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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Berliner Universität

Die seit 1816 für die griechischen Inschriften, seit 1819 für die ^on. Oer-
maniae gemachten Bemühungen kamen nach einigen Jahren zu Erfolg. Erst
1861 erschien der erste Band der lateinischen Inschriften. Th. Mommsen braucht
nur genannt, nicht gerühmt zu werden. Auch die Papyrusforschuug belebte er.
Der beinahe achtzigjährige Vahlen übt noch immer seine Meisterschaft gleich¬
mäßig in der lateinischen und griechischen Philologie. Der Akademiker H. Bonitz
führte vor und nach 1870 ebenso gründlich wie anregend in Plato und
Aristoteles ein.

Der Reichtum archäologischer Entdeckungen, die an so vielen Stellen von
Forschern verschiedener Nationen gemacht und von Ad. Michaelis so ausgezeichnet
geschildert worden sind, ist zu groß, um hier mit einiger Vollständigkeit erwähnt
zu werden. Kunsthistoriker waren Mitglieder der Akademie und der Universität,
darunter H. Grimm, der auch durch seine Vorträge über Goethe lebhaft anzog.
Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung macht sich jetzt auch hier geltend in
Vorlesungen über die Anfänge der Kunst u. tgi. Die Musik errang sich größern
Raum zuerst wohl durch PH. Spitta (f 1894).

Die Geschichtsforschung ist durch eine Reihe besonders glänzender Namen
vertreten, vor allem durch Ranke (1795 bis 1886). Die Philologie, das
eigentliche Organon der geschichtlichen Geisteswissenschaften, hat uns lesen gelehrt.
Aber diese Fähigkeit ist von denen, die der Historiker braucht, nur eine. Verfügt
er über Verständnis und Kritik der Quellen, die oft so mühsam in Archiven
gesucht werden müssen, so hat er noch wissenschaftliche Phantasie nötig, um
eine Kette der Kausalität herzustellen, deren Glieder nur mangelhaft gegeben
sind und so verschieden ergänzt werden. Diese kritische und gedankenreiche Art
bewährte Ranke bei den verschiedensten Aufgaben als Meister. Das Gebiet ist
so groß, daß für andre noch Raum blieb, zum Ruhm der Geschichtschreibung
beizutragen. Waitz und Wattenbach durchforschten das Mittelalter. E. Curtius
z. B. schrieb seine reizende griechische Geschichte, Th. Mommsen gab eine scharf
ausgeprägte Darstellung der römischen. Drousen, der zuerst Alexander den
Großen und die Diadochen behandelt hatte, wandte sich später der preußischen
Geschichte zu, die auch von Schmoller und Koser gepflegt wird. Die deutsche
Geschichte wurde von Treitschke in glänzender Darstellung und individuell
pointierter Auffassung wieder aufgenommen. Aber auch diese großen Leistungen,
sollten sie wirklich einmal bei ihrem Erscheinen nur Zustimmung gefunden haben,
unterliegen dem heraklitischen Satz: Alles fließt. sind schon diese wenigen
genannten Historiker unter sich sehr verschieden, so hat die Geschichtschreibung
ihren Gesichtskreis durch vergleichendes Studium des gesamten Lebens der Völker
verändert. Die Mechanik der Geschichte durch detaillierte Betrachtung des Krieges
aufzuhellen, ist H> Delbrück bestrebt. Am Ende wird jedes Geschlecht bean¬
spruchen, die Geschichte neu zu schreiben. Das Gesamtgebiet der Geographie
bereicherte Karl Ritter (seit 1820) rühmlichen Angedenkens; in neuerer Zeit
wirkte v. Richthofen wesentlich als physikalischer Geograph.


Hundert Jahre Berliner Universität

Die seit 1816 für die griechischen Inschriften, seit 1819 für die ^on. Oer-
maniae gemachten Bemühungen kamen nach einigen Jahren zu Erfolg. Erst
1861 erschien der erste Band der lateinischen Inschriften. Th. Mommsen braucht
nur genannt, nicht gerühmt zu werden. Auch die Papyrusforschuug belebte er.
Der beinahe achtzigjährige Vahlen übt noch immer seine Meisterschaft gleich¬
mäßig in der lateinischen und griechischen Philologie. Der Akademiker H. Bonitz
führte vor und nach 1870 ebenso gründlich wie anregend in Plato und
Aristoteles ein.

Der Reichtum archäologischer Entdeckungen, die an so vielen Stellen von
Forschern verschiedener Nationen gemacht und von Ad. Michaelis so ausgezeichnet
geschildert worden sind, ist zu groß, um hier mit einiger Vollständigkeit erwähnt
zu werden. Kunsthistoriker waren Mitglieder der Akademie und der Universität,
darunter H. Grimm, der auch durch seine Vorträge über Goethe lebhaft anzog.
Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung macht sich jetzt auch hier geltend in
Vorlesungen über die Anfänge der Kunst u. tgi. Die Musik errang sich größern
Raum zuerst wohl durch PH. Spitta (f 1894).

Die Geschichtsforschung ist durch eine Reihe besonders glänzender Namen
vertreten, vor allem durch Ranke (1795 bis 1886). Die Philologie, das
eigentliche Organon der geschichtlichen Geisteswissenschaften, hat uns lesen gelehrt.
Aber diese Fähigkeit ist von denen, die der Historiker braucht, nur eine. Verfügt
er über Verständnis und Kritik der Quellen, die oft so mühsam in Archiven
gesucht werden müssen, so hat er noch wissenschaftliche Phantasie nötig, um
eine Kette der Kausalität herzustellen, deren Glieder nur mangelhaft gegeben
sind und so verschieden ergänzt werden. Diese kritische und gedankenreiche Art
bewährte Ranke bei den verschiedensten Aufgaben als Meister. Das Gebiet ist
so groß, daß für andre noch Raum blieb, zum Ruhm der Geschichtschreibung
beizutragen. Waitz und Wattenbach durchforschten das Mittelalter. E. Curtius
z. B. schrieb seine reizende griechische Geschichte, Th. Mommsen gab eine scharf
ausgeprägte Darstellung der römischen. Drousen, der zuerst Alexander den
Großen und die Diadochen behandelt hatte, wandte sich später der preußischen
Geschichte zu, die auch von Schmoller und Koser gepflegt wird. Die deutsche
Geschichte wurde von Treitschke in glänzender Darstellung und individuell
pointierter Auffassung wieder aufgenommen. Aber auch diese großen Leistungen,
sollten sie wirklich einmal bei ihrem Erscheinen nur Zustimmung gefunden haben,
unterliegen dem heraklitischen Satz: Alles fließt. sind schon diese wenigen
genannten Historiker unter sich sehr verschieden, so hat die Geschichtschreibung
ihren Gesichtskreis durch vergleichendes Studium des gesamten Lebens der Völker
verändert. Die Mechanik der Geschichte durch detaillierte Betrachtung des Krieges
aufzuhellen, ist H> Delbrück bestrebt. Am Ende wird jedes Geschlecht bean¬
spruchen, die Geschichte neu zu schreiben. Das Gesamtgebiet der Geographie
bereicherte Karl Ritter (seit 1820) rühmlichen Angedenkens; in neuerer Zeit
wirkte v. Richthofen wesentlich als physikalischer Geograph.


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[0025] Hundert Jahre Berliner Universität Die seit 1816 für die griechischen Inschriften, seit 1819 für die ^on. Oer- maniae gemachten Bemühungen kamen nach einigen Jahren zu Erfolg. Erst 1861 erschien der erste Band der lateinischen Inschriften. Th. Mommsen braucht nur genannt, nicht gerühmt zu werden. Auch die Papyrusforschuug belebte er. Der beinahe achtzigjährige Vahlen übt noch immer seine Meisterschaft gleich¬ mäßig in der lateinischen und griechischen Philologie. Der Akademiker H. Bonitz führte vor und nach 1870 ebenso gründlich wie anregend in Plato und Aristoteles ein. Der Reichtum archäologischer Entdeckungen, die an so vielen Stellen von Forschern verschiedener Nationen gemacht und von Ad. Michaelis so ausgezeichnet geschildert worden sind, ist zu groß, um hier mit einiger Vollständigkeit erwähnt zu werden. Kunsthistoriker waren Mitglieder der Akademie und der Universität, darunter H. Grimm, der auch durch seine Vorträge über Goethe lebhaft anzog. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung macht sich jetzt auch hier geltend in Vorlesungen über die Anfänge der Kunst u. tgi. Die Musik errang sich größern Raum zuerst wohl durch PH. Spitta (f 1894). Die Geschichtsforschung ist durch eine Reihe besonders glänzender Namen vertreten, vor allem durch Ranke (1795 bis 1886). Die Philologie, das eigentliche Organon der geschichtlichen Geisteswissenschaften, hat uns lesen gelehrt. Aber diese Fähigkeit ist von denen, die der Historiker braucht, nur eine. Verfügt er über Verständnis und Kritik der Quellen, die oft so mühsam in Archiven gesucht werden müssen, so hat er noch wissenschaftliche Phantasie nötig, um eine Kette der Kausalität herzustellen, deren Glieder nur mangelhaft gegeben sind und so verschieden ergänzt werden. Diese kritische und gedankenreiche Art bewährte Ranke bei den verschiedensten Aufgaben als Meister. Das Gebiet ist so groß, daß für andre noch Raum blieb, zum Ruhm der Geschichtschreibung beizutragen. Waitz und Wattenbach durchforschten das Mittelalter. E. Curtius z. B. schrieb seine reizende griechische Geschichte, Th. Mommsen gab eine scharf ausgeprägte Darstellung der römischen. Drousen, der zuerst Alexander den Großen und die Diadochen behandelt hatte, wandte sich später der preußischen Geschichte zu, die auch von Schmoller und Koser gepflegt wird. Die deutsche Geschichte wurde von Treitschke in glänzender Darstellung und individuell pointierter Auffassung wieder aufgenommen. Aber auch diese großen Leistungen, sollten sie wirklich einmal bei ihrem Erscheinen nur Zustimmung gefunden haben, unterliegen dem heraklitischen Satz: Alles fließt. sind schon diese wenigen genannten Historiker unter sich sehr verschieden, so hat die Geschichtschreibung ihren Gesichtskreis durch vergleichendes Studium des gesamten Lebens der Völker verändert. Die Mechanik der Geschichte durch detaillierte Betrachtung des Krieges aufzuhellen, ist H> Delbrück bestrebt. Am Ende wird jedes Geschlecht bean¬ spruchen, die Geschichte neu zu schreiben. Das Gesamtgebiet der Geographie bereicherte Karl Ritter (seit 1820) rühmlichen Angedenkens; in neuerer Zeit wirkte v. Richthofen wesentlich als physikalischer Geograph.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/25>, abgerufen am 15.05.2024.