die Selbsterziehung folglich als eine
wichtige Aufgabe seines Lebens betrachten. Denn das künstlerische Können
allein reicht nicht aus.

Wer diese letzte Konsequenz aus Brünetteres Betrachtung zieht, folgt
ihm unmerklich auf ein angrenzendes Gebiet, zu einem Thema, das er 1895
ebenso streug logisch unter dem Titel MuoÄticm et Instruotiou in der liövue
ass, clcwx Nouäss behandelte. Mit Recht wurde der Artikel auch als Broschüre


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[0144] Ferdinand Brunetiere ist Einhalt zu gebieten, um der Gerechtigkeit und Wahrheit treu zu bleiben. Vieles ist zu bedenken. Denn so sicher es Farbenblinde gibt, so sicher gibt es auch Unempfängliche, denen gewisse Seiten der Kunst vollständig entgehen, ein Mangel, den sie selbst fühlen und begreifen lernen sollten. Man begreift, daß der Verfasser der Evolution ass Oizuros schon früher der Autor des Romg-u ^Ätura-Jlheo (1884) geworden ist. In der Evolution äos teures setzte gelegentlich ein Tastversuch des Moralisten Brünettere ein. In dem hauptsächlich Tanne gewidmeten Schlu߬ kapitel tauchte schon die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Moral auf, die 1898 in einem Vortrag für die Looiötö clef OonM-suvss aus¬ führliche Behandlung erfuhr. Das Thema: se 1a Noralv schwindet nicht mehr so leicht von der Tagesordnung. Es fragt sich , ob Brünettere Originelles dazu geäußert hat. Kleinlich und prüde äußerte er sich selbstver¬ ständlich nirgends. Er brachte auch keine praktischen Mittel in Vorschlag, wie den durch Kunstwerke hervorgerufnen sittlichen Schäden abzuhelfen sei. Jedoch hielt er an der Ansicht fest, daß vollendete Kunstschöpfungen nnter Umständen zu starksinnliche Regungen wachrufen können, und zwar erstens, wenn ihre forme suclnotivs zu ausgeprägt ist, zweitens, wenn die Wiedergabe der Natur buchstäblich treu ausfällt. Der Künstler soll nicht außer acht lassen, daß die Ausübung seiner Kunst einer sozialen Verpflichtung gleichkommt, zu deren strengen Erfüllung sein Gewissen mahnt. Alle wahre Kunst wirkt als starke Macht neben der Religion und neben der Wissenschaft, und in einem wohlgeordneten Staate hat sie diesen andern wichtigen Kräften das Gleich¬ gewicht zu halten. Es ist nicht Sache des Künstlers oder des Schriftstellers, das Amt eines Moralpredigers auszuüben, aber auch nicht sein gutes Recht, nach Art von Nietzsches Übermenschen Zucht und Sitte als lästige Fessel von sich abzustreifen. Über das Künstlertum soll keine religiöse Autorität als Aufsichtsbehörde eingesetzt werden, denn die Geschichte des Papsttums im Mittelalter hat uns zur Genüge über die Vorzüge sowie auch über die Ge¬ fahren der Theokratie aufgeklärt. Mit andern Worten, der Künstler selbst ist moralisch verpflichtet, dem „Ausleben" seiner Individualität bestimmte Hemmungen aufzuerlegen. Geschieht dies nicht, so wird es dahin kommen, daß sich in seinen Schöpfungen, auch als unbewußte Reflexe, rein tierische Instinkte statt seelischer Regungen spiegeln, daß der Geschmack der großen Menge nicht geläutert und nicht erzogen wird. Wird der Künstler sich seiner hohen Mission bewußt, so wird er die Selbsterziehung folglich als eine wichtige Aufgabe seines Lebens betrachten. Denn das künstlerische Können allein reicht nicht aus. Wer diese letzte Konsequenz aus Brünetteres Betrachtung zieht, folgt ihm unmerklich auf ein angrenzendes Gebiet, zu einem Thema, das er 1895 ebenso streug logisch unter dem Titel MuoÄticm et Instruotiou in der liövue ass, clcwx Nouäss behandelte. Mit Recht wurde der Artikel auch als Broschüre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/144>, abgerufen am 28.05.2024.