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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mereshkowsky

erscheint immer noch Bjelinski, den man dort sehr verkehrt den russischen Lessing
nennt, was eine durchaus schiefe Vorstellung erweckt. Er stürmte wie ein von
Begeisterung trunkener und zum Äußersten entschlossener Krieger durch die Nacht
dem Licht entgegen. In seiner Linken trug er eine Fackel, in der Rechten ein
scharfes Schwert. Von Hegelschen Ideen war er ausgegangen, in seiner Jugend
von den romantischen Anschauungen Puschkins und Lermontows durchtränkt und
als Mann zum Propheten Gogols und jener "Natürlichen" erzogen, die in der
Poesie nur getreue Wiedergabe des Wirklichen, Kampf um individuelle Freiheit
und Zertrümmerung alles Rückständigen sahen. Hätte Bjelinski länger gelebt,
so wäre er ein Opfer der Zensur und der drittel? Abteilung geworden, die ihn
immer enger umkreisten und für die Untersuchungshaft reif hielten. In seinen
glänzendsten Aufsätzen sah er in der Kunst immer nur das Mittel, Überlebtes
einzureihen, um Platz für frische Kräfte zu finden. Zu rein ästhetischen Ma߬
stäben bei der Beurteilung der Dichtung hat er es kaum jemals gebracht und
das Schöne selten um seiner selbst willen gelten lassen. Aber er reinigte die
Luft, raffte alle freien und frischen Elemente zusammen und chüele Männern
wie Gontscharow, Dostojewski, Turgenjew und Grigorowitsch mit ihren Jugend¬
werken den Weg. Ähnlich streitbare Naturen waren Dobroljubow, der mit
seiner Verachtung des Idealismus Aufsehen erregte, als blutjunger Draufgänger
die ersten Männer seiner Zeit anrempelte und es zu einer gefurchtsten Stellung
brachte, obwohl er nur vierundzwanzig Jahre alt wurde. Auch Pissarew, der
als Siebenundzmanzigjähriger auf der Strecke liegen blieb, fragte immer zuerst
nach dem praktischen Nutzen der Poesie und sah in Goethe einen sich auf seinen
Versen selbstgefällig schaukelnden hochmütigen Aristokraten. Die freie Meinungs¬
äußerung suchte sich dichterisch zu maskieren, um die Hüter der öffentlichen
Ordnung irre zu führen. In den Versen zitterte die Erregung politischer Leit¬
artikel nach Pissarew und die Prosaerzählung schmeckte nach dem Galligen der
Satire. Diese Art von Kritik zündete, zerschmetterte und befreite, war aber
weit davon entfernt, als selbständige Kunst aufzutreten.

Seitdem in Rußland über politische Vorgänge eine öffentliche Aussprache
möglich ist, hat sich auch in der Betrachtung über Kunst und Künstler ein
Reinigungsprozeß vollzogen. Das beständige Betonen der Tendenz hatte ganze
Geschlechter von braven Menschen und schlechten Musikanten zur Bedeutung
erhoben, an die man jetzt nicht mehr glaubt. Mereshkowsky hat in seinem
Vaterland die Kritik auf eine so hohe Stufe gestellt, wie sie selbst im europäischen
Westen nur selten eingenommen wird. Sein Blick ist nicht durch die Scheu¬
klappen beengt, die immer nur slawische Erde sehen lassen, sondern hat durch
die Kenntnis fremder Kulturvölker und ihrer geschichtlichen Entwicklung eine
verfeinerte Schulung erfahren. Zwischen Petersburg und Moskau hat sich in
weiten Kreisen noch immer der Glaube eingenistet, daß Nußland nur einen
Schritt vorwärts zu tun brauche, um an der Spitze der Nationen zu stehen.
Der Einsiedler von Jsnaja Poljcma konnte auf Grund seines dichterischen Welt-


Dmitri Mereshkowsky

erscheint immer noch Bjelinski, den man dort sehr verkehrt den russischen Lessing
nennt, was eine durchaus schiefe Vorstellung erweckt. Er stürmte wie ein von
Begeisterung trunkener und zum Äußersten entschlossener Krieger durch die Nacht
dem Licht entgegen. In seiner Linken trug er eine Fackel, in der Rechten ein
scharfes Schwert. Von Hegelschen Ideen war er ausgegangen, in seiner Jugend
von den romantischen Anschauungen Puschkins und Lermontows durchtränkt und
als Mann zum Propheten Gogols und jener „Natürlichen" erzogen, die in der
Poesie nur getreue Wiedergabe des Wirklichen, Kampf um individuelle Freiheit
und Zertrümmerung alles Rückständigen sahen. Hätte Bjelinski länger gelebt,
so wäre er ein Opfer der Zensur und der drittel? Abteilung geworden, die ihn
immer enger umkreisten und für die Untersuchungshaft reif hielten. In seinen
glänzendsten Aufsätzen sah er in der Kunst immer nur das Mittel, Überlebtes
einzureihen, um Platz für frische Kräfte zu finden. Zu rein ästhetischen Ma߬
stäben bei der Beurteilung der Dichtung hat er es kaum jemals gebracht und
das Schöne selten um seiner selbst willen gelten lassen. Aber er reinigte die
Luft, raffte alle freien und frischen Elemente zusammen und chüele Männern
wie Gontscharow, Dostojewski, Turgenjew und Grigorowitsch mit ihren Jugend¬
werken den Weg. Ähnlich streitbare Naturen waren Dobroljubow, der mit
seiner Verachtung des Idealismus Aufsehen erregte, als blutjunger Draufgänger
die ersten Männer seiner Zeit anrempelte und es zu einer gefurchtsten Stellung
brachte, obwohl er nur vierundzwanzig Jahre alt wurde. Auch Pissarew, der
als Siebenundzmanzigjähriger auf der Strecke liegen blieb, fragte immer zuerst
nach dem praktischen Nutzen der Poesie und sah in Goethe einen sich auf seinen
Versen selbstgefällig schaukelnden hochmütigen Aristokraten. Die freie Meinungs¬
äußerung suchte sich dichterisch zu maskieren, um die Hüter der öffentlichen
Ordnung irre zu führen. In den Versen zitterte die Erregung politischer Leit¬
artikel nach Pissarew und die Prosaerzählung schmeckte nach dem Galligen der
Satire. Diese Art von Kritik zündete, zerschmetterte und befreite, war aber
weit davon entfernt, als selbständige Kunst aufzutreten.

Seitdem in Rußland über politische Vorgänge eine öffentliche Aussprache
möglich ist, hat sich auch in der Betrachtung über Kunst und Künstler ein
Reinigungsprozeß vollzogen. Das beständige Betonen der Tendenz hatte ganze
Geschlechter von braven Menschen und schlechten Musikanten zur Bedeutung
erhoben, an die man jetzt nicht mehr glaubt. Mereshkowsky hat in seinem
Vaterland die Kritik auf eine so hohe Stufe gestellt, wie sie selbst im europäischen
Westen nur selten eingenommen wird. Sein Blick ist nicht durch die Scheu¬
klappen beengt, die immer nur slawische Erde sehen lassen, sondern hat durch
die Kenntnis fremder Kulturvölker und ihrer geschichtlichen Entwicklung eine
verfeinerte Schulung erfahren. Zwischen Petersburg und Moskau hat sich in
weiten Kreisen noch immer der Glaube eingenistet, daß Nußland nur einen
Schritt vorwärts zu tun brauche, um an der Spitze der Nationen zu stehen.
Der Einsiedler von Jsnaja Poljcma konnte auf Grund seines dichterischen Welt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/43>, abgerufen am 15.05.2024.