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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahrs Berliner Universität

In der Philosophie machte sich Hegel noch lange bemerkbar. Die edle
Persönlichkeit Ad. Trendelenburgs gehörte der Universität bis 1872 an. Dann
kam Zeller, dessen so mannigfaltige Verdienste bekannt sind. Lotze starb 1881,
als er eben im Begriff war, hier seine Wirksamkeit zu entfalten. Ein drittes
Ordinariat wurde für Paulsen eingerichtet, dessen Wissen und anregenden klaren
Vortrag zahlreiche Hörer aller Fakultäten hochschätzten. Die Spekulation machte
einer psychologisch-historischen Erkenntnis der Dinge Platz. Neu ist etwa seit
zwanzig Jahren der Betrieb der experimentellen Psychologie (Ebbinghaus; dann
Stumpf). Neu ist auch die philosophische Behandlung soziologischer Fragen
z. B. durch Simmel.

Die theologische Fakultät erhielt neues Blut durch Hervortreten alter
Dokumente zur Kirchengeschichte (Neander; Ad. Harnack), die Assyriologie und
ihr Verhältnis zum Alten Testament; das Studium der Augusteischen Zeit, der
vorderasiatischen Religionen und aller möglichen mythologischen und religiösen
Regungen mit Einschluß des Buddhismus. Die Theologie wurde so stark
geschichtlich. Sie zu einem Anhang der philosophischen Fakultät machen zu
wollen, gehört aber unter die Reformschrulleu, an denen wir so reich sind, und
welche die Wirksamkeit zerplatzender Wasserblasen mit dem Verdienst unfreiwilliger
Komik vereinigen. Wesentlich neu ist die Einreihung eines Teils der theologischen
Studien in die Gesamtheit anthropologischer Tatsachen. Die literarischen Denk¬
mäler werden wie alle andern angesehen. Die Religionsphilosophie hat einen
empiristischen Charakter bekommen, wie denn z. B. O. Pfleiderer eine solche auf
geschichtlicher Grundlage geschrieben hat.

Träte Savigny jetzt in die juristische Fakultät, wie erstaunt müßte er sein:
die Epigonen waren schöpferisch. Zu beachten scheint 1. das Vordringen des
deutschen Rechts, 2. systematische Zusammenfassungen für neue Bedürfnisse des
innern und internationalen Lebens, 3. die Veränderung der Rechtsphilosophie
mit Einschluß des vergleichenden Rechtsstudiums (Kohler). Die geschichtliche
Kenntnis des deutschen Rechts, die Savigny zu dessen Kodifikation zu fehlen
schien, wurde besonders durch Eichhorn (f 1854) eingeleitet, durch Homeyer,
Beseler, H. Brunner zu hoher Vollendung geführt. Dernburg wird ein großes
Lehrbuch des preußischen Privatrechts und der Rechtsnormen des Reiches verdankt,
L. Goldschmidt ein solches des Handelsrechts, nach dem Allgemeinen deutscheu
Handelsgesetzbuch von 1861. Den Bedürfnissen des Lebens kommt eine neue
Formulierung des Wechselrechts nach; dazu gesellte sich Gewerbegesetzgebuug,
Versicherungsrecht, Arbeiterfürsorge, internationales Privat- und Strafrecht,
Kolonialrecht usw., während die andern Zweige des Rechts durch ausgezeichnete
Forschungen gefördert wurden.

Sehr umfangreich war z. B. die Wirksamkeit Heffters und Berners. Auf
englische Verhältnisse lenkte Gneist unsere Aufmerksamkeit. In neuerer Zeit
wird das Verbrechen oft als sozialpathologische Erscheinung eingeschätzt, so daß
Medizin und besonders Psychiatrie (deren Methoden seit Ideler stark verändert


Hundert Jahrs Berliner Universität

In der Philosophie machte sich Hegel noch lange bemerkbar. Die edle
Persönlichkeit Ad. Trendelenburgs gehörte der Universität bis 1872 an. Dann
kam Zeller, dessen so mannigfaltige Verdienste bekannt sind. Lotze starb 1881,
als er eben im Begriff war, hier seine Wirksamkeit zu entfalten. Ein drittes
Ordinariat wurde für Paulsen eingerichtet, dessen Wissen und anregenden klaren
Vortrag zahlreiche Hörer aller Fakultäten hochschätzten. Die Spekulation machte
einer psychologisch-historischen Erkenntnis der Dinge Platz. Neu ist etwa seit
zwanzig Jahren der Betrieb der experimentellen Psychologie (Ebbinghaus; dann
Stumpf). Neu ist auch die philosophische Behandlung soziologischer Fragen
z. B. durch Simmel.

Die theologische Fakultät erhielt neues Blut durch Hervortreten alter
Dokumente zur Kirchengeschichte (Neander; Ad. Harnack), die Assyriologie und
ihr Verhältnis zum Alten Testament; das Studium der Augusteischen Zeit, der
vorderasiatischen Religionen und aller möglichen mythologischen und religiösen
Regungen mit Einschluß des Buddhismus. Die Theologie wurde so stark
geschichtlich. Sie zu einem Anhang der philosophischen Fakultät machen zu
wollen, gehört aber unter die Reformschrulleu, an denen wir so reich sind, und
welche die Wirksamkeit zerplatzender Wasserblasen mit dem Verdienst unfreiwilliger
Komik vereinigen. Wesentlich neu ist die Einreihung eines Teils der theologischen
Studien in die Gesamtheit anthropologischer Tatsachen. Die literarischen Denk¬
mäler werden wie alle andern angesehen. Die Religionsphilosophie hat einen
empiristischen Charakter bekommen, wie denn z. B. O. Pfleiderer eine solche auf
geschichtlicher Grundlage geschrieben hat.

Träte Savigny jetzt in die juristische Fakultät, wie erstaunt müßte er sein:
die Epigonen waren schöpferisch. Zu beachten scheint 1. das Vordringen des
deutschen Rechts, 2. systematische Zusammenfassungen für neue Bedürfnisse des
innern und internationalen Lebens, 3. die Veränderung der Rechtsphilosophie
mit Einschluß des vergleichenden Rechtsstudiums (Kohler). Die geschichtliche
Kenntnis des deutschen Rechts, die Savigny zu dessen Kodifikation zu fehlen
schien, wurde besonders durch Eichhorn (f 1854) eingeleitet, durch Homeyer,
Beseler, H. Brunner zu hoher Vollendung geführt. Dernburg wird ein großes
Lehrbuch des preußischen Privatrechts und der Rechtsnormen des Reiches verdankt,
L. Goldschmidt ein solches des Handelsrechts, nach dem Allgemeinen deutscheu
Handelsgesetzbuch von 1861. Den Bedürfnissen des Lebens kommt eine neue
Formulierung des Wechselrechts nach; dazu gesellte sich Gewerbegesetzgebuug,
Versicherungsrecht, Arbeiterfürsorge, internationales Privat- und Strafrecht,
Kolonialrecht usw., während die andern Zweige des Rechts durch ausgezeichnete
Forschungen gefördert wurden.

Sehr umfangreich war z. B. die Wirksamkeit Heffters und Berners. Auf
englische Verhältnisse lenkte Gneist unsere Aufmerksamkeit. In neuerer Zeit
wird das Verbrechen oft als sozialpathologische Erscheinung eingeschätzt, so daß
Medizin und besonders Psychiatrie (deren Methoden seit Ideler stark verändert


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[0026] Hundert Jahrs Berliner Universität In der Philosophie machte sich Hegel noch lange bemerkbar. Die edle Persönlichkeit Ad. Trendelenburgs gehörte der Universität bis 1872 an. Dann kam Zeller, dessen so mannigfaltige Verdienste bekannt sind. Lotze starb 1881, als er eben im Begriff war, hier seine Wirksamkeit zu entfalten. Ein drittes Ordinariat wurde für Paulsen eingerichtet, dessen Wissen und anregenden klaren Vortrag zahlreiche Hörer aller Fakultäten hochschätzten. Die Spekulation machte einer psychologisch-historischen Erkenntnis der Dinge Platz. Neu ist etwa seit zwanzig Jahren der Betrieb der experimentellen Psychologie (Ebbinghaus; dann Stumpf). Neu ist auch die philosophische Behandlung soziologischer Fragen z. B. durch Simmel. Die theologische Fakultät erhielt neues Blut durch Hervortreten alter Dokumente zur Kirchengeschichte (Neander; Ad. Harnack), die Assyriologie und ihr Verhältnis zum Alten Testament; das Studium der Augusteischen Zeit, der vorderasiatischen Religionen und aller möglichen mythologischen und religiösen Regungen mit Einschluß des Buddhismus. Die Theologie wurde so stark geschichtlich. Sie zu einem Anhang der philosophischen Fakultät machen zu wollen, gehört aber unter die Reformschrulleu, an denen wir so reich sind, und welche die Wirksamkeit zerplatzender Wasserblasen mit dem Verdienst unfreiwilliger Komik vereinigen. Wesentlich neu ist die Einreihung eines Teils der theologischen Studien in die Gesamtheit anthropologischer Tatsachen. Die literarischen Denk¬ mäler werden wie alle andern angesehen. Die Religionsphilosophie hat einen empiristischen Charakter bekommen, wie denn z. B. O. Pfleiderer eine solche auf geschichtlicher Grundlage geschrieben hat. Träte Savigny jetzt in die juristische Fakultät, wie erstaunt müßte er sein: die Epigonen waren schöpferisch. Zu beachten scheint 1. das Vordringen des deutschen Rechts, 2. systematische Zusammenfassungen für neue Bedürfnisse des innern und internationalen Lebens, 3. die Veränderung der Rechtsphilosophie mit Einschluß des vergleichenden Rechtsstudiums (Kohler). Die geschichtliche Kenntnis des deutschen Rechts, die Savigny zu dessen Kodifikation zu fehlen schien, wurde besonders durch Eichhorn (f 1854) eingeleitet, durch Homeyer, Beseler, H. Brunner zu hoher Vollendung geführt. Dernburg wird ein großes Lehrbuch des preußischen Privatrechts und der Rechtsnormen des Reiches verdankt, L. Goldschmidt ein solches des Handelsrechts, nach dem Allgemeinen deutscheu Handelsgesetzbuch von 1861. Den Bedürfnissen des Lebens kommt eine neue Formulierung des Wechselrechts nach; dazu gesellte sich Gewerbegesetzgebuug, Versicherungsrecht, Arbeiterfürsorge, internationales Privat- und Strafrecht, Kolonialrecht usw., während die andern Zweige des Rechts durch ausgezeichnete Forschungen gefördert wurden. Sehr umfangreich war z. B. die Wirksamkeit Heffters und Berners. Auf englische Verhältnisse lenkte Gneist unsere Aufmerksamkeit. In neuerer Zeit wird das Verbrechen oft als sozialpathologische Erscheinung eingeschätzt, so daß Medizin und besonders Psychiatrie (deren Methoden seit Ideler stark verändert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/26>, abgerufen am 15.05.2024.