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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch-schwäbische Grenzwandernngen

Schatten und abgetöntem Farben, ein Bild des Trotzes und des Selbst¬
bewußtseins, ein mittelalterliches Reichsstadtbild, das mich Spätgebornen doch
mehr wie ein anheimelndes Idyll berührt, das alles Düstere verloren hat.
Ich sehe, wie sich unmittelbar am Rande der getürmten und gegiebelten Stadt
die Hochfläche steil gegen das Tal senkt, während sie sich nach Osten hin
unter bläulichen Wäldern verbirgt. Einen Augenblick denke ich an Wimpfen
am Berg, weit drüben über dem Neckar. Dann erinnere ich mich, irgendwo
gelesen zu haben, Rothenburgs Lage sei der Jerusalems ähnlich. Frühere
Jahrhunderte, denen die Geographie noch Kuriositätenkunde war, liebten solche
Vergleiche. Heute noch lebt diese Vorliebe in manchen Schichten des Volkes
und spielt nicht nur in die praktische Reiseromantik der Handwerksburschen und
fahrenden Leute herein.

Ich male mir aus, mit welchen Gefühlen ein nach Jahren heimkehrender
Rothenburger dieses schöne, lebensvolle Herauswachsen des Stadtgemäuers
begrüßen mag, hinter dem er vielleicht schon den heimatlichen Giebel erkennt.
Dann vergleiche ich damit die Wandergefühle des Fremdlings, die in der
Nähe des Zieles fragender und erwartender werden. Unbewußt oder doch
nur wenig bewußt, beginnt sich angesichts des geschlossenen Wirklichkeitsbildes
jenes ungewisse, leicht verschwimmende Traumbild umzugestalten, ja in vielen
Teilen zu verblassen und auszulöschen, das unsre Seele sich immer von
Stätten zeichnet, die ihr durch Bild und Wort angenähert wurden, zumal
wenn sich Wunsch und Sehnsucht an ihre Namen banden. Hier ist die Quelle
mancher Enttäuschungen. Aber für den, der zu sehen weiß, ist die Wirklich¬
keit immer schöner und reicher als der Traum.

Schön ist es freilich auch, sich von der Wirklichkeit ganz überraschen zu
lassen, sich kenntnislos den Dingen hinzugeben, sie zu genießen, als seien sie
eben erst zum Genusse geschaffen worden, sie einzusaugen in die Seele, ohne
ihnen ein verschwommenes Erwartungsbild entgegenzutragen. Es gibt noch
genug Winkel in deutschen Landen, wo solche Entdeckungsfahrten auf eigne
Faust köstlichen Gewinn bringen. Der Tauberwinkel gehört nicht mehr dazu.
Ich muß an Ludwig Richter denken, der einer heimlichem Zeit angehörte.
In seinen Lebenserinnerungen erzählt er davon, wie er 1825 auf der Heim¬
kehr von Italien die ummauerte Stadt entdeckt, wie er nach ihrem Namen
gefragt habe, und wie es ihm dann eingefallen sei, den Namen schon einmal
in Musäus' Volksmärchenbuch, in der Schatzgräbergeschichte, gelesen zu haben-
Damals war Rothenburg noch unberühmt. Es ist aber ein wahres Glück,
daß auch ich heute, wie Ludwig Richter einst, zu Fuß das stille Tal durch¬
ziehe. Einwandern muß man in diese Stadt, nicht einfahren, es sei denn
mit der Postkutsche. Wer sich vom Dampfwagen an den Rücken der Stadt
herantragen läßt, der begibt sich, wenn es erlaubt ist, kleines mit großem zu
vergleichen, eines ähnlichen Genusses wie der deutsche Jtalienfahrer, der Rom
vom Bahnhofsgebäude betritt, statt, wie seine Vorfahren, von Norden her


Fränkisch-schwäbische Grenzwandernngen

Schatten und abgetöntem Farben, ein Bild des Trotzes und des Selbst¬
bewußtseins, ein mittelalterliches Reichsstadtbild, das mich Spätgebornen doch
mehr wie ein anheimelndes Idyll berührt, das alles Düstere verloren hat.
Ich sehe, wie sich unmittelbar am Rande der getürmten und gegiebelten Stadt
die Hochfläche steil gegen das Tal senkt, während sie sich nach Osten hin
unter bläulichen Wäldern verbirgt. Einen Augenblick denke ich an Wimpfen
am Berg, weit drüben über dem Neckar. Dann erinnere ich mich, irgendwo
gelesen zu haben, Rothenburgs Lage sei der Jerusalems ähnlich. Frühere
Jahrhunderte, denen die Geographie noch Kuriositätenkunde war, liebten solche
Vergleiche. Heute noch lebt diese Vorliebe in manchen Schichten des Volkes
und spielt nicht nur in die praktische Reiseromantik der Handwerksburschen und
fahrenden Leute herein.

Ich male mir aus, mit welchen Gefühlen ein nach Jahren heimkehrender
Rothenburger dieses schöne, lebensvolle Herauswachsen des Stadtgemäuers
begrüßen mag, hinter dem er vielleicht schon den heimatlichen Giebel erkennt.
Dann vergleiche ich damit die Wandergefühle des Fremdlings, die in der
Nähe des Zieles fragender und erwartender werden. Unbewußt oder doch
nur wenig bewußt, beginnt sich angesichts des geschlossenen Wirklichkeitsbildes
jenes ungewisse, leicht verschwimmende Traumbild umzugestalten, ja in vielen
Teilen zu verblassen und auszulöschen, das unsre Seele sich immer von
Stätten zeichnet, die ihr durch Bild und Wort angenähert wurden, zumal
wenn sich Wunsch und Sehnsucht an ihre Namen banden. Hier ist die Quelle
mancher Enttäuschungen. Aber für den, der zu sehen weiß, ist die Wirklich¬
keit immer schöner und reicher als der Traum.

Schön ist es freilich auch, sich von der Wirklichkeit ganz überraschen zu
lassen, sich kenntnislos den Dingen hinzugeben, sie zu genießen, als seien sie
eben erst zum Genusse geschaffen worden, sie einzusaugen in die Seele, ohne
ihnen ein verschwommenes Erwartungsbild entgegenzutragen. Es gibt noch
genug Winkel in deutschen Landen, wo solche Entdeckungsfahrten auf eigne
Faust köstlichen Gewinn bringen. Der Tauberwinkel gehört nicht mehr dazu.
Ich muß an Ludwig Richter denken, der einer heimlichem Zeit angehörte.
In seinen Lebenserinnerungen erzählt er davon, wie er 1825 auf der Heim¬
kehr von Italien die ummauerte Stadt entdeckt, wie er nach ihrem Namen
gefragt habe, und wie es ihm dann eingefallen sei, den Namen schon einmal
in Musäus' Volksmärchenbuch, in der Schatzgräbergeschichte, gelesen zu haben-
Damals war Rothenburg noch unberühmt. Es ist aber ein wahres Glück,
daß auch ich heute, wie Ludwig Richter einst, zu Fuß das stille Tal durch¬
ziehe. Einwandern muß man in diese Stadt, nicht einfahren, es sei denn
mit der Postkutsche. Wer sich vom Dampfwagen an den Rücken der Stadt
herantragen läßt, der begibt sich, wenn es erlaubt ist, kleines mit großem zu
vergleichen, eines ähnlichen Genusses wie der deutsche Jtalienfahrer, der Rom
vom Bahnhofsgebäude betritt, statt, wie seine Vorfahren, von Norden her


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[0378] Fränkisch-schwäbische Grenzwandernngen Schatten und abgetöntem Farben, ein Bild des Trotzes und des Selbst¬ bewußtseins, ein mittelalterliches Reichsstadtbild, das mich Spätgebornen doch mehr wie ein anheimelndes Idyll berührt, das alles Düstere verloren hat. Ich sehe, wie sich unmittelbar am Rande der getürmten und gegiebelten Stadt die Hochfläche steil gegen das Tal senkt, während sie sich nach Osten hin unter bläulichen Wäldern verbirgt. Einen Augenblick denke ich an Wimpfen am Berg, weit drüben über dem Neckar. Dann erinnere ich mich, irgendwo gelesen zu haben, Rothenburgs Lage sei der Jerusalems ähnlich. Frühere Jahrhunderte, denen die Geographie noch Kuriositätenkunde war, liebten solche Vergleiche. Heute noch lebt diese Vorliebe in manchen Schichten des Volkes und spielt nicht nur in die praktische Reiseromantik der Handwerksburschen und fahrenden Leute herein. Ich male mir aus, mit welchen Gefühlen ein nach Jahren heimkehrender Rothenburger dieses schöne, lebensvolle Herauswachsen des Stadtgemäuers begrüßen mag, hinter dem er vielleicht schon den heimatlichen Giebel erkennt. Dann vergleiche ich damit die Wandergefühle des Fremdlings, die in der Nähe des Zieles fragender und erwartender werden. Unbewußt oder doch nur wenig bewußt, beginnt sich angesichts des geschlossenen Wirklichkeitsbildes jenes ungewisse, leicht verschwimmende Traumbild umzugestalten, ja in vielen Teilen zu verblassen und auszulöschen, das unsre Seele sich immer von Stätten zeichnet, die ihr durch Bild und Wort angenähert wurden, zumal wenn sich Wunsch und Sehnsucht an ihre Namen banden. Hier ist die Quelle mancher Enttäuschungen. Aber für den, der zu sehen weiß, ist die Wirklich¬ keit immer schöner und reicher als der Traum. Schön ist es freilich auch, sich von der Wirklichkeit ganz überraschen zu lassen, sich kenntnislos den Dingen hinzugeben, sie zu genießen, als seien sie eben erst zum Genusse geschaffen worden, sie einzusaugen in die Seele, ohne ihnen ein verschwommenes Erwartungsbild entgegenzutragen. Es gibt noch genug Winkel in deutschen Landen, wo solche Entdeckungsfahrten auf eigne Faust köstlichen Gewinn bringen. Der Tauberwinkel gehört nicht mehr dazu. Ich muß an Ludwig Richter denken, der einer heimlichem Zeit angehörte. In seinen Lebenserinnerungen erzählt er davon, wie er 1825 auf der Heim¬ kehr von Italien die ummauerte Stadt entdeckt, wie er nach ihrem Namen gefragt habe, und wie es ihm dann eingefallen sei, den Namen schon einmal in Musäus' Volksmärchenbuch, in der Schatzgräbergeschichte, gelesen zu haben- Damals war Rothenburg noch unberühmt. Es ist aber ein wahres Glück, daß auch ich heute, wie Ludwig Richter einst, zu Fuß das stille Tal durch¬ ziehe. Einwandern muß man in diese Stadt, nicht einfahren, es sei denn mit der Postkutsche. Wer sich vom Dampfwagen an den Rücken der Stadt herantragen läßt, der begibt sich, wenn es erlaubt ist, kleines mit großem zu vergleichen, eines ähnlichen Genusses wie der deutsche Jtalienfahrer, der Rom vom Bahnhofsgebäude betritt, statt, wie seine Vorfahren, von Norden her

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/378>, abgerufen am 26.05.2024.