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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mereshkowsky

rubens, ohne ausgelacht zu werden, ganz ernsthaft behaupten, daß in der Kunst
nur das Berechtigung habe, was in das Gehirn eines Bauern passe, daß die
Bilder von Raffael und Michelangelo nichts taugen, Beethovens Musik über¬
flüssig und Shakespeare als Dichter ein verworrener, unselbständiger Kopf und
als Mensch ein bloßer Fürstendiener sei. Tolstoi's barbarische Ästhetik, die nach
Kwas schmeckte und nach Kohlsuppe roch, brauchte man nicht ernstlich zu wider¬
legen. Es war aber an der Zeit, die Jugend und das Volk dieser Geschmacks¬
verwilderung nicht preiszugeben, sondern sie durch gehaltvolle Werke der kritischen
Kunst zu höheren Anschauungen zu erziehen.

Zu den frühesten künstlerischen Eindrücken, die Mereshkowsky empfing, gehörte
der Anblick jener Madonna Litla von Leonardi da Vinci, die in der Peters¬
burger Eremitage die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde unwiderstehlich an sich
lockt. Ein stilles keusches Gemach, an dessen fast schwarzer Rückwand man durch
zwei offne Rundfenster unter zarten, weißen Wolken grün und bläulich gefärbte
Höhen verschwimmen sieht und den milden Duft warmen, reinen Naturlebens
einzuatmen glaubtI In den feinsten Übergängen des Lichts "von strahlender
Helligkeit bis zu stumpfen, grauen Schatten erblicken wir die Gottesmutter in
rotem Gewand mit zurückfallendem blauen Mantel und einem grauen, schwarz
gestreiften und mit Gold verzierten Schleier auf dem Kopf, wie sie sich zu dem
Jesuskinde zärtlich herniederbeugt und ihm die Brust gibt. Der Knabe, um
dessen Stirn und Schläfe sich blonde Lockenreihen ausbäumen, schielt aus großen
leuchtenden Augen zum Beschauer hinüber und hält in der Linken einen Stieglitz,
der zwischen ihm und der Mutter seinen kleinen Haubenkopf im Dunkeln hervor¬
streckt. Die Echtheit dieses Bildes haben allerdings Crowe und Cavalcaselle in
ihrer Geschichte der italienischen Malerei anzuzweifeln versucht, woran sich weit¬
gehende andere Untersuchungen und Vermutungen schlössen. Jetzt ist man der
Meinung, daß diese aus dem Besitz des Grafen Litla in Mailand stammende
Madonna von Leonardo wohl nur angefangen und von einem seiner Schüler
vollendet worden sei.

Jahre vergingen und Mereshkowsky stand im Pariser Louvre vor dem
Bilde der Monna Lisa. Hier war des Meisters Ausspruch: "Die Schönheit
der sterblichen Dinge ist vergänglich und nicht die der Kunst" zur Wahrheit
geworden. Diese schimmernde Brust atmete zwischen dem Ausschnitt des Kleides.
Jeder Pulsschlag rötete die Linien am Halse. Auf dem Antlitz spielte ein
Lächeln, so unfaßbar und rätselhaft, als ob es aus Höhen, die den Durch¬
schnittsmenschen unerreichbar sind, auf das eitle und wirre Spiel des Lebens
mitleidsvoll und doch versöhnlich herabblicke. Schon ahnte der jugendliche
Forscher, daß er sich dem Verständnis eines Mannes nähere, dessen Bedeutung
nicht in einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Schöpfungen, sondern
darin liegt, daß er den Inhalt eines ganzen Zeitalters geistig erfaßt und es
mit seinem beispiellosen Können auf allen Gebieten für die Jahrhunderte
befruchtet hatte. Die nachgeborenen Geschlechter sind noch immer nicht imstande


Dmitri Mereshkowsky

rubens, ohne ausgelacht zu werden, ganz ernsthaft behaupten, daß in der Kunst
nur das Berechtigung habe, was in das Gehirn eines Bauern passe, daß die
Bilder von Raffael und Michelangelo nichts taugen, Beethovens Musik über¬
flüssig und Shakespeare als Dichter ein verworrener, unselbständiger Kopf und
als Mensch ein bloßer Fürstendiener sei. Tolstoi's barbarische Ästhetik, die nach
Kwas schmeckte und nach Kohlsuppe roch, brauchte man nicht ernstlich zu wider¬
legen. Es war aber an der Zeit, die Jugend und das Volk dieser Geschmacks¬
verwilderung nicht preiszugeben, sondern sie durch gehaltvolle Werke der kritischen
Kunst zu höheren Anschauungen zu erziehen.

Zu den frühesten künstlerischen Eindrücken, die Mereshkowsky empfing, gehörte
der Anblick jener Madonna Litla von Leonardi da Vinci, die in der Peters¬
burger Eremitage die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde unwiderstehlich an sich
lockt. Ein stilles keusches Gemach, an dessen fast schwarzer Rückwand man durch
zwei offne Rundfenster unter zarten, weißen Wolken grün und bläulich gefärbte
Höhen verschwimmen sieht und den milden Duft warmen, reinen Naturlebens
einzuatmen glaubtI In den feinsten Übergängen des Lichts "von strahlender
Helligkeit bis zu stumpfen, grauen Schatten erblicken wir die Gottesmutter in
rotem Gewand mit zurückfallendem blauen Mantel und einem grauen, schwarz
gestreiften und mit Gold verzierten Schleier auf dem Kopf, wie sie sich zu dem
Jesuskinde zärtlich herniederbeugt und ihm die Brust gibt. Der Knabe, um
dessen Stirn und Schläfe sich blonde Lockenreihen ausbäumen, schielt aus großen
leuchtenden Augen zum Beschauer hinüber und hält in der Linken einen Stieglitz,
der zwischen ihm und der Mutter seinen kleinen Haubenkopf im Dunkeln hervor¬
streckt. Die Echtheit dieses Bildes haben allerdings Crowe und Cavalcaselle in
ihrer Geschichte der italienischen Malerei anzuzweifeln versucht, woran sich weit¬
gehende andere Untersuchungen und Vermutungen schlössen. Jetzt ist man der
Meinung, daß diese aus dem Besitz des Grafen Litla in Mailand stammende
Madonna von Leonardo wohl nur angefangen und von einem seiner Schüler
vollendet worden sei.

Jahre vergingen und Mereshkowsky stand im Pariser Louvre vor dem
Bilde der Monna Lisa. Hier war des Meisters Ausspruch: „Die Schönheit
der sterblichen Dinge ist vergänglich und nicht die der Kunst" zur Wahrheit
geworden. Diese schimmernde Brust atmete zwischen dem Ausschnitt des Kleides.
Jeder Pulsschlag rötete die Linien am Halse. Auf dem Antlitz spielte ein
Lächeln, so unfaßbar und rätselhaft, als ob es aus Höhen, die den Durch¬
schnittsmenschen unerreichbar sind, auf das eitle und wirre Spiel des Lebens
mitleidsvoll und doch versöhnlich herabblicke. Schon ahnte der jugendliche
Forscher, daß er sich dem Verständnis eines Mannes nähere, dessen Bedeutung
nicht in einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Schöpfungen, sondern
darin liegt, daß er den Inhalt eines ganzen Zeitalters geistig erfaßt und es
mit seinem beispiellosen Können auf allen Gebieten für die Jahrhunderte
befruchtet hatte. Die nachgeborenen Geschlechter sind noch immer nicht imstande


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[0044] Dmitri Mereshkowsky rubens, ohne ausgelacht zu werden, ganz ernsthaft behaupten, daß in der Kunst nur das Berechtigung habe, was in das Gehirn eines Bauern passe, daß die Bilder von Raffael und Michelangelo nichts taugen, Beethovens Musik über¬ flüssig und Shakespeare als Dichter ein verworrener, unselbständiger Kopf und als Mensch ein bloßer Fürstendiener sei. Tolstoi's barbarische Ästhetik, die nach Kwas schmeckte und nach Kohlsuppe roch, brauchte man nicht ernstlich zu wider¬ legen. Es war aber an der Zeit, die Jugend und das Volk dieser Geschmacks¬ verwilderung nicht preiszugeben, sondern sie durch gehaltvolle Werke der kritischen Kunst zu höheren Anschauungen zu erziehen. Zu den frühesten künstlerischen Eindrücken, die Mereshkowsky empfing, gehörte der Anblick jener Madonna Litla von Leonardi da Vinci, die in der Peters¬ burger Eremitage die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde unwiderstehlich an sich lockt. Ein stilles keusches Gemach, an dessen fast schwarzer Rückwand man durch zwei offne Rundfenster unter zarten, weißen Wolken grün und bläulich gefärbte Höhen verschwimmen sieht und den milden Duft warmen, reinen Naturlebens einzuatmen glaubtI In den feinsten Übergängen des Lichts "von strahlender Helligkeit bis zu stumpfen, grauen Schatten erblicken wir die Gottesmutter in rotem Gewand mit zurückfallendem blauen Mantel und einem grauen, schwarz gestreiften und mit Gold verzierten Schleier auf dem Kopf, wie sie sich zu dem Jesuskinde zärtlich herniederbeugt und ihm die Brust gibt. Der Knabe, um dessen Stirn und Schläfe sich blonde Lockenreihen ausbäumen, schielt aus großen leuchtenden Augen zum Beschauer hinüber und hält in der Linken einen Stieglitz, der zwischen ihm und der Mutter seinen kleinen Haubenkopf im Dunkeln hervor¬ streckt. Die Echtheit dieses Bildes haben allerdings Crowe und Cavalcaselle in ihrer Geschichte der italienischen Malerei anzuzweifeln versucht, woran sich weit¬ gehende andere Untersuchungen und Vermutungen schlössen. Jetzt ist man der Meinung, daß diese aus dem Besitz des Grafen Litla in Mailand stammende Madonna von Leonardo wohl nur angefangen und von einem seiner Schüler vollendet worden sei. Jahre vergingen und Mereshkowsky stand im Pariser Louvre vor dem Bilde der Monna Lisa. Hier war des Meisters Ausspruch: „Die Schönheit der sterblichen Dinge ist vergänglich und nicht die der Kunst" zur Wahrheit geworden. Diese schimmernde Brust atmete zwischen dem Ausschnitt des Kleides. Jeder Pulsschlag rötete die Linien am Halse. Auf dem Antlitz spielte ein Lächeln, so unfaßbar und rätselhaft, als ob es aus Höhen, die den Durch¬ schnittsmenschen unerreichbar sind, auf das eitle und wirre Spiel des Lebens mitleidsvoll und doch versöhnlich herabblicke. Schon ahnte der jugendliche Forscher, daß er sich dem Verständnis eines Mannes nähere, dessen Bedeutung nicht in einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Schöpfungen, sondern darin liegt, daß er den Inhalt eines ganzen Zeitalters geistig erfaßt und es mit seinem beispiellosen Können auf allen Gebieten für die Jahrhunderte befruchtet hatte. Die nachgeborenen Geschlechter sind noch immer nicht imstande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/44>, abgerufen am 15.05.2024.