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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Franziska

ist eigentlich mit nichts anderem unzufrieden, als mit den Sexualorganen, die
sie auf den Weg mitbekommen hat. Um Vergebung, mehr ist wirklich nicht
dahinter.

Gut, auch aus dem Messalinenmotiv hätte sich leidlich Erschütterndes schaffen
lassen. Aber hier wenigstens langt es nicht dazu. Und am Ende ist es nichts
anderes, als daß diese Franziska mit achtzehn Jahren des ersten Liebhabers
überdrüssig wird und von da an (wo sie nach eigener Aussage "sich kennen
gelernt hat") ganz andere Ansprüche an den Mann stellt. Welche eigentlich,
das ist mit in dem reichlich langen, reichlich theoretischen, ebenso reichlich
undramatischen Dialog, den sie in dieser Angelegenheit mit ihrem ersten Liebsten
führt, nicht recht klar geworden. Aber sie stellt sie nun einmal. Und benutzt
nun den zweiten, um -- rein technisch nur -- zum Manne zu werden, das
heißt sie schließt mit seiner Hilfe eine veritable Ehe mit einem Mädchen. So
einfach, wie es scheint, liegt aber auch diese Angelegenheit nicht. Denn nun
beginnt eine Wanderung durch tiefe Gründe der Sexualpathologie, die mir nicht
vertraut sind. Und im Zeitalter der Kraft-Ebbing und Forel scheinbar der
ganzen Kritik nicht. Möglich, daß Frank Wedekind, wie seine Franziska, auch
hier "ganz andere Ansprüche zu stellen berechtigt ist". Die bekannteren Typen
sexualpathologischer Charaktere freilich reichen zu seinem Verständnis nicht aus.
Möglich daß man das Modell für Franziska in verborgenerm Winkeln dieses
Gebietes zu suchen hat. Ganz bescheiden ist dieser Dichter eben nicht ....

Und dann? Ja, dann kommt eben der dritte, der den zweiten (Veit
Kunz) ablöst. Und endlich der vierte, der den Zauber bricht und die Uner¬
sättliche von ihrer Sexualfaustik erlöst: la e8t in einer Dachauer Villa eine
ehrbare Ehe mit ihr führt, in der sie reichlich Gelegenheit hat, sich um ihren
Kochherd und den Darmkatarrh ihres Kindes zu kümmern. Und darum Herr
Wedekind das Faustplakat? Und fünf Akte mit einen: Wirrwarr von drama¬
tischem und leider meist undramatischem Wust?

Siegfried Jakobsohn meint, in Wedekind sei irgend etwas entzwei gegangen.
Ich glaube es nicht. Im Gegenteil, es hat sich etwas in ihm konsolidiert. Er
ist, sagen wir einmal, behäbiger geworden. Was ist ihm bisher das. was ihm
als Künstler seinen Wert gab, die innerste Feder seiner Dramatik? Eben jenes
Desperadotum, dieses Kämpfen um Kopf und Kragen, das verzweifelte Ringen,
das echt war und groß. Jetzt ist es scheinbar vorbei damit. Dem Dichter
aus der Münchener Prinzregentenstraße steht das Ringen scheinbar nicht mehr
gut an: der Erfolg kam, die Anerkennung und mit beiden eben das, was ich
als Behäbigkeit bezeichnen muß. Hier wenigstens ist es so.

Wo jene seine Stärke liegt, zeigt auch Franziska: zeigt es in eben jenen
burlesken Szenen, von denen ich vorhin sprach und in zwei oder drei kleinen
Stellen echtester dramatischer Kraft und dichterischer Schönheit, Inseln gleich,
die aus einem öden Meer der Unzulänglichkeit auftauchen. Ich meine jenen
Zwiegesang von Franziska und Veit Kunz im vierten Akt, vor allem aber den


Franziska

ist eigentlich mit nichts anderem unzufrieden, als mit den Sexualorganen, die
sie auf den Weg mitbekommen hat. Um Vergebung, mehr ist wirklich nicht
dahinter.

Gut, auch aus dem Messalinenmotiv hätte sich leidlich Erschütterndes schaffen
lassen. Aber hier wenigstens langt es nicht dazu. Und am Ende ist es nichts
anderes, als daß diese Franziska mit achtzehn Jahren des ersten Liebhabers
überdrüssig wird und von da an (wo sie nach eigener Aussage „sich kennen
gelernt hat") ganz andere Ansprüche an den Mann stellt. Welche eigentlich,
das ist mit in dem reichlich langen, reichlich theoretischen, ebenso reichlich
undramatischen Dialog, den sie in dieser Angelegenheit mit ihrem ersten Liebsten
führt, nicht recht klar geworden. Aber sie stellt sie nun einmal. Und benutzt
nun den zweiten, um — rein technisch nur — zum Manne zu werden, das
heißt sie schließt mit seiner Hilfe eine veritable Ehe mit einem Mädchen. So
einfach, wie es scheint, liegt aber auch diese Angelegenheit nicht. Denn nun
beginnt eine Wanderung durch tiefe Gründe der Sexualpathologie, die mir nicht
vertraut sind. Und im Zeitalter der Kraft-Ebbing und Forel scheinbar der
ganzen Kritik nicht. Möglich, daß Frank Wedekind, wie seine Franziska, auch
hier „ganz andere Ansprüche zu stellen berechtigt ist". Die bekannteren Typen
sexualpathologischer Charaktere freilich reichen zu seinem Verständnis nicht aus.
Möglich daß man das Modell für Franziska in verborgenerm Winkeln dieses
Gebietes zu suchen hat. Ganz bescheiden ist dieser Dichter eben nicht ....

Und dann? Ja, dann kommt eben der dritte, der den zweiten (Veit
Kunz) ablöst. Und endlich der vierte, der den Zauber bricht und die Uner¬
sättliche von ihrer Sexualfaustik erlöst: la e8t in einer Dachauer Villa eine
ehrbare Ehe mit ihr führt, in der sie reichlich Gelegenheit hat, sich um ihren
Kochherd und den Darmkatarrh ihres Kindes zu kümmern. Und darum Herr
Wedekind das Faustplakat? Und fünf Akte mit einen: Wirrwarr von drama¬
tischem und leider meist undramatischem Wust?

Siegfried Jakobsohn meint, in Wedekind sei irgend etwas entzwei gegangen.
Ich glaube es nicht. Im Gegenteil, es hat sich etwas in ihm konsolidiert. Er
ist, sagen wir einmal, behäbiger geworden. Was ist ihm bisher das. was ihm
als Künstler seinen Wert gab, die innerste Feder seiner Dramatik? Eben jenes
Desperadotum, dieses Kämpfen um Kopf und Kragen, das verzweifelte Ringen,
das echt war und groß. Jetzt ist es scheinbar vorbei damit. Dem Dichter
aus der Münchener Prinzregentenstraße steht das Ringen scheinbar nicht mehr
gut an: der Erfolg kam, die Anerkennung und mit beiden eben das, was ich
als Behäbigkeit bezeichnen muß. Hier wenigstens ist es so.

Wo jene seine Stärke liegt, zeigt auch Franziska: zeigt es in eben jenen
burlesken Szenen, von denen ich vorhin sprach und in zwei oder drei kleinen
Stellen echtester dramatischer Kraft und dichterischer Schönheit, Inseln gleich,
die aus einem öden Meer der Unzulänglichkeit auftauchen. Ich meine jenen
Zwiegesang von Franziska und Veit Kunz im vierten Akt, vor allem aber den


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[0482] Franziska ist eigentlich mit nichts anderem unzufrieden, als mit den Sexualorganen, die sie auf den Weg mitbekommen hat. Um Vergebung, mehr ist wirklich nicht dahinter. Gut, auch aus dem Messalinenmotiv hätte sich leidlich Erschütterndes schaffen lassen. Aber hier wenigstens langt es nicht dazu. Und am Ende ist es nichts anderes, als daß diese Franziska mit achtzehn Jahren des ersten Liebhabers überdrüssig wird und von da an (wo sie nach eigener Aussage „sich kennen gelernt hat") ganz andere Ansprüche an den Mann stellt. Welche eigentlich, das ist mit in dem reichlich langen, reichlich theoretischen, ebenso reichlich undramatischen Dialog, den sie in dieser Angelegenheit mit ihrem ersten Liebsten führt, nicht recht klar geworden. Aber sie stellt sie nun einmal. Und benutzt nun den zweiten, um — rein technisch nur — zum Manne zu werden, das heißt sie schließt mit seiner Hilfe eine veritable Ehe mit einem Mädchen. So einfach, wie es scheint, liegt aber auch diese Angelegenheit nicht. Denn nun beginnt eine Wanderung durch tiefe Gründe der Sexualpathologie, die mir nicht vertraut sind. Und im Zeitalter der Kraft-Ebbing und Forel scheinbar der ganzen Kritik nicht. Möglich, daß Frank Wedekind, wie seine Franziska, auch hier „ganz andere Ansprüche zu stellen berechtigt ist". Die bekannteren Typen sexualpathologischer Charaktere freilich reichen zu seinem Verständnis nicht aus. Möglich daß man das Modell für Franziska in verborgenerm Winkeln dieses Gebietes zu suchen hat. Ganz bescheiden ist dieser Dichter eben nicht .... Und dann? Ja, dann kommt eben der dritte, der den zweiten (Veit Kunz) ablöst. Und endlich der vierte, der den Zauber bricht und die Uner¬ sättliche von ihrer Sexualfaustik erlöst: la e8t in einer Dachauer Villa eine ehrbare Ehe mit ihr führt, in der sie reichlich Gelegenheit hat, sich um ihren Kochherd und den Darmkatarrh ihres Kindes zu kümmern. Und darum Herr Wedekind das Faustplakat? Und fünf Akte mit einen: Wirrwarr von drama¬ tischem und leider meist undramatischem Wust? Siegfried Jakobsohn meint, in Wedekind sei irgend etwas entzwei gegangen. Ich glaube es nicht. Im Gegenteil, es hat sich etwas in ihm konsolidiert. Er ist, sagen wir einmal, behäbiger geworden. Was ist ihm bisher das. was ihm als Künstler seinen Wert gab, die innerste Feder seiner Dramatik? Eben jenes Desperadotum, dieses Kämpfen um Kopf und Kragen, das verzweifelte Ringen, das echt war und groß. Jetzt ist es scheinbar vorbei damit. Dem Dichter aus der Münchener Prinzregentenstraße steht das Ringen scheinbar nicht mehr gut an: der Erfolg kam, die Anerkennung und mit beiden eben das, was ich als Behäbigkeit bezeichnen muß. Hier wenigstens ist es so. Wo jene seine Stärke liegt, zeigt auch Franziska: zeigt es in eben jenen burlesken Szenen, von denen ich vorhin sprach und in zwei oder drei kleinen Stellen echtester dramatischer Kraft und dichterischer Schönheit, Inseln gleich, die aus einem öden Meer der Unzulänglichkeit auftauchen. Ich meine jenen Zwiegesang von Franziska und Veit Kunz im vierten Akt, vor allem aber den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/482>, abgerufen am 25.05.2024.