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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

bedeutsamen Erlebnis werden. Die altnordische Saga führt ein so wesentlich
anderes Bild in einem so wesentlich anderen Rahmen vor, daß man betroffen
von der ungeahnten Gewalt und der grandiosen Härte dieser Welt, die in so
kargen Formen und einfachen Umrissen möglich war, staunt, daß man sich besinnt
und fragen mag, ob unser Weg der richtige ist, oder ob es etwas besseres
gibt als die Art, in der sich unser modernes Leben, unser Innenleben, um
von dem äußeren zu schweigen, bewegt und verzehrt.




Die Germanen des europäischen Festlandes und der britischen Inseln haben
der isländischen Prosakunst nichts Gleichartiges an die Seite zu stellen. Die
kargen Reste prosaischer Denkmäler in althochdeutscher Sprache sind reine Zweck¬
prosa geistlichen oder rechtlichen Inhalts oder Übersetzungen aus dem Lateinischen;
einige Gebets- oder Segensspruche weisen die Eigentümlichkeiten der halb pro¬
saischen sakralen Poesie auf. Die Predigt allein gedeiht allmählich zu höherer
Blüte, doch bleibt sie natürlich nach Stoff und Form im geistlichen Behältnis befangen.

In Deutschland sind die Jahre 930 und 1030, welche die höchste Ent¬
faltung der isländischen Sagakunst umgrenzen, durch zwei lateinische Epen
charakterisiert: Waltharilied und Ruodlieb. Zur Zeit, da die Saga aufgezeichnet
wird, erlebt Deutschland die Blüte der höfischen Poesie, von ihrem Aufstieg bis
zum Eintritt der sogenannten Epigonen, für die Epik also von Eilhart und
Heinrich von Veldeke bis Konrad von Würzburg. Es läßt sich nicht leicht ein
schärferer Gegensatz finden als zwischen den breit ausmalenden, phantastisch
belebten, alles steigernden Reimpaaren der Ritterromane und der schlichten, fast
ängstlich zurückhaltender Prosanovelle auf Island. Dort herrscht die offen
arbeitende subjektive Technik der direkten Charakteristik, der überschwengliche Preis
des Helden, der immer der herrlichste und unbezwinglichste, der schönste und
beste ist, hier die unparteiische, objektive Darstellung gemischter Charaktere, für
die der Sagamann nie ein Wort einlegt, trotz aller Vorliebe, die dem Helden
angedeiht. Es herrscht im höfischen Epos die Reflexion, die ausmalende
Schilderung typischer Szenen und Gegenstände, welche die Handlung überwuchert,
die Übertragung aller Ereignisse in ritterliches Kostüm, in der Saga dagegen
die nüchterne Vorführung historischer Tatsachen ohne pragmatischen Zusammen¬
hang, ohne Urteilsabgabe, ohne Stimmungsmalerei.

Neben der aristokratischen Standespoesie des Ritterromans gibt es in Deutsch,
land freilich noch eine blühende dichterische Prof", aber sie blüht in lateinischer
Sprache, ihre Stoffe sind rein geistlich oder geistlich gefärbt: die Legenden, die
Predigtmärlein und Anekdoten, die zum Novellchen und zur Novelle auswachsen.
Auch die historische und wissenschaftliche Prosa in deutscher und lateinischer
Sprache ist vom geistlichen Latein beeinflußt und abhängig. Als der isländische
Freistaat zerfiel, glänzten in Deutschland Albertus Magnus und Berthold, der
Prediger von Regensburg.


Grenzlwten II 1914 K
Altnordische und altdeutsche Prosa

bedeutsamen Erlebnis werden. Die altnordische Saga führt ein so wesentlich
anderes Bild in einem so wesentlich anderen Rahmen vor, daß man betroffen
von der ungeahnten Gewalt und der grandiosen Härte dieser Welt, die in so
kargen Formen und einfachen Umrissen möglich war, staunt, daß man sich besinnt
und fragen mag, ob unser Weg der richtige ist, oder ob es etwas besseres
gibt als die Art, in der sich unser modernes Leben, unser Innenleben, um
von dem äußeren zu schweigen, bewegt und verzehrt.




Die Germanen des europäischen Festlandes und der britischen Inseln haben
der isländischen Prosakunst nichts Gleichartiges an die Seite zu stellen. Die
kargen Reste prosaischer Denkmäler in althochdeutscher Sprache sind reine Zweck¬
prosa geistlichen oder rechtlichen Inhalts oder Übersetzungen aus dem Lateinischen;
einige Gebets- oder Segensspruche weisen die Eigentümlichkeiten der halb pro¬
saischen sakralen Poesie auf. Die Predigt allein gedeiht allmählich zu höherer
Blüte, doch bleibt sie natürlich nach Stoff und Form im geistlichen Behältnis befangen.

In Deutschland sind die Jahre 930 und 1030, welche die höchste Ent¬
faltung der isländischen Sagakunst umgrenzen, durch zwei lateinische Epen
charakterisiert: Waltharilied und Ruodlieb. Zur Zeit, da die Saga aufgezeichnet
wird, erlebt Deutschland die Blüte der höfischen Poesie, von ihrem Aufstieg bis
zum Eintritt der sogenannten Epigonen, für die Epik also von Eilhart und
Heinrich von Veldeke bis Konrad von Würzburg. Es läßt sich nicht leicht ein
schärferer Gegensatz finden als zwischen den breit ausmalenden, phantastisch
belebten, alles steigernden Reimpaaren der Ritterromane und der schlichten, fast
ängstlich zurückhaltender Prosanovelle auf Island. Dort herrscht die offen
arbeitende subjektive Technik der direkten Charakteristik, der überschwengliche Preis
des Helden, der immer der herrlichste und unbezwinglichste, der schönste und
beste ist, hier die unparteiische, objektive Darstellung gemischter Charaktere, für
die der Sagamann nie ein Wort einlegt, trotz aller Vorliebe, die dem Helden
angedeiht. Es herrscht im höfischen Epos die Reflexion, die ausmalende
Schilderung typischer Szenen und Gegenstände, welche die Handlung überwuchert,
die Übertragung aller Ereignisse in ritterliches Kostüm, in der Saga dagegen
die nüchterne Vorführung historischer Tatsachen ohne pragmatischen Zusammen¬
hang, ohne Urteilsabgabe, ohne Stimmungsmalerei.

Neben der aristokratischen Standespoesie des Ritterromans gibt es in Deutsch,
land freilich noch eine blühende dichterische Prof«, aber sie blüht in lateinischer
Sprache, ihre Stoffe sind rein geistlich oder geistlich gefärbt: die Legenden, die
Predigtmärlein und Anekdoten, die zum Novellchen und zur Novelle auswachsen.
Auch die historische und wissenschaftliche Prosa in deutscher und lateinischer
Sprache ist vom geistlichen Latein beeinflußt und abhängig. Als der isländische
Freistaat zerfiel, glänzten in Deutschland Albertus Magnus und Berthold, der
Prediger von Regensburg.


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[0125] Altnordische und altdeutsche Prosa bedeutsamen Erlebnis werden. Die altnordische Saga führt ein so wesentlich anderes Bild in einem so wesentlich anderen Rahmen vor, daß man betroffen von der ungeahnten Gewalt und der grandiosen Härte dieser Welt, die in so kargen Formen und einfachen Umrissen möglich war, staunt, daß man sich besinnt und fragen mag, ob unser Weg der richtige ist, oder ob es etwas besseres gibt als die Art, in der sich unser modernes Leben, unser Innenleben, um von dem äußeren zu schweigen, bewegt und verzehrt. Die Germanen des europäischen Festlandes und der britischen Inseln haben der isländischen Prosakunst nichts Gleichartiges an die Seite zu stellen. Die kargen Reste prosaischer Denkmäler in althochdeutscher Sprache sind reine Zweck¬ prosa geistlichen oder rechtlichen Inhalts oder Übersetzungen aus dem Lateinischen; einige Gebets- oder Segensspruche weisen die Eigentümlichkeiten der halb pro¬ saischen sakralen Poesie auf. Die Predigt allein gedeiht allmählich zu höherer Blüte, doch bleibt sie natürlich nach Stoff und Form im geistlichen Behältnis befangen. In Deutschland sind die Jahre 930 und 1030, welche die höchste Ent¬ faltung der isländischen Sagakunst umgrenzen, durch zwei lateinische Epen charakterisiert: Waltharilied und Ruodlieb. Zur Zeit, da die Saga aufgezeichnet wird, erlebt Deutschland die Blüte der höfischen Poesie, von ihrem Aufstieg bis zum Eintritt der sogenannten Epigonen, für die Epik also von Eilhart und Heinrich von Veldeke bis Konrad von Würzburg. Es läßt sich nicht leicht ein schärferer Gegensatz finden als zwischen den breit ausmalenden, phantastisch belebten, alles steigernden Reimpaaren der Ritterromane und der schlichten, fast ängstlich zurückhaltender Prosanovelle auf Island. Dort herrscht die offen arbeitende subjektive Technik der direkten Charakteristik, der überschwengliche Preis des Helden, der immer der herrlichste und unbezwinglichste, der schönste und beste ist, hier die unparteiische, objektive Darstellung gemischter Charaktere, für die der Sagamann nie ein Wort einlegt, trotz aller Vorliebe, die dem Helden angedeiht. Es herrscht im höfischen Epos die Reflexion, die ausmalende Schilderung typischer Szenen und Gegenstände, welche die Handlung überwuchert, die Übertragung aller Ereignisse in ritterliches Kostüm, in der Saga dagegen die nüchterne Vorführung historischer Tatsachen ohne pragmatischen Zusammen¬ hang, ohne Urteilsabgabe, ohne Stimmungsmalerei. Neben der aristokratischen Standespoesie des Ritterromans gibt es in Deutsch, land freilich noch eine blühende dichterische Prof«, aber sie blüht in lateinischer Sprache, ihre Stoffe sind rein geistlich oder geistlich gefärbt: die Legenden, die Predigtmärlein und Anekdoten, die zum Novellchen und zur Novelle auswachsen. Auch die historische und wissenschaftliche Prosa in deutscher und lateinischer Sprache ist vom geistlichen Latein beeinflußt und abhängig. Als der isländische Freistaat zerfiel, glänzten in Deutschland Albertus Magnus und Berthold, der Prediger von Regensburg. Grenzlwten II 1914 K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/125>, abgerufen am 15.06.2024.