Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hundert Jahre Berliner Universität

zu der Einsicht, warum die Wurst schief geschnitten wird). Haben auch beide
Philosophen nach alter Sitte ihre Metaphysik, so wird doch Lotze nie müde,
von der Mechanik des Geschehens zu reden, und, wenn es schon Ideen gibt,
nach der Art ihres Wirkens zu fragen.

So gewiß ferner eine klar empfundene Notlage geeignet ist, in Mitteln
zur Abhilfe erfinderisch zu machen, so sicher ist anderseits, daß zufällig oder
absichtlich gefundene Mittel neue Zwecke aufleuchten lassen. Außerdem ist jede
Universität mit dem Gesamtleben ihres Volkes und dem des ganzen Erdballs
verbunden. Fort und fort, meint Fechner, arbeitet der Erdgeist in sich und
bewirkt eine Verkettung des allgemeinen Bildungsganges. Die Form des
geschichtlichen Lebens kann sich insofern ändern, als wir uns der wirklichen
Universalgeschichte annähern. Von dieser Spiritualisierung der Erde, deren
Linien kein Diagnostiker bestimmen kann, sührt freilich kein direkter Weg zu den
Einrichtungen einer Universität; aber doch steht das konzentrierte geistige Leben
einer Stelle im Zusammenhang mit dem Gesamtleben der Welt. Es gleicht
einem Orchester, an dessen einem Ende ein paar Instrumente ertönen, während
am andern alles schweigt. Dann vereinigen sich mehrere, verstummen wieder:
das Zusammenrauschen des Ganzen erwarten wir noch.

Der Verkehr ist anders geworden. Bei uns legte die Lokomotive am
7. Dezember 1835 die Strecke von Nürnberg bis Fürth zurück. Gauß und
W. E. Weber brachten in einer kleinen Stadt eine gewaltige Umwälzung
zustande. 1833 wurde in Göttingen zwischen der Sternwarte und dem physi¬
kalischen Laboratorium der erste Telegraph gelegt. Jetzt haben wir Edisons
Telephon und Marconis drahtlose Telegraphie. Kabel leiten die Gedanken
durch ungeheure Fernen. Sprechen die Gestirne (wie Fechner einmal leise fragte)
auch nicht durch ihr Licht miteinander, so geben sie doch von ihrem Wesen
eine unverhoffte Kunde durch die wundervolle Spektralanalyse. Die Vergangen¬
heit fing an, aus den Gräbern zu steigen und bekam allmählich verständliche
Stimme, als wollte die Erde nicht, daß das einst Erschaffene vergessen und im
Dunkel verhüllt bliebe. Die Erkenntnis der Natur versetzte die Gemüter in
bewundernde Spannung; neue Entdeckungen schufen neue Industrien und eine
veränderte Volkswirtschaft. Durch ihr Wissen wurde die Welt um neue Probleme
reicher. Hat sich die Zahl der entdeckbaren Erdteile auch stark vermindert, so
haben sich die alten auf- und enger aneinander geschlossen. Sie taten es schon,
als der teure, triumphierende Spaten noch nicht so viel leistete wie jetzt.

Die Weltverhältnisse, von denen die Universität beeinflußt wurde, lassen
sich zusammenfassend zurückführen auf die Erweiterung des Horizonts durch
Kenntnis der Menschen, ihrer Sprachen, Kunst- und Lebensformen und anderer
Erzeugnisse primitiver und kultivierter Zeit; die Entdeckungen der Naturwissenschaft,
die Biologie, die Beachtung und das Vordringen des Individuellen, Kleinen
und Kleinsten, das Bedürfnis nach genetischem Verständnis und eine fortschreitende
Arbeitsteilung. Je zahlreicher die Tatsachen sind, desto mehr drängen sie


Hundert Jahre Berliner Universität

zu der Einsicht, warum die Wurst schief geschnitten wird). Haben auch beide
Philosophen nach alter Sitte ihre Metaphysik, so wird doch Lotze nie müde,
von der Mechanik des Geschehens zu reden, und, wenn es schon Ideen gibt,
nach der Art ihres Wirkens zu fragen.

So gewiß ferner eine klar empfundene Notlage geeignet ist, in Mitteln
zur Abhilfe erfinderisch zu machen, so sicher ist anderseits, daß zufällig oder
absichtlich gefundene Mittel neue Zwecke aufleuchten lassen. Außerdem ist jede
Universität mit dem Gesamtleben ihres Volkes und dem des ganzen Erdballs
verbunden. Fort und fort, meint Fechner, arbeitet der Erdgeist in sich und
bewirkt eine Verkettung des allgemeinen Bildungsganges. Die Form des
geschichtlichen Lebens kann sich insofern ändern, als wir uns der wirklichen
Universalgeschichte annähern. Von dieser Spiritualisierung der Erde, deren
Linien kein Diagnostiker bestimmen kann, sührt freilich kein direkter Weg zu den
Einrichtungen einer Universität; aber doch steht das konzentrierte geistige Leben
einer Stelle im Zusammenhang mit dem Gesamtleben der Welt. Es gleicht
einem Orchester, an dessen einem Ende ein paar Instrumente ertönen, während
am andern alles schweigt. Dann vereinigen sich mehrere, verstummen wieder:
das Zusammenrauschen des Ganzen erwarten wir noch.

Der Verkehr ist anders geworden. Bei uns legte die Lokomotive am
7. Dezember 1835 die Strecke von Nürnberg bis Fürth zurück. Gauß und
W. E. Weber brachten in einer kleinen Stadt eine gewaltige Umwälzung
zustande. 1833 wurde in Göttingen zwischen der Sternwarte und dem physi¬
kalischen Laboratorium der erste Telegraph gelegt. Jetzt haben wir Edisons
Telephon und Marconis drahtlose Telegraphie. Kabel leiten die Gedanken
durch ungeheure Fernen. Sprechen die Gestirne (wie Fechner einmal leise fragte)
auch nicht durch ihr Licht miteinander, so geben sie doch von ihrem Wesen
eine unverhoffte Kunde durch die wundervolle Spektralanalyse. Die Vergangen¬
heit fing an, aus den Gräbern zu steigen und bekam allmählich verständliche
Stimme, als wollte die Erde nicht, daß das einst Erschaffene vergessen und im
Dunkel verhüllt bliebe. Die Erkenntnis der Natur versetzte die Gemüter in
bewundernde Spannung; neue Entdeckungen schufen neue Industrien und eine
veränderte Volkswirtschaft. Durch ihr Wissen wurde die Welt um neue Probleme
reicher. Hat sich die Zahl der entdeckbaren Erdteile auch stark vermindert, so
haben sich die alten auf- und enger aneinander geschlossen. Sie taten es schon,
als der teure, triumphierende Spaten noch nicht so viel leistete wie jetzt.

Die Weltverhältnisse, von denen die Universität beeinflußt wurde, lassen
sich zusammenfassend zurückführen auf die Erweiterung des Horizonts durch
Kenntnis der Menschen, ihrer Sprachen, Kunst- und Lebensformen und anderer
Erzeugnisse primitiver und kultivierter Zeit; die Entdeckungen der Naturwissenschaft,
die Biologie, die Beachtung und das Vordringen des Individuellen, Kleinen
und Kleinsten, das Bedürfnis nach genetischem Verständnis und eine fortschreitende
Arbeitsteilung. Je zahlreicher die Tatsachen sind, desto mehr drängen sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316974"/>
          <fw type="header" place="top"> Hundert Jahre Berliner Universität</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_33" prev="#ID_32"> zu der Einsicht, warum die Wurst schief geschnitten wird). Haben auch beide<lb/>
Philosophen nach alter Sitte ihre Metaphysik, so wird doch Lotze nie müde,<lb/>
von der Mechanik des Geschehens zu reden, und, wenn es schon Ideen gibt,<lb/>
nach der Art ihres Wirkens zu fragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_34"> So gewiß ferner eine klar empfundene Notlage geeignet ist, in Mitteln<lb/>
zur Abhilfe erfinderisch zu machen, so sicher ist anderseits, daß zufällig oder<lb/>
absichtlich gefundene Mittel neue Zwecke aufleuchten lassen. Außerdem ist jede<lb/>
Universität mit dem Gesamtleben ihres Volkes und dem des ganzen Erdballs<lb/>
verbunden. Fort und fort, meint Fechner, arbeitet der Erdgeist in sich und<lb/>
bewirkt eine Verkettung des allgemeinen Bildungsganges. Die Form des<lb/>
geschichtlichen Lebens kann sich insofern ändern, als wir uns der wirklichen<lb/>
Universalgeschichte annähern. Von dieser Spiritualisierung der Erde, deren<lb/>
Linien kein Diagnostiker bestimmen kann, sührt freilich kein direkter Weg zu den<lb/>
Einrichtungen einer Universität; aber doch steht das konzentrierte geistige Leben<lb/>
einer Stelle im Zusammenhang mit dem Gesamtleben der Welt. Es gleicht<lb/>
einem Orchester, an dessen einem Ende ein paar Instrumente ertönen, während<lb/>
am andern alles schweigt. Dann vereinigen sich mehrere, verstummen wieder:<lb/>
das Zusammenrauschen des Ganzen erwarten wir noch.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_35"> Der Verkehr ist anders geworden. Bei uns legte die Lokomotive am<lb/>
7. Dezember 1835 die Strecke von Nürnberg bis Fürth zurück. Gauß und<lb/>
W. E. Weber brachten in einer kleinen Stadt eine gewaltige Umwälzung<lb/>
zustande. 1833 wurde in Göttingen zwischen der Sternwarte und dem physi¬<lb/>
kalischen Laboratorium der erste Telegraph gelegt. Jetzt haben wir Edisons<lb/>
Telephon und Marconis drahtlose Telegraphie. Kabel leiten die Gedanken<lb/>
durch ungeheure Fernen. Sprechen die Gestirne (wie Fechner einmal leise fragte)<lb/>
auch nicht durch ihr Licht miteinander, so geben sie doch von ihrem Wesen<lb/>
eine unverhoffte Kunde durch die wundervolle Spektralanalyse. Die Vergangen¬<lb/>
heit fing an, aus den Gräbern zu steigen und bekam allmählich verständliche<lb/>
Stimme, als wollte die Erde nicht, daß das einst Erschaffene vergessen und im<lb/>
Dunkel verhüllt bliebe. Die Erkenntnis der Natur versetzte die Gemüter in<lb/>
bewundernde Spannung; neue Entdeckungen schufen neue Industrien und eine<lb/>
veränderte Volkswirtschaft. Durch ihr Wissen wurde die Welt um neue Probleme<lb/>
reicher. Hat sich die Zahl der entdeckbaren Erdteile auch stark vermindert, so<lb/>
haben sich die alten auf- und enger aneinander geschlossen. Sie taten es schon,<lb/>
als der teure, triumphierende Spaten noch nicht so viel leistete wie jetzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_36" next="#ID_37"> Die Weltverhältnisse, von denen die Universität beeinflußt wurde, lassen<lb/>
sich zusammenfassend zurückführen auf die Erweiterung des Horizonts durch<lb/>
Kenntnis der Menschen, ihrer Sprachen, Kunst- und Lebensformen und anderer<lb/>
Erzeugnisse primitiver und kultivierter Zeit; die Entdeckungen der Naturwissenschaft,<lb/>
die Biologie, die Beachtung und das Vordringen des Individuellen, Kleinen<lb/>
und Kleinsten, das Bedürfnis nach genetischem Verständnis und eine fortschreitende<lb/>
Arbeitsteilung.  Je zahlreicher die Tatsachen sind, desto mehr drängen sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] Hundert Jahre Berliner Universität zu der Einsicht, warum die Wurst schief geschnitten wird). Haben auch beide Philosophen nach alter Sitte ihre Metaphysik, so wird doch Lotze nie müde, von der Mechanik des Geschehens zu reden, und, wenn es schon Ideen gibt, nach der Art ihres Wirkens zu fragen. So gewiß ferner eine klar empfundene Notlage geeignet ist, in Mitteln zur Abhilfe erfinderisch zu machen, so sicher ist anderseits, daß zufällig oder absichtlich gefundene Mittel neue Zwecke aufleuchten lassen. Außerdem ist jede Universität mit dem Gesamtleben ihres Volkes und dem des ganzen Erdballs verbunden. Fort und fort, meint Fechner, arbeitet der Erdgeist in sich und bewirkt eine Verkettung des allgemeinen Bildungsganges. Die Form des geschichtlichen Lebens kann sich insofern ändern, als wir uns der wirklichen Universalgeschichte annähern. Von dieser Spiritualisierung der Erde, deren Linien kein Diagnostiker bestimmen kann, sührt freilich kein direkter Weg zu den Einrichtungen einer Universität; aber doch steht das konzentrierte geistige Leben einer Stelle im Zusammenhang mit dem Gesamtleben der Welt. Es gleicht einem Orchester, an dessen einem Ende ein paar Instrumente ertönen, während am andern alles schweigt. Dann vereinigen sich mehrere, verstummen wieder: das Zusammenrauschen des Ganzen erwarten wir noch. Der Verkehr ist anders geworden. Bei uns legte die Lokomotive am 7. Dezember 1835 die Strecke von Nürnberg bis Fürth zurück. Gauß und W. E. Weber brachten in einer kleinen Stadt eine gewaltige Umwälzung zustande. 1833 wurde in Göttingen zwischen der Sternwarte und dem physi¬ kalischen Laboratorium der erste Telegraph gelegt. Jetzt haben wir Edisons Telephon und Marconis drahtlose Telegraphie. Kabel leiten die Gedanken durch ungeheure Fernen. Sprechen die Gestirne (wie Fechner einmal leise fragte) auch nicht durch ihr Licht miteinander, so geben sie doch von ihrem Wesen eine unverhoffte Kunde durch die wundervolle Spektralanalyse. Die Vergangen¬ heit fing an, aus den Gräbern zu steigen und bekam allmählich verständliche Stimme, als wollte die Erde nicht, daß das einst Erschaffene vergessen und im Dunkel verhüllt bliebe. Die Erkenntnis der Natur versetzte die Gemüter in bewundernde Spannung; neue Entdeckungen schufen neue Industrien und eine veränderte Volkswirtschaft. Durch ihr Wissen wurde die Welt um neue Probleme reicher. Hat sich die Zahl der entdeckbaren Erdteile auch stark vermindert, so haben sich die alten auf- und enger aneinander geschlossen. Sie taten es schon, als der teure, triumphierende Spaten noch nicht so viel leistete wie jetzt. Die Weltverhältnisse, von denen die Universität beeinflußt wurde, lassen sich zusammenfassend zurückführen auf die Erweiterung des Horizonts durch Kenntnis der Menschen, ihrer Sprachen, Kunst- und Lebensformen und anderer Erzeugnisse primitiver und kultivierter Zeit; die Entdeckungen der Naturwissenschaft, die Biologie, die Beachtung und das Vordringen des Individuellen, Kleinen und Kleinsten, das Bedürfnis nach genetischem Verständnis und eine fortschreitende Arbeitsteilung. Je zahlreicher die Tatsachen sind, desto mehr drängen sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/23>, abgerufen am 15.05.2024.